In einem anderen Land

Kaschmir In der umstrittenen Region zwischen Pakistan und Indien werden Guerillakämpfer rehabilitiert, wenn sie dem bewaffneten Widerstand abschwören
Ausgabe 35/2013

Shabir Ahmed Dar ist nach Hause zurückgekehrt. Seine Kinder spielen am Walnussbaum, unter dem auch er einst zu Hause war. Sein Vater – inzwischen weißbärtig und dünn – schaut ihnen zu. Das Dorf Degoom, in dem Dar aufgewachsen ist, besteht aus ein paar traditionellen, mit Ziegeln bedeckten Holzhäusern und kann seit Jahrzehnten nur über eine unbefestigte Piste erreicht werden. Zur idyllischen Pastorale gehört noch das Heu, das seit Generationen zum Trocknen an den ausladenden Platanen aufgehängt wird.

Während in Degoom alles beim Alten geblieben ist, hat sich der Rückkehrer Dar verändert. Mehr als 22 Jahre sind vergangen, seit er das Dorf verließ, um heimlich die Line of Control (LoC) zu überqueren. Sie verläuft entlang jener Grenze, die den indischen vom pakistanischen Teil des seit Langem umstrittenen einstigen Fürstentums Kaschmir am Fuße des Himalaya trennt. Zusammen mit einem Dutzend anderer Teenager wollte sich Dar Anfang 1991 dem Aufstand junger muslimischer Kaschmirer gegen die indische Armee anschließen. „Ich ging, weil alle anderen auch gingen. Die Situation hier war schlecht. Ich hatte meine Ansichten und träumte davon, etwas für die Unabhängigkeit meiner Heimat zu tun. Und ich war sehr jung, als diese Entscheidung fiel“, erzählt Dar und sitzt in jenem Zimmer, in dem er einmal als Kind geschlafen hat.

Als er davonzog, ließ sich der Konflikt längst nicht mehr zügeln, aber niemand ahnte, dass in den folgenden zwei Jahrzehnten geschätzte 50.000 Soldaten, Polizisten, Aufständische und vor allem Zivilisten sterben sollten. Dar wollte, dass in Kaschmir eine „wahre islamische Gesellschaft“ entsteht. Dies konnte – davon war er mit seinen Gefährten überzeugt – nur durch einen Anschluss an Pakistan oder durch die volle Unabhängigkeit gelingen.

Nachdem sie die LoC einmal überschritten hatten, gab es keinen Weg mehr zurück. Auch wenn Dar nur wenige Monate bei einer militanten Gruppe blieb, der er sich angeschlossen hatte, und obwohl er nie an Kampfhandlungen beteiligt war – saß er fest. „Ich begann ein neues Leben, heiratete und fand Arbeit. Ich dachte nicht, dass ich jemals heimkehren würde.“ Nun lebt der inzwischen 36-Jährige doch wieder in seinem Geburtsort Degoom, zusammen mit seiner in Pakistan geborenen Frau und drei Kindern. Er ist einer von etwa 400 ehemaligen Militanten, die das Angebot zur Rehabilitierung annehmen, das der junge kaschmirische Ministerpräsident Omar Abdullah unterbreitet hat. Dars Vater hörte von dem entsprechenden Programm und überzeugte seinen Sohn im vergangenen Jahr, eine Heimkehr nicht länger auszuschließen. „Ich bin ein alter Mann und will meinen Sohn und meine Enkel sehen, bevor ich sterbe. Ich wollte außerdem, dass er seinen Anteil an unserem Land übernimmt“, sagt der 70-Jährige.

Das Programm ist ein Indiz für den Wandel, der die geplagte Region erfasst. In den zurückliegenden Jahren haben sich der wirtschaftliche Aufstieg und die Prosperität in Indien auch auf Kaschmir ausgewirkt, den einzigen indischen Bundesstaat mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit. Gleichzeitig ist – trotz einer Reihe von spektakulären Anschlägen in jüngster Zeit – die Gewalt eingedämmt wie seit Ausbruch des Aufstands in den späten achtziger Jahren nicht mehr. Beides – die ökonomische Lage und ein Hauch von Befriedung – ist miteinander verschränkt.

Traum vom Kampf

Und so hat diese relative Ruhe Dar und anderen die Rückkehr ermöglicht. Sie erlaubt selbst einigen hartgesottenen Veteranen, unbehelligt zu leben, wenn sie der Gewalt abgeschworen haben. „Noch vor wenigen Jahren wäre ein solches Programm durch die indischen Geheimdienste unterbunden worden. Sie hätten darin den Versuch gesehen, Militante aus Pakistan einzuschleusen“, ist Ministerpräsident Omar Abdullah überzeugt. Um eine Amnestie handle es sich allerdings nicht. „Wenn gegen jemanden eine Anklage vorliegt, wird er festgenommen und möglicherweise vor Gericht gestellt. Dieses Programm ist für diejenigen gedacht, die nicht wegen verübter Terrorakte verfolgt werden. Entweder haben sie die LoC nie überquert oder wir wissen es nicht so genau, um jemanden zu verfolgen“, so Abdullah weiter.

Bislang gibt es lediglich eine Handvoll Fälle (von denen einer nicht als hundertprozentig bewiesen gilt), wo Rückkehrer und Repatriierte wieder für den Aufstand aktiv wurden, nachdem sie auf die indische Seite wechselten. Vielmehr bestätigt die Polizei, dass sich die meisten „ruhig“ verhielten. Das hat etwas damit zu tun, dass Aktivisten wie Dar nach einer ersten Welle der Begeisterung für „die Sache“, die Kaschmir in den frühen neunziger Jahren erfasste, in den Kampf zogen, dann aber bald desillusioniert waren. Ehsan ul-Haq, der heute – nach 21 Jahren in Pakistan – ein Schuhgeschäft im Zentrum der Kaschmir-Kapitale Srinagar betreibt, erinnert sich, wie er 1990 in einer Nacht mit 300 anderen über die Grenze ging. Er habe davon geträumt, dass Kaschmir künftig wegen seines Wohlstands zur Schweiz Südasiens werden könne, erzählt der heute 53-Jährige. Doch dann habe er „in all den Jahren nur Tod und Zerstörung gesehen“.

„Sobald Geld im Spiel war, war die Sache verloren. Es gab keine Ziele mehr und keine Richtung.“ Ul-Haq verließ seine Gefährten rasch, nachdem er in Pakistan angekommen war. Er heiratete eine Pakistanerin, bekam mit ihr fünf Kinder und machte sich selbstständig. Von den 300 anderen, mit denen er die Grenze überquerte, seien mindestens 100 im Gefecht gestorben. Ein Dutzend sei, angelockt durch das neue Programm, in die Heimat zurückgekehrt. Die Übrigen blieben auf der pakistanischen Seite. Insgesamt seien noch „etwa viertausend Mann da drüben“.

Einige ehemalige Aufständische haben nicht auf das Rückkehrer-Programm gewartet. Der 55-jährige Abdul Ghaffar Bhatt schloss sich 1989 der Gruppe Hizbul Mudschahedin an. Er war schon lange zuvor in einer islamistischen Organisation aktiv, zum gewaltbereiten Milizionär wurde er freilich erst, als die Behörden in Srinagar ihm die Autowerkstatt abrissen, die er erst kurz zuvor eröffnet hatte. „Sie griffen meine Identität und meine Kultur an. Das war eine direkte Attacke auf meine Existenzgrundlage und mein Leben. An einem Tag war ich König, am nächsten ein Bettler. Ich hatte eine Familie – drei Kinder. Ich habe meine Entscheidung getroffen und sie schließlich verlassen“, erinnert er sich.

Drei Jahre lang war Bhatt dann ein hochrangiger Kommandant der Hizbul Mudschahedin. In dieser Position leitete er Operationen gegen indische Truppen und Polizei in und um Srinagar. Wenn nötig, tauchte er in den Lagern der Militanten jenseits der LoC unter. Zu jener Zeit herrschte in Kaschmir erbitterte Gewalt. Die Sicherheitskräfte kämpften gegen einen Aufstand, der über erheblichen Rückhalt in der Bevölkerung verfügte. Alle Seiten verstießen systematisch gegen die Menschenrechte. „Wir haben für ein unabhängiges Kaschmir gekämpft. Natürlich war mir die Religion wichtig, aber nicht allein entscheidend. Wir haben alle zusammengestanden – Säkulare, Nationalisten, Islamisten“, sagt Abdul Ghaffar Bhatt.

Innere Konflikte und der steigende Einfluss pakistanischer Geheimdienste – den Islamabad offiziell abstreitet – brachten Bhatt jedoch dazu, die Waffen niederzulegen. „Wir waren einmal eine Einheit. Dann zerfielen wir in viele verschiedene Gruppen, die oft wie Sekten wirkten. Wir waren keine kaschmirische Bewegung mehr. Wenn ich heute zurückblicke, denke ich, dass wir von Pakistan gegen Indien ausgespielt wurden, so wie die USA in den achtziger Jahren die Afghanen gegen die Sowjets ausgespielt haben.“

Vor sieben Jahren kehrte Bhatt heimlich über Indiens wenig bewachte Grenze zu Nepal nach Kaschmir zurück. Dort wurde er erkannt, verhaftet und monatelang im Gefängnis verhört, bevor er schließlich entlassen wurde. Nun verbringt er seine Tage in Srinagar, mit den Kindern, die ihm jahrzehntelang fehlten. Sein 26-jähriger Sohn verdient 7.000 Rupien (100 Euro) im Monat mit dem Verkauf von Zeitungen. In die Fußstapfen seines Vaters treten will er auf keinen Fall. „Wir müssen um unsere Freiheiten kämpfen, aber friedlich, ohne Blut und Gewalt. Die meisten meiner Freunde sehen das ebenso.“

Auf diejenigen, die wegen des offiziellen Programms zurückgekehrt sind, wartet kein einfaches Leben. Die Versprechen der Kaschmir-Regierung, sich um ihr Auskommen – nicht zuletzt eine Ausbildung – zu kümmern, bleiben uneingelöst.

Unverzeihlicher Fehler

Am schwersten ist es für die Frauen der Heimkehrer, die wegen des nach wie vor gespannten indisch-pakistanischen Verhältnisses nicht nach Pakistan zurückgehen können, um ihre Familien zu sehen. „Ich lebe in einer Art Hölle“, sagt die 33-jährige Farhat. Seit 15 Jahren ist sie mit einem Ex-Guerillero verheiratet, der den Codenamen „Asgar“ trägt, und zu Jahresbeginn mit ihm in sein Heimatdorf in der Bergwelt des nördlichen Kaschmir zurückgekehrt. Die herrliche Aussicht auf den Wolkensee, die sie von ihrem Wohnhaus genießen kann, entschädigt sie nicht für ihr vorheriges Leben. „Wir hatten auf der anderen Seite ein Haus – wir hatten Land, Arbeit und Schulen. Wir hatten alles da drüben – hier haben wir nichts. Es war ein schrecklicher und unverzeihlicher Fehler, hierher zu wechseln. Wir haben versucht, zurückzugehen, aber wir können es nicht“, sagt Farhat.

Auch Dar bereut seine Entscheidung, sich wieder in Degoon niedergelassen zu haben. „Meine Frau ist unglücklich“, sagt er. „Solange nicht überall in Kaschmir Frieden herrscht, sollte man genau wissen, wohin man gehört.“ Ministerpräsident Abdullah hat unter dem Eindruck dieser Stimmung vorgeschlagen, eine Friedens- und Aussöhnungskommission für Kaschmir ins Leben zu rufen. „Wir wollen endlich in der Lage sein, Wunden zu heilen und Fragen zu beantworten. Viele sagen, eine solche Kommission könne es erst geben, wenn die Gewalt ein Ende finde. Aber ich frage Sie, wie und woran man das beurteilen soll. Ich denke, Kaschmir wäre so weit, Frieden zu schließen – Indien und Pakistan sind es nicht.“

Jason Burke ist Südasien-Korrespondent des Guardian Übersetzung: Zilla Hofman

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Geschrieben von

Jason Burke | The Guardian

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