2016 gewann der US-amerikanische Sportsender ESPN den ersten Oscar in seiner Geschichte für Ezra Edelmans Doku O.J. : Made in America, ein erstklassiges Beispiel für investigativen Journalismus über den ehemaligen American Football-Spieler O.J. Simpson. Kurz darauf kündigte der Sender eine weitere mehrteilige Doku über eine US-amerikanische Sport-Ikone an. Der gemeinsam mit Netflix produzierte Zehnteiler The Last Dance versprach einen ungeschminkten Einblick in das Leben eines der einflussreichsten Stars und eine der meist gefeierten Dynastien in der Geschichte des Sports: Michael Jordan und die 1990er Chicago Bulls.
Zu Weihnachten heizte die Veröffentlichung eines langen Hochglanz-Trailers die Erwartung weiter an. Gezeigt wurden noch nie veröffentlichtes Filmmaterial und eine Starbesetzung an Interviewpartnern inklusive Barack Obama, Justin Timberlake und Jordan selbst, der in den zwanzig Jahren seit seiner Zeit als aktiver Spieler nur sehr selten über die erdrückende Herrschaft der Bulls und ihr verblüffendes Auseinanderbrechen gesprochen hatte. Ursprünglich war der Release der Serie für Juni geplant, rechtzeitig zum Endspiel in der NBA. Doch als die Corona-Pandemie seinen Frühjahrszeitplan zunichte machte, zog der Sender die Premiere schnell in den April vor.
Als Unterhaltung zieht die Serie jedes erdenkliche Register. Die smarte Mischung aus Archivmaterial, aktuellen Interviews und einem Soundtrack, bei dem keine Kosten gescheut wurden, wird von der betäubenden Magie der Nostalgie getragen. So gelingt es, selbst den bekanntesten Stationen auf Jordans Weg vom frühreifen Amateur zum überlebensgroßen Symbol, das gleichzeitig überbelichtet und geheimnisvoll ist, neues Leben einzuhauchen. Ohne Frage handelt es sich um einen der wenigen Stoffe der amerikanischen Sportwelt, die einer solch ausgedehnten Präsentation auf der Leinwand würdig sind. Und so haben im Laufe des ersten Monats dementsprechend auch enorm viele Zuschauer die Zeit für die TV-Premieren am Sonntagabend eingeplant: Durchschnittlich sechs Millionen verfolgten die jeweils neueste Episode in den USA, bevor sie dann am nächsten Tag international auf Netflix veröffentlicht wurde.
Wie sich herausstellte, reichen die Anfangstöne des Alan Parsons Project-Song Sirius – die instrumentale Erkennungsmelodie für den Spielerauftritt der Bulls und vielleicht das, was dem Haka der All Blacks für ein prickelndes Spiel-Vorprogramm am nächsten kommt – immer noch aus, um nach all den Jahren Gänsehaut auszulösen.
Journalistisch bewegt sich The Last Dance leider dennoch an der Grenze zur Unprofessionalität. Während seines atemlosen Werbegewitters lässt ESPN unerwähnt, dass Jordans eigene Produktionsfirma Jump 23 einer der Co-Produzenten des Projekts ist – ein Umstand, der sich nicht aus dem Abspann erschließt, weil er schlicht ausgelassen wird. Unter den wenigen, die inmitten der hochbegeisterten öffentlichen Rezeption des Films auf dieses kleine Detail hinwiesen, war der renommierte amerikanische Dokumentarfilmer Ken Burns. Dieses Arrangement sei „genau die entgegengesetzte Richtung, in die wir eigentlich gehen müssten“, sagte er Anfang Mai dem Wall Street Journal. „Wenn man die Entstehung des Films falsch darstellt, bedeutet das, dass bestimmte Aspekte, die man nicht unbedingt drin haben will, nicht drin sein werden, Punkt“, erklärte Burns. „Und so wird guter Journalismus nicht gemacht ... und ganz sicher keine gute Geschichtsschreibung.“
Jordan hatte das letzte Wort
ESPNs Versäumnis, offenzulegen, dass Jordan praktisch das letzte Wort für die endgültige Version des Films hatte, würde vielleicht keinen ethischen Stolperstein darstellen, wenn es etwa so transportiert worden wäre wie in dem Film The Kid Stays in the Picture aus dem Jahr 2002, in dem den Zuschauern überlassen wird, die Wahrheit über Robert Evans’ unzuverlässlichen Erzähler selbst herauszufiltern. Dagegen wurde The Last Dance als objektiver Bericht präsentiert, obwohl die Serie eben gerade durch die Fehler und Voreingenommenheit verwässert wird, die ganz automatisch Teil jeder autorisierten Biographie sind. Zudem wird wenig Rücksicht genommen auf die, die als Bad Guys dargestellt werden – selbst wenn sie nicht mehr leben und damit ihre Sicht der Dinge nicht darlegen können.
Natürlich mussten Zugeständnisse gemacht werden, um das Projekt überhaupt auf den Weg zu bringen. Die mehr als 500 Stunden Filmaufnahmen hinter den Kulissen von Jordans titelgebender letzter Saison bei den Bulls, die das erzählerische Rückgrat der Serie ausmachen, kamen nur durch einen Deal zwischen dem Star und der internen Unterhaltungsabteilung der amerikanischen Basketball-Profiliga NBA zustande, nämlich dass diese Aufnahmen nur mit Jordans expliziter Zustimmung veröffentlicht werden können. Wie NBA-Comissioner Adam Silver dem Sportsender ESPN – wem auch sonst? – erzählte: „Unsere Vereinbarung sieht vor, dass keiner von uns diese Aufnahmen ohne die Erlaubnis des anderen nutzen darf.“
Nach zahlreichen Neins zu vielen Vorschlägen, stimmte Jordan 2016 schließlich zu. Dass er nur wenige Tage nach LeBron James’ berühmtem NBA-Finals-Comeback-Sieg gegen die Golden State Warriors, der die Debatte darum, wer der GOAT ist, Jordan oder LeBron, neu entfachte, grünes Licht gab, lässt sich natürlich als glücklicher Zufall interpretieren.
Wenn die Alternative zu der wenig verhüllten Heiligendarstellung von The Last Dance überhaupt gar kein Film war, hat das die Entscheidung vermutlich leicht gemacht. Über Jordans ans Psychopatische grenzenden, auf Konkurrenz ausgerichteten Wesenszug ist erschöpfend berichtet worden. Aber einem 57jährigen Mann dabei zuzusehen, wie er über dieses Bild von sich nachdenkt und sich auf Jahrzehnte alte Spielergebnisse stützt, ist unumstritten ein fesselndes Schauspiel. Dem Gegenstand des Films das Ergebnis vorzulegen und redaktionelle Kontrolle zu erlauben, kann dennoch nur dazu führen, dass die ehrgeizigsten Versprechen von The Last Dance nie eingelöst werden können.
„Republikaner kaufen auch Sneaker“
Was als Chronik mit allen Fehlern und Schwächen verkauft wurde, beschönigt nicht vollends die weniger angenehmen Aspekte von Jordans Erbe, die schon lange Thema von Lästerein und urbanen Legenden sind. Aber er präsentiert sie eben nach seinen Vorgaben. Erzählbögen über seinen Spielzwang und tyrannische Neigungen gegenüber Mitspielern mögen anfangs problematisch erscheinen, wirken so aber am Ende verzeihlich. Zum ersten Mal äußert sich Jordan offen über sein berüchtigte apolitische Haltung, die ehemals in dem Ausspruch „Republikaner kaufen auch Sneaker“ gipfelte, welche aber heute, insbesondere im Kontext der Renaissance des Sportler-Aktivismus, der unter anderem durch die Anti-Rassismus-Proteste von American-Football-Spieler Colin Kaepernick ausgelöst wurde, nicht mehr sonderlich gut rüberkommt.
Offensichtlich hielten die Filmemacher es jedoch nicht für notwendig, zum Beispiel mit Craig Hodges darüber zu sprechen, einem wichtigen Mitspieler in Jordans sechs Championship-Teams, der zu seinen größten Kritikern diesbezüglich gehört. Angesichts der mehr als 100 Menschen aus Jordans Umfeld, die interviewt wurden, ist das dann doch eine auffallende Lücke. Man bleibt mit dem Gefühl zurück, nicht die ganze, unbequeme Wahrheit erzählt zu bekommen, sondern zu sehen, wie Jordan gesehen werden will.
Das ist vielleicht weniger eine Anklage an die Filmemacher als ein Kommentar zum allgemeinen Klima in unserer Medienlandschaft. So gern wir dieses Material in den Händen eines Dokumentarfilmers wie Pennebaker oder Burns oder Asif Kapadia sehen würden, ist das schlicht praktisch unmöglich in einem Zeitalter, in dem die Titanen des Sports und der Unterhaltung traditionelle Kanäle zur Kontrolle der herrschenden Erzählung umgehen können. Sie machen das über ihre eigenen Produktionsfirmen oder freundlich gesinnte Plattformen wie die Players’ Tribune – ein Trend, den Jordan schon damals um Jahrzehnte vorweggenommen hat. Und der Sender ESPN, der jährlich Milliarden Dollars für die Übertragungsrechte von NBA-Spielen zahlt, ist kaum der einzige Schuldige, wenn es darum geht, die Grenzen von Journalismus und Unterhaltung zu verwischen – das ist heute trauriger Standard.
Man könnte The Last Dance für eine verpasste Chance halten, aber es ist alles andere als sicher, dass es die Chance auf eine Alternative dazu gab. Die Serie entspricht zwar nicht dem Qualitätsjournalismus, den ESPN gerne für sich beansprucht hätte, aber innerhalb des jungen Genres ,Branded Content in Langformat‘ hätte das Ergebnis um einiges schlechter ausfallen können.
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