Jeder Tag ein Kampf

Griechenland Das dritte Hilfsprogramm ist ausgelaufen, das Land steht wieder auf eigenen Füßen. Nur ist die nach wie vor hohe Staatsverschuldung keine Prävention gegen einen Rückfall
Immer Flagge zeigen. Egal, wo
Immer Flagge zeigen. Egal, wo

Foto: Louisa Gouliamaki / AFP - Getty Images

Niemand glaubt, dass Griechenland in absehbarer Zeit seine Schulden erfolgreich zurückzahlen kann, auch wenn es keine nenneswertes Haushaltsdefizit mehr gibt. Zwar wurde inzwischen ein Deal mit den Gläubigern ausgehandelt, der Athen die Möglichkeit gibt, die Zahlungen für die Gesamtverbindlichkeiten von 320 Milliarden Euro um weitere zehn Jahre zu strecken. Das bringt den erforderlichen Spielraum, um die Wirtschaft zu modernisieren und deren Wettbewerbsfähigkeit zu entwicklen. Aber wird das ausreichen, eine weitere Krise zu vermeiden, die unweigerlich dann eintritt, wenn es erneut unmöglich sein wird, eigene Staatspapiere am internationalen Kapitalmarkt zu refinanzieren?

Premier Alexis Tsipras, der früher leidenschaftlich gegen die von der Troika (EZB, EU-Kommission, IWF) verordnete Sparpolitik eintrat, ist für viele überraschend stark zum Wirtschaftspragmatiker geworden. Er scheint bereit zu sein, die eingeschlagene Richtung weiter zu verfolgen, obwohl seine Syriza-Partei bei Umfragen gerade weit hinter der größten Oppositionspartei, der konservativen Nea Dimokratia (ND), zurückliegt. Was lässt sich daran ändern bis zu den im September 2019 anstehenden Wahlen? Notgedrungen hat Syriza an Anhängern verloren, die sich mehr Widerstand gegen der Auflagen der Troika erhofft hatten, als die Links-Rechts-Regierung 2015 antrat und sogar ein Referendum gegen die Sparpolitik gewann.

Wartelisten immer länger

Joanna Iliadi, die Leiterin eines Hospizes für Patienten mit neurologischen Erkrankungen in Athen erzählt: „Niemand hat je geglaubt, dass die Krise so lang andauern würde. Im Hospiz kümmern wir uns um die Verletzlichsten, die Schwächsten der Schwachen. Zu uns kommen Menschen mit unheilbaren Krankheiten, die oft niemanden mehr haben, der sich um sie kümmert. Wir wurden mit den ganzen Sparmaßnahmen deshalb wie vom Schlag getroffen.“ Iliadi hält inne und konzentriert sich. „Seit ich 2012 in dieser Anstalt die Leitung übernommen habe, waren wir bald gezwungen, die Zahl der Patienten und Mitarbeiter zu reduzieren. Wir mussten einen Flügel des Hospitals schließen, obwohl zu diesem Zeitpunkt die Wartelisten immer nur länger wurden.“

Als private philanthropische Stiftung habe man bis heute nur durch Spenden überleben können, insbesondere durch Immobilien, die Verwandte von gut betuchten Patienten dem Haus überlassen hätten. „Die Steuern, die wir seit Einführung des Rettungsprogramms zahlen müssen, grenzen ans Unbezahlbare. Gleichzeitig sind unsere Mieteinnahmen um mehr als die Hälfte zurückgegangen, die Zuwendungen von Privatpersonen sogar um zwei Drittel.“ So habe die Realität in Griechenland unter dem internationalen Memorandum ausgesehen. „Jeder Tag war ein Kampf, wobei wir die meiste Zeit damit verbracht haben, Nahrungsmittel und Medikamente für die medizinische Versorgung zu beschaffen.“

Positiv denken

Dyoinisys Ammolochitis (41), Präsident und Geschäftsführer von Manifest Facility Management, erklärt: „Die Krise ist etwas, in das Griechenland geraten ist – nicht ich. Die Firma Manifest habe ich im Jahr 2003 gegründet, nachdem ich als Verkäufer für einen anderen Betrieb gearbeitet hatte. Aber erst in den zurückliegenden Jahren ist unser Umsatz in die Höhe geschnellt. Als andere in die Knie gingen, Angst bekamen und sich zurückzogen, sind wir in die Lücken gestoßen. 2009, als die Krise begann, hatten wir weniger als 50 Firmen als Kunden. Heute sind es 150, darunter multinationale Konzerne wie Coca Cola, dadurch beschäftigen wir 600 Mitarbeiter und arbeiten mit privatem Beteiligungskapital. Dafür mussten wir uns einer strengen Prüfung unterziehen.“

Ammolochitis meint, er sei immer dem Credo gefolgt, in großen Dimensionen zu denken und immer nach vorn zu schauen, „wie ein Deutscher“. Sehr viel Business-Coaching habe ihm geholfen, dazu kam das Prinzip, stets positiv zu denken. „Immer, wenn uns schlechte Nachrichten erreichten, habe ich zu meinen Mitarbeitern gesagt: Schaltet den Fernseher aus und macht euch nicht soviel Sorgen. Ich habe das hier aufgebaut. Wenn es nötig ist, werde ich es wieder tun.“

Angst um Europa

„Es ist weiterhin ein großer Mentalitätswandel gefragt“ sagt der stellvertretende Finanzminister Stergios Pitsiorlas und rückte seine Brille zurecht. „Wir müssen akzeptieren, dass wir nie wieder über unsere Verhältnisse leben können. Überschüsse beim Haushalt, nicht Defizite, sind der Weg nach vorn.“

Angesichts einer Welt, in der seit Donald Trumps Amtsantritt im Januar 2017 zahlreiche Politikern auf starker Mann machen und einer globalen Unberechenbarkeit hat der Soziologe Konstantinus Tsoukalas derzeit mehr Angst um Europa als um Griechenland. Der Professor steht in einer Tradition linker Intellektueller, die leidenschaftlich an die immanente Stärke eines vereinigten Europas glauben. „Wenn Europa nicht explodiert, kann Griechenland überleben. Und das wäre eine gute Sache. Denn würden wir nicht zu Europa gehören, wären in diesem Land Fanatismus, Gewalt und Armut vermutlich noch stärker als im Nahen Osten.“

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Übersetzung Carola Torti
Geschrieben von

Helena Smith | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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