Jetzt im Angebot: Detroit

Image Mit neuen Kampagnen für Wodka, Autos oder Uhren versprechen globale Firmen Hilfe. Das kostet die bankrotte Stadt ihre Authentizität
Ausgabe 21/2014

Freitagnacht im Herzen Detroits, im Red Bull House of Art, einer 1500-Quadratmeter-Galerie, vormals Kellergewölbe einer Brauerei aus dem 19. Jahrhundert. Tausende von den Jungen, Schicken und Smarten haben sich versammelt, um eine Werkschau lokaler Künstler zu feiern. DJ Erika wirbelt, Champagner fließt. Draußen windet sich eine Warteschlange um den Häuserblock.

Christopher Stevens, ein gutaussehender Autodesigner aus Kalifornien, 29 Jahre alt, ist Gastgeber der heißesten After-Show-Party. In der Mitte seines Lofts über der Hintertreppe der Brauerei ruhen sich zwei seiner Motorräder aus, in einer Ecke steht ein Klavier. Pitbullwelpe Darko zischt von einem Ende zum anderen zwischen den Gästen hin und her. „Ich liebe Detroit“, sagt Stevens, nachdem er erklärt hat, wie deprimierend er das Konzept Vorstadt findet. „Detroit ist voller Geschichte und Überlieferung. Ich bin wegen seiner Rauheit hergekommen. Es steckt voller Kultur – voller alter Americana-Kultur.“

Für Kirk Cheyfitz, Geschäftsführer der New Yorker Werbeagentur Story Worldwide und ehemaliger, preisgekrönter Reporter, sind die Firmen, die sich nun aus Imagegründen auf die Motor City stürzen, darauf aus, sich mit einem Outlaw-Mythos zu schmücken. „Das ist ein sicherer Weg, um junge Leute überall in den USA anzusprechen, die gern außerhalb des Mainstreams stehen wollen und dabei selbst den Mainstream bilden.“

Wer in Detroit nach der harten Realität sucht, braucht vom Red Bull House of Art aus nur ein paar Straßenecken nach Nordosten zu laufen. Dort sind nach einem bitterkalten Winter einige Hausbesetzer in die leerstehenden Gebäude an der alten Industriebahnstrecke zurückgekehrt. Die bröckelnden Ruinen fügen sich ins Bild einer Stadt, wo geschätzte 78.000 Bauten offiziell nicht mehr genutzt werden. Diesem Bild passt sich auch die Kriminalität an. Kürzlich rief Polizeichef James Craig die „guten Detroiter“ dazu auf, sich mit Feuerwaffen gegen Kriminelle und Einbrecher zu wappnen. Auch 2013 nahm Detroit bei der Mordrate wieder einen Spitzenplatz unter den US-Großstädten ein, noch vor Chicago. Das mittlere Haushaltseinkommen betrug hier 2012 gerade einmal 23.600 Dollar.

Für Werbeleute ist Detroit cool. Rau. Widerspenstig. Unverwüstlich. Authentisch in seinem Kampf. Wahrhaftig in seinem Geist von harter, ehrlicher Arbeit, seinen Ruinen und allem. Doch an diesem Punkt wird es brenzlig für Detroit, die Marke. Die Kraft, sich als amerikanischer Phoenix aus der Asche des wirtschaftlichen Zusammenbruchs zu erheben, bezieht die Stadt aus einem kostbaren Rohstoff: ihrer Glaubwürdigkeit. Sie ist es auch, die nun kommerzielle Unternehmen anzieht, mit dem Wunsch, von der Wiedergeburt Detroits zu profitieren und Echtheit zu verkaufen. Reklametafeln und Radioprogramme wimmeln von Anzeigen von Chrysler (einem Eingeborenen), Red Bull (aus Österreich), Our/Vodka (der neuen Spirituosenmarke unter dem Dach des französischen Pernod-Ricard-Konzerns) und dem US-Luxusuhren- und Fahrradhersteller Shinola. Sie betten die Rauheit in nostalgische Romantik – ein effektvoller Dreh, um Armut und Verfall als cool zu präsentieren. Die Werbefilmchen von Shinola, Red Bull und Our/Vodka kommen natürlich in kernigem Schwarzweiß daher.

Dreiste Reklame

Im Shinola-Spot sind Schwärme von Radfahrern in der Stadt zu sehen und eine blonde Modelschönheit, die ein kleines schwarzes Mädchen umarmt. Im Red-Bull-Clip, der bei der diesjährigen Grammy-Verleihung lief, erzählt der Detroiter Künstler Tylonn Sawyer eine ergreifende Geschichte von Schönheit und Widerstandskraft. Die Werbung zur Markteinführung von Our/Vodka zeigt den prächtig-düsteren aufgegebenen Bahnhof Michigan Central und betont, die Marke wurzele bei den „Menschen“ und in der „Gemeinschaft“. Die meisten Detroiter und vermutlich auch die meisten der hippen Zuzügler können sich diese Produkte nicht leisten. Ein Fahrrad für 1.950 Dollar oder eine Armbanduhr für 900 Dollar werden hier kaum gekauft werden, auch wenn es auf die Uhr sogar eine lebenslange Garantie gibt.

Der Alkoholgigant Pernod Ricard lanciert unter seiner Marke Our/Vodka gerade ein neues Label mit vor Ort gebranntem Wodka. Man wolle in die Menschen Detroits investieren, sagt Geschäftsführerin und Global Brand Managerin Åsa Caap, die sich beim ersten Besuch „in die Stadt verliebte“. Inzwischen sei sie schon von anderen ausländischen Firmen gefragt worden, ob sie mit Investitionen in Detroit gute Erfahrungen gemacht habe. Sie habe immer bejaht. Our/Vodka folgt dem Geschäftsmodell Globale Marke mit lokalen Wurzeln, entsprechend ändert sich der Name mit der Stadt, in der die Filiale sitzt. So gibt es zum Beispiel schon Our/Berlin und ab diesem Sommer eben auch Our/Detroit. Drei einheimische Partner, die in Detroit die Destillerie und die angegliederte Bar leiten, sind mit 20 Prozent an deren Umsätzen beteiligt.

Die Managerin Åsa Caap steht im Gebäude der neuen Filiale, nahe dem berühmten Michigan-Bahnhof, und erklärt, ihr sei aufgefallen, dass in einer Stadt mit solchen sozioökonomischen Sorgen der Wodka als gefährliche Versuchung erscheinen könne. Doch es habe sie beruhigt zu erfahren, dass sich bei den hohen Preisen, die ihr Team vorsah, die Armen der Stadt den Stoff ohnehin nicht würden leisten können.

Losgetreten wurde die Detroiter Nostalgiewelle von Chrysler, und zwar mit dem Werbespot „Born of Fire“ zum Super Bowl 2011. Mit Eminem als Star versucht dieses dreiste Stück Reklame für ein glänzendes neues Auto nicht, den Zusammenbruch der Stadt zu vertuschen. Sondern es bejubelt ihn. „Was weiß eine Stadt, die zur Hölle gefahren ist und zurück, über die feineren Dinge im Leben?“, fragt eine männliche Stimme in dem Video. Und die Antwort lautet, so hoffnungsvoll wie gnadenlos: „Es sind die heißesten Feuer, die den härtesten Stahl machen.“ Im Amerika der Postrezession, als Chrysler selbst gerade mit einem Rettungspaket der Regierung von den Toten erweckt worden war, traf dieser Detroit-Narrativ einen Nerv und zog große Verkaufserfolge nach sich. Seither steht die Stadt im Mittelpunkt jeder Chrysler-Werbung.

„Heutzutage ist es für Marken wichtig, sicherzustellen, dass sie eine authentische Geschichte erzählen“, sagt Detavio Samuels, der Detroiter Leiter der Agentur Global Hue, die hinter dem Chrysler-Spot zum Super Bowl 2014 steckt (dieses Mal: Detroit und Bob Dylan). Die Konsumenten seien auf Transparenz aus, nach Jahrzehnten der Vernebelung: „Die Menschen schauen darauf, ob ein Unternehmen Werte vertritt, mit denen sie sich identifizieren.“

Für Shinola, die neue Luxusmarke für altmodische Armbanduhren und Fahrräder, die im Sommer 2013 sowohl in Detroit-Midtown als auch in New York-Tribeca ihre Flagshipstores eröffnete, war die Wahl Detroits als Firmensitz und Manufakturstandort fundamentaler Bestandteil des Markenaufbaus. Steve Bock, der als Geschäftsführer von Shinola den Großteil seiner Arbeitszeit außerhalb der Motor City verbringt, sagt, Detroit sei weltweit längst selbst als Marke anerkannt. Und diese Anerkennung habe doch nichts damit zu tun, dass es die größte Stadt der Vereinigten Staaten sei, die jemals pleite ging: „Detroit ist auf Schwerindustrie und Automobilindustrie gebaut. Dieses Gesicht hat es, diese Geschichte und dieses Erbe.“

Die ethnische Komponente

Shinolas dreigleisige Marketingstrategie setzt auf amerikanische Arbeiter, auf die Stadt als Marke und auf hochwertiges Handwerk. Von rund 300 Beschäftigten arbeiten derzeit etwa 200 in und um Detroit, und es werden noch weitere eingestellt. Bisher zahlt die Strategie sich aus. Nach eigenen Angaben hat Shinola in den ersten sechs Geschäftsmonaten 20 Millionen Dollar Umsatz gemacht und rechnet bis 2017 mit einem Gewinn von 100 Millionen. Was den Einfluss der Firma auf die Wirtschaftslage Detroits betrifft, bleibt Bock bescheiden und erklärt, Shinola sehe sich als „einen kleinen Teil dessen, was wir uns als große Zukunft der Stadt versprechen“. Doch wenn die Firmen Detroit zur Imagepflege benutzen, wie verwurzelt sind sie dort wirklich? Zumal, wenn sie eher das Bild vermitteln, dass ihre Produkte den Detroitern aus der Patsche helfen sollen, als dass sie für sie bestimmt seien.

Die Idee, Detroit zu retten, hat nicht nur eine sozioökonomische, sondern ebenso eine ethnische Komponente, denn sie knüpft an eine schmerzliche, von der Rassentrennung bestimmte Vergangenheit an. Lange Zeit wanderten die Weißen aus der Stadt ab. Nun kommen sie her, weil sie Chancen sehen. Heute sind 82,7 Prozent der Einwohner von Detroit City Afroamerikaner, während in den umliegenden und deutlich reicheren Vorstädten fast ausschließlich Weiße leben. Die Siedlung Grosse Pointe etwa, direkt vor der östlichen Stadtgrenze gelegen, ist zu 93 Prozent weiß, bei einem mittleren Haushaltseinkommen von 103.867 Dollar.

Investitionen von außen und ein erneuertes Image mögen unverzichtbar sein, um die Stadt wieder auf die Beine zu bringen und ihr trostlos niedriges Steueraufkommen zu verbessern. Doch es werden auch Stimmen laut, dass die Firmen, die Detroit als Marke benutzen, von der Stadt mehr bekommen, als sie ihr geben. „Der wirtschaftliche Nutzen der Marke Detroit für die Einwohner ist sehr begrenzt“, sagt Bruce Pietrykowski, der als Professor für Wirtschaftswissenschaft an der University of Michigan auf Industriearbeit und politische Stadtökonomie spezialisiert ist. „Es ist wichtig, mit Nachdruck darauf hinzuweisen, wie kommerzielle Unternehmen – und zwar zum Teil dieselben Firmen, die die Wirtschaft hier kaputtgemacht haben – heute die Bilder der deindustrialisierten Stadt als Ausweis von Rauheit und Zähigkeit gebrauchen, um damit ihre Produkte noch teurer zu verkaufen.“

In der Tat: Während die Shinola-Werbung eine Ära heraufbeschwört, als die Industrie noch in der eigenen Stadt produzierte und als gut ausgebildeten und gewerkschaftlich organisierten Arbeitern der Aufstieg in die Mittelschicht offenstand, sind solche Szenarien mit dem Wandel der amerikanischen Wirtschaftsstrukturen längst unwiederbringlich verloren gegangen. Bei Shinola gibt es keine Gewerkschaften, und die Einstiegsstundenlöhne liegen laut Steve Bock bei „12 oder 13 Dollar“ – also deutlich über dem Mindestlohn, aber auch recht weit entfernt von den abgesicherten Verhältnissen, die das Firmenmarketing evoziert.

Mit großem Getöse spendete Shinola der Stadt diesen März vier gigantische Uhren im Wert von je 12.000 Dollar, die an ausgewählten Plätzen in Detroit aufgestellt wurden. Nur wenige Stunden später war schon eine davon mit Graffiti beschmiert. Shinola schickte sofort eine Reinigungsbrigade los, doch für einen Moment wirkte der vandalistische Akt wie eine wichtige Aussage über eine seltsame, manchmal ziemlich angespannte Zeit in der Motor City.

Rose Hackman arbeitet als freie Journalistin in Detroit. Auf dogdaysdetroit.com bloggt die Britin über die Einwohner der Stadt

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Übersetzung: Michael Ebmeyer
Geschrieben von

Rose Hackman | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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