Es ist schwer zu erklären, wie es sich anfühlt, wenn jemand, den man sehr gut zu kennen glaubt, plötzlich Verschwörungstheorien über die Pandemie und Impfstoffe weiterverbreitet. Man erfasst nicht sofort, was vor sich geht: Es ist eine zu große und erschütternde Erkenntnis, um sie mit einem Mal zu verdauen. Daher macht man Phasen durch. Erst klammert man sich an Strohhalme: Vielleicht handelt es sich um einen schlechten Witz, der- oder diejenige meinte es nicht wirklich so, oder war nur falsch informiert. Dann folgt die Phase großer, verwirrender Wut und frustrierter Entrüstung. Wenn die vorbei ist, beruhigt man sich schließlich wieder. Aber in einem macht sich die bleierne Erkenntnis breit, dass diese Person, die man mag, nicht nur sich selbst in Gefahr bringt, sondern dass man sie vielleicht überhaupt nie richtig gekannt hat.
Menschen mit den absurdesten Theorien über die Pandemie gibt es selbst in Ländern, in denen die meisten keinen Zugang zum Internet oder den aufregungssüchtigen Formaten des privaten Rundfunks haben. Dabei ist es ein weit verbreiteter Impuls, Anhänger von Verschwörungen abzuschreiben und sie als Opfer von WhatsApp-Gruppen, Desinformation oder versteckter psychischer Probleme zu begreifen.
Das mag es alles geben – aber Impfskepsis ist das Symptom eines breiteren Versagens. Alle Impfstoff-Skeptiker:innen von Khartum bis Kansas haben gemeinsam, dass ihr Vertrauen in den Staat erschüttert ist. Wer das nicht erkennt, ist dazu verdammt, die Frustration über die Impfverweigerer immer wieder auf Einzelne zu lenken, ohne zu verstehen, was hinter dem fehlenden Vertrauen steckt.
Der Staat als Widersacher
Dabei kann dieses Misstrauen so tief sein, dass Menschen bereit sind, jeder Informationsquelle mehr zu vertrauen als der Regierung. In meinem Geburtsland, dem Sudan, sind weniger als ein Prozent der Bevölkerung voll geimpft und Beatmungsgeräte sind noch rarer als Impfstoffe. Ähnlich sieht es in verschiedenen anderen afrikanischen Ländern aus, wo das Impfstoffangebot so schlecht ist, dass Menschen alles stehen und liegen lassen, wenn es nur ein Gerücht über kostenlose Impfungen gibt. Aber für viele Andere klingen diese seltenen lebensrettenden Impfstoffe verdächtig nach „zu gut, um wahr zu sein“.
Als die erste Ladung Impfstoff-Spenden Anfang des Jahres in den Sudan geschickt wurde, lehnten zwei gefährdete Mitglieder meiner Familie sie ab, weil jemand das Gerücht in die Welt gesetzt hatte, die Impfstoffe hätten wegen eines Stromausfalls im Land nicht richtig gelagert werden können und seien daher mit Sicherheit „verdorben“ und schädlich. Ich und andere versuchten sie davon zu überzeugen, dass für den Fall, dass das stimme, die Impfungen schlimmstenfalls unwirksam und nicht wirklich schädlich wären. Doch unsere Bemühungen waren vergeblich. Dennoch hoffte ich weiter, dass meine Verwandten einlenken würden, sobald die ersten Spritzen verabreicht und keine Schäden festgestellt wurden. Aber sie hatten bereits Ausreden parat. Die neue Charge sei „Ausschuss“, sagte man mir, gespendet von westlichen Ländern, die die Impfstoffe für gute PR nach Afrika schickten, anstatt sie wegzuwerfen.
Auch wenn sich das nach völlig irrationalem Verhalten anhört, ist es das genaue Gegenteil. In Ländern wie dem Sudan ist vom Staat nichts Gutes zu erwarten und schon gar nicht umsonst. Der Staat ist ein ausbeuterisches Organ, das nicht den den Bürgern dient, sondern ihnen in die Taschen greift und sie für jeden Schritt im Alltag zur Kasse zu bittet. Korruption ist allgegenwärtig – ob man sich bei Verkehrsregelübertretungen mit einem Bestechungsgeld freikauft oder gezwungen ist, private Krankenhäuser zu nutzen, weil Kumpanen von Regierungsmitgliedern medizinische Geräte gehortet haben. Man wächst nicht mit, sondern trotz des Staates. Die Kommunikation der Regierung spiegelt dieses ungute Verhältnis wider. Sie wendet sich entweder an die Öffentlichkeit um sie zu schelten oder um Propaganda zu verbreiten, während abweichende Meinungen verboten sind. In Ägypten wurden Ärzte verhaftet, die der Darstellung der Regierung von der Pandemie widersprachen, während in Intensivstationen in Kairo die Sauerstoffvorräte zur Neige gingen. Wie überzeugt man Menschen davon, dass die Bereitstellung kostenloser und effektiver Corona-Impfstoffe die Ausnahme von einer Regel ist, unter der sie ihr ganzes Leben lang gelebt haben? Dass Impfstoffe ein plötzlicher Ausbruch von Großzügigkeit und Kompetenz sind?
Skepsis ist leicht zu säen, weil politische Systeme nicht komplett autoritär sein müssen, um ausbeuterische und unehrliche Regime zu stützen, deren Handeln das Misstrauen schüren. So könnte man etwa die Meinung entwickeln, dass hinter den Corona-Impfstoffen ein zweifelhaftes, verstecktes Gewinnmotiv steckt, etwa wenn man in den USA lebt und den extremen politischen Widerstand gegen eine öffentlich finanzierte Gesundheitsversorgung beobachtet. Dazu kommt noch eine unverschämt profitable Gesundheits- und Pharmaindustrie, die jährlich 306 Millionen US-Dollar (262 Millionen Euro) für Lobbyarbeit ausgibt, und exorbitante, unregulierte Preise für alles von der Grippeimpfung bis zum Halten des Kindes nach der Geburt verlangt.
Impfskepsis entsteht nicht im luftleeren Raum
Auch wenn man in Großbritannien lebt, können einem Zweifel an den Beteuerungen der Regierung kommen. Zum Beispiel darüber, dass der Impfstoff gründlich getestet wurde, nachdem die führenden Politiker ihre Pandemie-Politik scheinbar erst im Laufe des Geschehens festlegten und damit die Nation mit sich durch Kehrtwenden und Lockdowns zogen, deren Regeln sie selbst nicht befolgten.
Ein Versagen des Staates schürt Paranoia. Und wenn das Vertrauen in die Regierung zusammenbricht, wenden sich die Menschen der persönlichen Vorsorge zu. Dieses Klima der Zögerlichkeit und Vorsicht wird durch schlecht regulierte Medien verschärft, die mit Falschmeldungen Geld machen. In Großbritannien wurde etwa ein irreführender Bericht, in dem es hieß, ethnische Minderheiten seien von Impfstofftests ausgeschlossen, nur mit einer kurzen Berichtigung in einer Fußnote aufgeklärt.
Impfstoffablehnung entsteht nicht in einem Vakuum. Sicher, es ist einfacher, Skepsis und Verschwörungen als verwirrtes Verhalten abzutun; dadurch können wir leichter mit der wahrgenommenen Unvernunft derer umgehen, von denen wir eigentlich erwarten, dass sie vernünftig handeln oder handeln sollten. Sicherlich gehören zu den Impf-Zögerern auch solche, die schlicht stur, menschenfeindlich oder egoistisch sind. Aber genau wie die Pandemie die Schwächen unserer Wirtschafts- und Gesundheitssysteme offengelegt hat, zeigt die Impfskepsis die Schwächen der Beziehung von Staaten zu ihren Bürgern. Es gibt keine einfachen Antworten auf die Frage, wie man mit denen umgehen soll, die Verschwörungstheorien und Falschmeldungen verbreiten. Aber die Systeme unter die Lupe zu nehmen, die ihr Vertrauen verspielt haben, wäre vielleicht ein guter Anfang.
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