Karatschi, mon amour

Pakistan Im Westen glaubt man, Pakistan sei dem Untergang geweiht. Das ist ganz falsch, denn hier tobt inzwischen wieder das pralle Leben

Über zehn Jahre lang hatte ich in London gelebt und gearbeitet, vor etwa einem Jahr zog ich zurück nach Pakistan. Und bemerkte: Das Pakistan, das ich kannte, war anderswo hingezogen. Nämlich auf die Titelseiten der Nachrichten-Magazine, die man in den Praxen vornehmer Zahnärzte findet. Die Medien der Welt waren einhellig zu der Auffassung gelangt, dass ich mich an Bord eines sinkenden Schiffes begeben hätte. Allesamt hatten sie einen Nachruf auf Pakistan verfasst. Die einfühlsameren halten noch Totenwache.

Als ich mich vor ein paar Jahren entschied, zurückzukehren, war Pakistan nicht gerade das sicherste aller „Reiseziele“. Pakistan kämpfte gegen seine Dämonen – die Armut, die Taliban und eine Militärdiktatur, die diese hervor gebracht hatten. Gleichzeitig war Pakistan sehr wohl ein Teil unserer Welt: An jeder Straßenecke schoss eine neue Bank aus dem Boden und eine neue Generation von Medien-, Telekommunikations- und Immobilienprofis machte Überstunden, um sich gegenseitig Teile des Landes zu verkaufen.

Mein Sohn flüsterte: Das ist doch ein Terroristenland

Während wir mit Umzugsleuten verhandelten, schien es, als ob die diversen Redaktionsleitungen der westlichen Welt entschieden, dass das Ende der Welt dräute und alles in Pakistan seinen Anfang nehmen würde. Channan, mein 11-jähriger, in London geborener und aufgewachsener Sohn war darüber so aufgebracht, dass er beim Anblick weißer Menschen am Flughafen von Karatschi wütend flüsterte: „Was machen die hier? Wissen die nicht, dass das hier kein Land für Touristen ist? Sie sagen doch immer, es sei ein Terroristen-Land.“

In altmodischer britischer Manier möchte ich um Besonnenheit bitten. Die Nachrichten vom unmittelbar bevorstehenden Niedergang Pakistans sind vorschnell. Es hat seine Bürgerkriege. Es gibt Unheilspropheten, die mit Vorliebe arme Kinder losschicken, um sich selbst in die Luft zu jagen und andere arme Menschen zu töten.

Würden Pakistans Arbeiter und Bauern all diese Weltuntergangsbilder teilen, würden sie nicht im ganzen Land für bessere Löhne auf die Straße gehen. Fünf-Sterne-Hotels und Moscheen voller Betender wurden hier in die Luft gejagt. Und es gab einen Angriff auf etwas noch Heiligeres – ein Cricketteam, das zu Gast war. Doch andererseits haben sich in den vergangenen zwei Jahren hunderttausende von Bürgern an der größten friedlichen politischen Bewegung der jüngeren Geschichte Südasiens beteiligt und den Militärdiktator gestürzt, der von allen Militärdiktatoren der Welt der etablierteste schien.(Nebenbei bemerkt: Der abgesetzte General Musharraf hat sich gerade ein Haus in der Edgeware Road in London gekauft. Sämtliche Diktatoren entpuppen sich am Ende als Immobilienspekulanten. Wenn Sie einen Mann sehen, der an einer Schischa pafft und ein paar arglosen Arabern Vorträge über aufgeklärte Mäßigung hält, vermeiden Sie Augenkontakt.)

Wenn wir hier in Karatschi abends zusammen sitzen, diskutieren wir nicht darüber, was wir tun sollen – weil ein führendes Nachrichtenmagazin uns für tot erklärt hat. Die Leute beklagen sich über Stromausfälle und die um sich greifende Kriminalität in den Städten. Sie reden über das Sexleben ihrer Hausangestellten und darüber, dass die Sendungen im Fernsehen immer niveauloser werden. Während unseres Jahres in ­Karatschi gab es viele Proteste, weil ständig der Strom ausfällt, drei Generalstreiks und anhaltende ethnische Span­nung­en, bei denen mehr als einmal Blut floß. Es gab aber auch ein enorm erfolgreiches Filmfestival, ungefähr 40 Musikkonzerte, über zwanzig Theateraufführungen und hunderte von Demonstrationen.

Anders als viele der in London lebenden Immigranten hatte ich nie ein erstarrtes, idyllisches Bild eines Vaterlandes, das es in Ehren zu halten galt und nach dem ich mich sehnte. Das lag erstens daran, dass mein Vaterland nie idyllisch war und zweitens daran, dass es zu meiner Arbeit in London gehörte, über Pakistan zu berichten. Aber die Dinge nehmen ihren Lauf. Orte verändern sich – sogar Pakistan. Und das geschieht, während die Nachrichtenmagazine woanders hinschauen. So schien mir zum Beispiel bei meiner Rückkehr, als ob ein beträchtlicher Teil des Landes beschlossen hätte, sich unter schwarze Hijabs und Burkas zu flüchten. Sie scheuten nicht vor mir zurück, sondern hatten lediglich entschieden, dass es cool sei, sich zu kleiden wie die Frauen in der arabischen Wüste.

Die Burkafizierung der pakistanischen Frauen hatte schon Jahre zuvor begonnen. Als Besucher hatte ich immer angenommen, es handele sich dabei lediglich um einen Anfall saisonaler Frömmigkeit. Ich bin in einem pakistanischen Dorf aufgewachsen, in dem die erste Burka in den Achtzigern als Zeichen von Unzüchtigkeit betrachtet wurde. Es war ein konservatives Dorf, aber trotzdem eines, in dem alle Türen offen standen. Wer sich entschieden hatte, das Gesicht zu verhüllen, war doch wohl ganz bestimmt abartig oder verbarg irgendeine neue Perversion, die aus irgendeiner großen Stadt gekommen war. Auch meine verstorbene Mutter dachte so.

Das Paar erkundete sämtliche Möglichkeiten der Burka

Wenn ich nach meiner Rückkehr aus London am Strand von Karatschi spazieren ging, steigerte ich mich in selbstgerechten Zorn über diese jungen Frauen, die in schwarzen Burkas am Strand herumhingen, wo sie doch eigentlich in der Schule sein oder in irgendeiner Moschee für unser aller Erlösung beten sollten. Dann aber sah ich genauer hin und stellte fest, dass viele mit einer Verabredung da waren. Einige knutschten sogar bei helllichtem Tage mit bärtigen Männern herum. Wenn man von Kopf bis Fuß mit einer schwarzen Robe verhüllt ist, ist das schon ein Spektakel – eines, das die gerade richtige Mischung von Chance und Herausforderung bietet. Als meine Frau und ich vor ein paar Tagen am Strand spazieren gingen, entdeckten wir ein Paar, das sämtliche Möglichkeiten der Burka erkundete. Es lehnte sich gegen ein Motorrad, das arabische Meer umfloß ihre Füße.

Schick gekleidete Fashionistas haben unterdessen begonnen, im Fernsehen Frömmigkeit mit immer tieferen Ausschnitten zu kombinieren. Mode spielt eine wichtige Rolle. Wir haben in Pakistan zwei Modesender, die rund um die Uhr laufen. Die Fashionistas erzählen dort über ihren letzten Shoppingtrip nach Dubai und sagen mit Schmollmund „masha’Allah“ (Gott hat es so gewollt) und schließen ihre Pläne für die Kollektion der nächsten Saison mit einem „Insha’Allah“ (So Gott will) ab. Je nachdem , was am betreffenden Tag auf den Nachrichtensendern sonst noch im Namen der Religion passiert, halte ich das entweder für niedlich oder für einen weiteren Vorboten der von führenden Magazinen vorhergesagten Zerstörung unserer Zivilisation.

Der wirkliche Geist Karatschis aber ist noch immer bei den Menschen zu finden, die sich nicht auf göttliche Hilfe verlassen dürfen und im zermürbenden täglichen Kreislauf des Lebens ihr tägliches Brot zu verdienen. Bei denen, die sich nicht den Luxus leisten können, sich zu verhüllen und herauszuputzen – oder sich herauszuputzen und dann zu verhüllen. Bei denen, die nicht die Mittel haben, sich in jedem Gespräch auf den Namen Allahs zu berufen, die keinen Fernseher haben oder keine Zeit, fern zu sehen. Bei denen, die nie im Fernsehen auftreten werden, es sei denn als Statisten auf den Bildern vom jüngsten Bombenattentat. Es sind die, die jeden Morgen zur Arbeit gehen, egal was die regionalen oder ausländischen Medien ankündigen. Die hell gekleideten Transvestiten etwa, die die Strände der Arabischen See jeden Abend aufhellen und zu einem Laufsteg machen. Sie sind so elegant und selbstsicher, dass selbst unsere dreiste Polizei sich nicht mit ihnen anlegt. Sie haben ihre Gründe dafür, sich aufzutakeln. Beim Betteln verschärft sich der Konkurrenzkampf. Unsere Transvestiten müssen mit Kindern konkurrieren, die so jung sind, dass sie manchmal vergessen, dass sie zum Betteln und nicht zum Spielen auf der Straße sind.

Wie es nun unserer Familie in Karatschi geht? Anfangs sorgte ich mich, meinen Sohn Channan aus London hierher gebracht zu haben, doch meine Ängste waren die eines Vaters, der zu viele Nachrichtensendungen sieht. Channan hat Pakistan eingenommen wie jene kolonialen Offiziere, die aus den düsteren britischen Vororten in die heißen und lärmigen Städte Indiens gingen und zu Männern wurden, die die Welt kannten. London ist für ihn nur noch ein Ort, wo man besser technische Geräte kaufen kann. Familienmitglieder, die uns in London besucht hatten,warfen uns immer wieder vor, dass wir Channan kein vernünftiges Urdu oder Punjabi beibrachten. Nun liest und schreibt er nicht nur Urdu, ich kann ihn auch jederzeit nach Slangausdrücken fragen, die ich auf der Straße gehört habe. Er kennt sie immer. Er hat mir beigebracht, dass das Wort chappa nicht mehr Polizeirazzia bedeutet, sondern das echt uncoole Ding, wenn Du den Stils eines anderen kopierst.

Als Familie schätzen wir es inzwischen, in einer Welt zu leben, in der ein Tag, an dem nicht irgendwo im Land eine Bombe hochgeht, ein ziemlich guter Tag ist. Sogar die Stromausfälle werden erträglich. In Karatschi diskutierten die Leute über die Stromversorgung, wie wir in London über das Wetter diskutieren. Sie geben mit der Leistungsfähigkeit ihrer Generatoren an, als prahlten sie mit ihren Urlaubsfotos. Anfangs gefiel es mir, nicht den ganzen Tag Strom zu haben. Ein erzwungenes Medienfasten. Ich habe sogar angefangen, Krieg und Frieden zu lesen. Dann kam die Zeit, als der Strom sechsmal am Tag weg war und die Maihitze uns umwarf. Wir gaben unsere umweltfreundliche Haltung auf und kauften einen Generator.

Wir würden noch lieber in ­einem säkularen Chaos leben

Ein befreundeter Journalist sagte neulich, dass wir, die Menschen von Karatschi, viel lieber im säkularen Chaos lebten, als mit den Taliban. Und jede Wahl in jüngster Zeit hat das bewiesen. Alle paar Tage hören wir Warnungen, die Taliban kämen. Doch Karatschi hat schon in der Vergangenheit militante Mullahs hinauskomplimentiert und scheint nicht sonderlich beunruhigt. Tatsächlich ist eine der hiesigen Parteien, die an der Spitze der Proteste gegen die Taliban stehen – oder die Talibanisierung, wie man in Karatschi gerne sagt – die Sunni Tehrik. Mit ihren vorschriftsmäßigen Bärten und ihrer scharfen Rhetorik sind sie für Außenstehende wohl nicht von den Taliban zu unterscheiden. Ihre Anführer tragen Namen wie „Nacktes Schwert“ und gehen in Begleitung Kalschnikoff-tragender Bodyguards durch die Stadt. Doch sie hassen die Taliban genau so sehr wie die Fashionistas.

Sogar unser Spirituosenladen hier, der eigentlich nur an Nicht-Muslime Alkohol verkaufen soll, sein Geschäft aber nach säkularen Regeln führt, hat kürzlich ein Plakat aufgehängt: Nehmen Sie sich vor der Talibanisierung in Acht.

Gekürzte Fassung

Übersetzung: Zilla Hofman

Mohammed Hanif war Pilot der pakistanischen Luftwaffe, bevor er sich entschied, Journalist zu werden. In den neunziger Jahren zog er nach London. Sein Debütroman Eine Kiste explodierender Mangos wurde bereits kurz nach Erscheinen für den englischen Booker-Preis nominiert. Seit 2008 lebt Hanif als BBC-Korrespondent mit seiner Familie wieder in Karatschi.

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Geschrieben von

Mohammed Hanif, The Guardian | The Guardian

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