Kein Erbarmen für W.

Indien „Guardian“-Reporter Jason Burke hat das westbengalische Dorf Subalpur besucht, in dem eine Frau von etwa 15 Männern vergewaltigt wurde, und nach Erklärungen gesucht
Ausgabe 06/2014

Wenn es irgendwo Anhaltspunkte dafür gibt, was sich wirklich zugetragen hat, dann hier – hinter der offenen Tür der dritten Hütte. Sie liegt gleich am Ortseingang des ärmlichen, abgelegenen Dorfes Subalpur. Hier wurde vor nicht allzu langer Zeit an einem Nachmittag eine 20-jährige alleinstehende Frau in Gesellschaft eines verheirateten Mannes aus einer anderen Gemeinde angetroffen. Nachbarn entdeckten es, zerrten die Frau aus der Hütte und fesselten sie an einen Baum, während der Dorfrat tagte. Dann wurde sie von etwa 15 Männern vergewaltigt – als Strafe für eine verbotene Liaison.

Jetzt steht die aus einem Zimmer mit Lehmwänden und einem Blechdach bestehende Behausung leer. Die Frau liegt unter Polizeischutz im Hospital, ihre Familie ist teilweise untergetaucht. Der mutmaßliche Liebhaber, ein älterer Maurer, ist irgendwohin geflohen. In seinem zehn Kilometer entfernten Dorf hat ihn jedenfalls seither niemand mehr gesehen. Zwischen den beiden Ansiedlungen liegen trockene Weizenschläge und Felder mit Ölsaaten, die diesen Winkel Nordostindiens wie dürres Flickwerk überziehen.

Fast keiner kann schreiben

An den Wänden der Hütte, in der die Vergewaltigte mit ihrer Mutter lebte, hängen Poster von bengalischen Spielfilmen. In einem Regal steht ein kleiner Schrein, drinnen ein Topf Feuchtigkeitscreme, ein kleiner Spiegel und ein Ständer mit einem Dutzend goldener und roter Armreifen – Gegenstände, wie man sie auch in den benachbarten Katen findet.

Einwohner von Subalpur verunglimpfen das Opfer kollektiver Selbstjustiz. Weil das Gesetz zum Schutz der Persönlichkeit bei Vergewaltigungsfällen strikte Anonymität vorschreibt, wird allgemein nur von W. gesprochen. Sie habe einen „schlechten Charakter“ gehabt und „die Atmosphäre im Dorf verdorben“, heißt es. Einige behaupten, sie habe sich heimlich als Prostituierte durchgeschlagen. Ihre Familie bestreitet das. Gespräche mit Verwandten von W. ergeben ein anderes Bild: Dies lässt eine junge Frau erkennen, die sich nicht damit abfinden konnte, in erstickender Enge und bitterer Armut zu leben. Und ein solches Schicksal in einem Land hinzunehmen, das trotz rasanten ökonomischen Wachstums die soziale Peripherie der Gesellschaft stetem Siechtum überlässt.

Die Massenvergewaltigung von Subalpur fand Widerhall auf dem gesamten Subkontinent, gerade weil die sexuelle Gewalt weiter grassiert. Anfang Januar wurde in Delhi eine 51 Jahre alte Touristin aus Dänemark von mehreren Männern vergewaltigt – nur eine von vielen Attacken auf Ausländer. Nicht zu vergessen jene Gruppenvergewaltigung, in deren Folge Ende 2012 eine 23-jährige Inderin in Delhi verstarb. Dieses Verbrechen rief im ganzen Land Trauer und Entsetzen hervor. Tausende gingen auf die Straßen, um härtere Gesetze, eine entschlossenere Polizei und den Abschied von tradierten Gewaltkulturen zu fordern. In Dörfern wie Subalpur ist von solcherart Wandel nichts zu spüren.

Soham, der 23-jährige Bruder von W., erinnert sich, seine Schwester sei immer „rebellisch“ gewesen. „Schon als sie ganz klein war, hörte sie nicht auf die Älteren. Sie tat, wozu sie Lust hatte.“ Ganz wie ihre Altersgenossen ging W. eher selten in die gut drei Kilometer von Subalpur entfernte staatliche Schule mit ihren rudimentären Bildungsangeboten. Statt zu lernen, spielte und arbeitete sie mit anderen Kindern auf den Feldern. Kein Erwachsener, nur ein paar Teenager in Subalpur können lesen oder schreiben.

Vor vier Jahren kontaktierte W. gegen den Willen ihrer Eltern einen Agenten, der ihr einen Job im über 1.600 Kilometer entfernten Delhi verschaffte. Indiens Hauptstadt zieht viele junge Menschen aus armen, ländlichen Gegenden an. Aus Subalpur kam bis dahin nie jemand weiter als bis ins 35 Kilometer entfernte Suri. Wenn dort verzweifelt nach Arbeit gesucht wurde, dann betraf es Männer, ganz selten Frauen. „Ich bin noch nie in einer Stadt gewesen. Unsere Männer arbeiten auf den Feldern. Wir bleiben bei den Kindern. Warum sollte jemand von uns in eine Stadt gehen – es sei denn, derjenige hat etwas Ungutes vor?“, fragt die 22-jährige Manika Tudu.

W. ergatterte in Delhi eine Anstellung als Köchin, bei der sie am Monatsende umgerechnet 50 Euro ausgezahlt bekam. Für ein Dorf wie Subalpur, in dem die Arbeiter die meiste Zeit des Jahres nichts verdienen, war das ein Vermögen. Es existiert zwar ein Regierungsprogramm, das jedem Inder hundert Tage Arbeit im Jahr garantiert, aber tatsächlich bestenfalls für eine Woche mit Arbeit versorgt. In Subalpur hungert niemand, doch richtig satt wird auch keiner. „Wir müssen nicht tagelang ohne Essen auskommen“, sagt die 37-jährige Padmuni Tudu, die sich nicht erinnern kann, wann sie das letzte Mal Fleisch gegessen hat. „Man hat jedoch nie das Gefühl, dass genug da ist.“ Alle hier im Dorf hätten Anspruch auf die annähernd kostenlosen Lebensmittelrationen der Regierung, nur käme davon so gut wie nichts an.

Da sie trotz der Härte des Dorflebens Heimweh hatte, kehrte W. im September aus Delhi zurück. Sich wieder anzupassen fiel ihr schwer. In Subalpur verrichtet man sein Geschäft auf den Feldern. W. hatte sich an Toiletten gewöhnt. Es gab nun einen spürbaren Riss im Verhältnis zu den Dorfbewohnern. „Sie wurde gemieden“, erzählt ihr Bruder. Dass sie allein mit der Mutter lebte, – der Vater war vor einigen Jahren gestorben – machte sie noch schutzloser. Von W.s Liaison mit dem Maurer wusste bald jeder und verachtete sie. In einem solchen Dorf ist jede Beziehung zu Angehörigen anderer Gemeinden verboten, erklären die lokalen Behörden. Besonders schockierend sei es für die Dorfgemeinde gewesen, dass der Betreffende Moslem war.

27.000 Rupien Strafe

„Wir haben sie zusammen ertappt“, so die Nachbarin Manika Tudu. „Die Frauen haben W. überwältigt, und die Männer griffen sich den Liebhaber. Dann banden wir beide an einen Baum, bis der Dorfrat entschieden hatte, was mit ihnen passieren sollte.“

Die Einwohner Subalpurs gehören zu den indigenen Gemeinden Indiens, deren Mitglieder auch Adivasi genannt werden. Das heißt, sie gehören zu der am stärksten marginalisierten und ausgebeuteten Bevölkerung. Aus dieser Gemeinschaft rekrutieren sich acht Prozent der Gesamtbevölkerung. Die Gemeinden werden in der Regel von nicht gewählten Räten geführt, die für die Schlichtung von Streitigkeiten zuständig sind. Kaum ein Adivasi hat daran etwas auszusetzen Man traut weder der Polizei noch der Justiz, die zu schwerfällig erscheint und zu weit weg ist. „Bei uns macht man das so. Hier geht man nicht zur Polizei. Wenn es ein Problem gibt, regeln wir das unter uns“, meint die 40-jährige Fulmoni Tudu, deren Mann derzeit im Gefängnis sitzt. Ihm wird vorgeworfen, einer der 15 Vergewaltiger gewesen zu sein. Selbst W.s Bruder spricht sich für das System aus und merkt nur an, dass es vollauf genügt hätte, seine Schwester zu verprügeln.

Keiner der Dorfbewohner hatte etwas dagegen, dass Dorfrat und Dorfvorsteher eine Strafe von 27.000 Rupien (etwa 340 Euro) gegen W. und ihren mutmaßlichen Liebhaber verhängten. Der erklärte daraufhin, er werde Schmuck verkaufen und bezahlen. W.s Familie gab zu verstehen, dass sie die gewaltige Summe niemals aufbringen könne. Über das, was danach geschah, gibt es unterschiedliche Versionen. In der Aussage, die W. und ihre Mutter gegenüber der Polizei machten (und gegenüber dem Guardian wiederholten), geben beide an, der Dorfvorsteher hätte den Männern eröffnet, da die Beschuldigte nicht zahlen könne, sei sie frei, „genossen zu werden“. Dann habe man sie in eine nahe gelegene Hütte aus Bambusrohren und Palmzweigen gebracht und dort mehrfach vergewaltigt. Anschließend sei sie eingesperrt und mit weiterer Gewalt bedroht worden, sollte sie Anzeige erstatten. Nach fast 48 Stunden gelang es der Mutter und den Brüdern von W., sie heimlich in eine nahe Ambulanz zu bringen. Als sie dann wegen erheblichen Blutverlusts ins Bezirkskrankenhaus verlegt werden musste, wurde die Polizei eingeschaltet.

Typisch für Westbengalen

Die Frauen des Dorfes behaupten, an dieser Darstellung stimme rein gar nichts. „Wie hätten unsere Männer so etwas tun können? Sie waren die ganze Zeit bei uns. Und wenn sie wirklich von so vielen vergewaltigt wurde, wie kann sie dann reden? Sie hat sich das alles nur ausgedacht, um keine Strafe zahlen zu müssen und von ihrem schlechten Verhalten abzulenken.“ Die Polizei reagiert mit dem Bescheid, bislang sichergestellte Beweise bestätigten W.s Version. Medizinische Untersuchungen hätten außerdem ergeben, dass sie von „fünf bis fünfzehn“ Männern vergewaltigt wurde. 13 der mutmaßlichen Täter sitzen mittlerweile im Gefängnis.

In Westbengalen gibt es besonders viele Fälle sexueller Gewalt. Im Oktober starb eine Frau, nachdem sie von derselben Gruppe zweimal angriffen worden war. Zum zweiten Übergriff kam es, als sie von der Polizeiwache kam und gerade das erste Verbrechen angezeigt hatte. Der Bundesstaat wird von der All India Trinamool Congress Party (TMC) unter Mamata Banerjee regiert, eine hitzköpfige Außenseiterin und eine der mächtigsten Frauen Indiens. Ihre politischen Konkurrenten nutzen die Gelegenheit, um angesichts sich häufenderVergewaltigungen Punkte zu sammeln. Robi ul-Islam, ein örtlicher Vertreter der Kongresspartei, bezeichnet Mitglieder der TMC als „Strolche“. Sie seien für die explodierende Gewalt verantwortlich. Die Frauenbeauftragte der örtlichen KP-Fraktion gibt Banerjees „kapitalistischer Ideologie“ die Schuld.

Renommierte Anwälte der Indigenen erklären unumwunden, sie hätten Angst, das Geschehen von Subalpur könne „von einflussreichen Leuten“ ausgenutzt werden. Zehn Millionen Indigene seien in den zurückliegenden Jahrzehnten unter fadenscheinigen Vorwänden von ihrem Land vertrieben worden, ohne je wieder richtig sesshaft zu werden. „Das Phänomen der Scheingerichte oder Selbstjustiz wird für weitere Angriffe auf ihre Kultur missbraucht. Man wird versuchen, diese Menschen noch tiefer in die Armut zu zwingen“, sagt Sunil Soren, der sich für die Rechte der Indigenen einsetzt.

Zurück nach Subalpur. Die Familie des Opfers hat damit zu kämpfen, dass der Dorfrat darauf besteht, dass die verhängte Strafe beglichen wird. Also hat die Familie keine andere Wahl, als sich die verlangte Summe zu leihen und auf Jahrzehnte zu verschulden, wenn sie nicht des Dorfes verwiesen werden will. „Wo sollten wir denn hingehen?“, fragt W.s Bruder Soham.

Jason Burke ist der Südasien-Korrespondent des Guardian

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Übersetzung: Zilla Hofman / Holger Hutt
Geschrieben von

Jason Burke | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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