Israel Der vor 15 Jahren, am 4. November 1995, ermordete Premier Yitzhak Rabin hinterließ ein Vermächtnis, dem nachfolgende Regierungen nie wirklich gerecht wurden
Der Tod Yitzhak Rabins am 4. November 1995 hat einen Mann zu einem Mythos erhoben. Das ist nur natürlich. Unzählige Straßen, Plätze Kreuzungen und Schulen wären nicht nach Israels fünftem (1974 – 1977) und zehntem (1992 – 1995) Premierminister benannt worden, hätte es nicht das Attentat auf ihn gegeben. Wäre er eines natürlichen Todes gestorben, würde man seinen Todestag wie bei allen anderen dahingeschiedenen und vergessenen Regierungschefs bescheiden begehen. Die alljährlichen Gedenkfeiern, die sich über Wochen hinziehen – länger als die Erinnerung an gefallene israelische Soldaten und Opfer des Terrorismus –, würden in diesem Umfang nicht stattfinden. Es ist fraglich, ob irgendjemand über
er sein „Vermächtnis“ sprechen würde, wenn Rabin nicht eines gewaltsamen Todes gestorben wäre.Es lässt sich kaum bestreiten, dass sein Vermächtnis dadurch immens aufgewertet wurde. Während seiner ersten Amtszeit schien er ein durchschnittlicher Politiker zu sein. Während seiner zweiten ein guter. Doch reicht das schon, über ein Vermächtnis zu sprechen? Weshalb? Welches wäre das?Rabin fehlte die unverkennbare gesellschaftliche Vision, er bevorzugte eine Demokratie, in die sich weder das Oberste Gericht noch Menschenrechtsorganisationen wie B’Tselem einzumischen hatten. Menschenrechte und das Völkerrecht hatten für ihn keine Bedeutung. Anfangs musste man ihn zu Friedensgesprächen schleifen; seine Sicherheitsdoktrin war Israels Sicherheitsdoktrin und damit inoffizielle Staatsreligion.Die Osloer Verträge mit den Palästinensern vom August 1993 – seine größte Errungenschaft – scheiterten im Vollzug unter anderem deswegen, weil weder Rabin noch Präsident Peres das Risiko eingehen wollten, die Siedlungen zu räumen. Doch kann es ohne eine derartige Zäsur keinen Schritt in Richtung Frieden geben. Insofern war Yitzhak Rabin kein unermüdlicher Friedenskämpfer, obwohl er couragiert einen Durchbruch vorantrieb.Es gibt freilich eine Qualität, die ihn auszeichnete, mehr als alle Regierungschefs, die vor und nach ihm kamen. In dieser Qualität besteht sein wahres Vermächtnis, das heute mehr denn je an israelische Politiker weitergereicht werden sollte – Rabin war authentisch. Sieht man sich die vielen Stunden Filmmaterial aus dem Leben dieses Mannes an, aufgenommen mit der Kamera, die er liebte und die ihn seit jungen Jahren begleitete, umgibt ihn eine Aura der Aufrichtigkeit. Zu jener Authentizität gehörte auch ein Ausdruck des Überdrusses, den er nie aus seinem Gesicht wischen konnte, wenn er bei Treffen oder Meetings der Arbeitspartei gezwungen war, neben Schimon Peres zu sitzen. Authentisch war auch, wie er Yassir Arafat am 13. September 1993 auf dem Rasen des Weißen Hauses zögerlich die Hand gab.Gute-Nacht-Kuss für AmyAm Vorabend des Sechs-Tage-Krieges von 1967 erlebten wir, wie Rabin einen Zusammenbruch erlitt und – zutiefst menschlich – Nerven zeigte. Seine berühmte Reaktion, als die erste Intifada, der Krieg der Steinen von 1987, ausbrach – „Brecht ihnen Arme und Beine!“ – machte uns zu Zeugen von Wut und Erschütterung über die aus seiner Sicht unverschämt aufsässige Auflehnung gegen die Besatzung. Wenn ihm andererseits die Siedler, die nicht aufhören wollten, einen Wirbel nur um ihre Interessen zu machen, so richtig auf die Nerven gingen, nannte er sie „Propeller“ anstatt Pioniere. Könnte man sich so etwas bei Schimon Peres vorstellen?Während eines Besuches im Weißen Haus war zu beobachten, wie peinlich berührt Rabin war, als er aufgefordert wurde, der Präsidententochter Amy Carter einen Gute-Nacht-Kuss zu geben. Man kann sich leicht vorstellen, was Rabins Nachfolger Peres oder Benjamin Netanjahu in einer solchen Situation täte. Peres würde sagen: „Zeig mir deine Muskeln“, wie er es zu jedem Kind sagt, das während eines Wahlkampfes seinen Weg kreuzt, und Netanjahu würde automatisch sein falsches Grinsen anknipsen.Yitzhak Rabin, der schüchterne Rotschopf, verhielt sich anders. Er war ein Original. Er hatte keine Scheu, menschliche Gefühle zu zeigen. Er konnte vor Wut erröten, sich schüchtern zurückziehen, seinen Abscheu zeigen und die Wahrheit aussprechen – das war Rabin. Anders als die meisten Politiker empfand er es nicht als Schwäche, von Gefühlen überwältigt zu sein. Im Gegenteil, es stärkte ihn, so dass es kaum überraschen konnte, wenn ihn die Menschen für glaubwürdiger als andere hielten. Man denke nur an den Klischee-Fundus von Schimon Peres, der niemals seine wahren Gefühle zeigen würde, selbst wenn man ihn mitten in der Nacht aufwecken sollte. Vor Jahrzehnten habe ich Peres einmal vergeblich angefleht, wütend zu sein, zu brüllen oder mich zumindest zurecht zu weisen, als ich an einer mir übertragenen Aufgabe scheiterte. Nichts dergleichen. Benjamin Netanjahu ist eine ähnlich gut geölte Maschine. Jede seiner Gesten, Minen und Floskeln wird peinlich genau geplant, geprobt und präsentiert. Man wird ihn nie authentisch erleben. Haben Sie ihm jemals geglaubt? Wie sollten Sie auch?Denken Sie an General Schaul Mofas gezwungenes Grinsen oder an die gestelzten Worte des derzeitigen Verteidigungsministers Ehud Barak – ein großartiger Maskenball. Wir glauben heute keinem von ihnen – wir glaubten Rabin. Es stimmt, dass ein regierender Politiker vorzugsweise an seinen Taten und Resultaten gemessen wird, aber auch die Wahrheit zählt.In dieser Woche werde ich während der Trauertage vor und nach dem 4. November voller Sehnsucht an Yitzhak Rabin denken, bei dem man es zur Abwechslung wenigstens einmal mit einer authentischen Person zu tun hatte.
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