Keiner entkommt

Mexiko Der scheidende Präsident Felipe Calderón wollte hart gegen die Drogenkriminalität vorgehen. Nun tritt er ab – und es bleibt beinahe alles beim Alten
Keiner entkommt

Foto: AFP/ Getty Images

Die Straße, die tief hinab in die Tierra Caliente führt, windet sich erst durch Pinienwälder, kommt dann in ein fruchtbares Tal, um schließlich wieder zurück in die ungezähmte Bergwelt hinaufzuführen. In diesem abgelegenen Winkel Mexikos, genauer gesagt des Bundesstaates Michoacán an der Pazifikküste, drangen die jeweils Mächtigen jahrhundertelang kaum durch. Und bis heute hat sich daran eigentlich nicht viel geändert.

Michoacán bleibt ein Staat im Staat. Die Tempelritter – Los Caballeros Templarios – geben hier den Ton an. Dieses Verbrechersyndikat verbindet eine pseudo-mystische Ideologie mit unbarmherzigen Geschäftsinstinkten: „Niemand kommt hier herein, ohne dass sie es merken. Sie haben ihre Augen überall“, sagt ein Einwohner leise. „Man lernt, sich völlig neutral auszudrücken, weil niemand wissen kann, wer alles zuhört“, meint ein anderer. „Das Syndikat ist das Gesetz. Nicht die Regierung.“

In dieser Region hat der nun abgewählte Präsident Felipe Calderón schon im Jahr 2006 mit der später landesweiten Offensive gegen das organisierte Verbrechen begonnen. Nur Tage nach seinem Amtsantritt schickte er Bataillone maskierter Soldaten und schwer bewaffneter Bundespolizisten los, um Michoacán, seinen Heimatstaat übrigens, zu säubern. Für einen Lokaltermin auf einem Militärstützpunkt legte Calderón sogar selbst eine Uniform an.

Doch nun, da er sein Amt aufgibt, stellt die Wirklichkeit in Tierra Caliente – dem „heißen Land“ – seine Strategie unverkennbar infrage. Obwohl einige Kartellbosse seither gefasst oder getötet wurden, geht der Drogentransfer Richtung Norden unvermindert weiter.

Kämpfende Bruderschaft

Schätzungsweise 100.000 Menschen sind der Gewalt in Mexiko während der vergangenen fünf Jahre zum Opfer gefallen, Tausende verschwanden. Es starben Richter, Anwälte, Journalisten, Bürgermeister. Den Streitkräften wird vorgeworfen, systematisch gefoltert zu haben. Die Zahl der Toten scheint im vergangenen Jahr nicht noch einmal gestiegen zu sein, doch das muss nicht unbedingt Indiz für einen Sieg der Regierung sein: „Die Caballeros Templarios führen in dieser Region weiter ein striktes Regiment und kontrollieren das organisierte Verbrechen“, meinte kürzlich General Miguel Angel Patino. „Ihre Dominanz garantiert jedoch eine gewisse Ruhe.“

Tatsächlich präsentieren sich die Caballeros als „kämpfende Bruderschaft“, die sich ganz dem Schutz der Bevölkerung verschrieben hat, auch wenn sie ein brutal kriminelles Handwerk betreibt. Wie ihre Vorgänger – genannt: La Familia Michoacána – pflegen die Caballeros obskure Rituale: Neue Mitglieder verkleiden sich bei ihrer Inauguration als mittelalterliche Krieger mit Plastikhelmen und -schwertern. Die Pamphlete des Kartells fordern soziale Gerechtigkeit und verbinden sich gleichzeitig mit einem Ehrenkodex.

Ein Video zeigt Servando Gómez Martínez, einen der Anführer, vor einer Ritterstatue, einer mexikanischen Flagge und Bildern von Che Guevara und Pancho Villa, einem der prominentesten Generäle der mexikanischen Revolution zu Beginn des 20. Jahrhunderts. „Unsere einzige Mission besteht darin, den Menschen zu helfen“, sagt der ehemalige Lehrer in dem Video. „Wir wollen weder Chaos noch Terror stiften. Jeder soll verstehen, dass wir in diesem Land wegen widriger Umstände als notwendiges Übel gebraucht werden.“

Trotz aller Exzentrik reicht die Unterstützerszene der Caballeros weit in die Bevölkerung hinein. Die verbreitete Wut über Misshandlungen durch die Armee hat ihnen geholfen. Einwohner erzählen, ihre Nachbarn seien nie wieder aufgetaucht, nachdem sie von Sicherheitskräften festgenommen worden waren.

Kein Wunder also, wenn lokale Institutionen inzwischen vom Kartell infiltriert sind. Sich mit dem organisierten Verbrechen auf eine Konfrontation einzulassen, wäre für die lokalen Bürgermeister alles andere als sinnvoll. Wer es wagt, riskiert viel – wenn nicht alles. Im November 2012 wurde Maria Santos Gorrostieta, die Bürgermeisterin von Tiquicheo, vor den Augen ihrer Kinder aus dem Auto gezerrt und verschleppt. Ihre kurz darauf entdeckte Leiche zeigte Spuren von Folter und Misshandlungen. Zwei Anschläge hatte Maria Santos überlebt – der dritte war tödlich.

Als der Gouverneur von Michoacán die Caballeros indirekt für den Mord verantwortlich machte, wies das Kartell diesen Vorwurf auf eilends ausgehängten Plakaten zurück und gab zu verstehen, dem Gouverneur im Wahlkampf geholfen zu haben. Nun solle der klar sagen, „ob wir erwarten können, dass unsere Investition sich auszahlt.“

Autonome Justiz

Präsident Felipe Calderón hat stets argumentiert, wer den Kartellen den Krieg erkläre, verhindere, dass Mexiko zum Drogenstaat werde. Doch kontrollieren die Caballeros in Michoacán längst Sektoren des täglichen Lebens, die nichts mit Produktion und Transit von Drogen zu tun haben. Die Menschen erzählen, inzwischen habe das Kartell entschieden, dass die Mango- und Zitronenernte erst dann beginnen dürfe, wenn der Markt die besten Preise biete. Landwirte, die nicht warten, müssen ihre Früchte heimlich und zu beträchtlichen Risiken verkaufen.

Auch heißt es, die Caballeros seien zur ersten Anlaufstelle geworden, wenn Konflikte zwischen den Bürgern aufbrechen. Ein Zeuge beschreibt, wie ein Repräsentant des Kartells die Konfliktparteien höflich in seinem Büro empfängt, um dann sein Urteil zu sprechen, ohne auch nur den Hauch einer Drohung anklingen zu lassen: „Das braucht es nicht. Jeder weiß, was passieren kann.“

Warum aber hat die Regierung von Felipe Calderón in der Tierra Caliente versagt? Wie ist es zu dieser Doppelherrschaft von legaler und krimineller Macht gekommen?

In der Stadt Uruapan – sie empfiehlt sich als Avocado-Hauptstadt der Welt – sind die Zustände nicht viel besser. Noch bekannter als durch die Avocados wurde der Ort durch ein schauriges Ereignis Ende des Jahres 2006: Fünf abgeschlagene Köpfe wurden damals über den Boden des Nachtclubs Sol y Sombra gerollt. Heute herrscht im Club wieder der ganz normale Betrieb, und es scheint einigermaßen ruhig – abgesehen davon, dass auf dem zentralen Platz der Stadt ein Polizeiwagen hinter dem anderen steht. Unter dieser Oberfläche aber verbirgt sich eine Welt der wuchernden Kriminalität, die sich staatlicher Komplizenschaft sicher sein kann.

„Ich bin kein Feigling, aber wenn irgendwelche Informationen über meine Identität herauskommen, bin ich ein toter Mann“, sagt jemand, der von seiner Entführung berichten will. Damals musste er nackt mit einer Schlinge um den Hals zwischen Vergewaltigung und Tod wählen. Ihn schaudert bei der Erinnerung an die Schreie eines anderen Entführungsopfers. Der wurde im gleichen Raum mit einer Elektrosäge in Stücke geschnitten.

In Stücke zersägt

Während des einen ganzen Monat dauernden Martyriums hörte er immer wieder, dass seine Geiselnehmer über Funk in Kontakt mit Polizeichefs standen. Einmal sei das Fahrzeug, mit dem er von einem Versteck in ein anderes befördert wurde, von einem Streifenwagen eskortiert worden.

Wenn in Uruapan jemand entführt wird, dann bleibt der betroffenen Familie nichts anderes übrig, als sich diskret an jemanden zu wenden, der Verbindungen zur Unterwelt hat. Fast nie gehen die Angehörigen eines Opfers zur Polizei. Das liegt auch daran, dass die Syndikate nicht mehr ausschließlich Drogengeschäfte betreiben, sondern ihre Aktivitäten beachtlich erweitert haben. Mittlerweile geht es immer mehr um Entführungen und die Erpressung von Lösegeld, um organisierten Menschenhandel und die Produktion von DVD-Raubkopien. Auch Taxifahrer müssen inzwischen jeden Monat einen Teil ihrer Einnahmen an die Narcos abtreten oder sich als deren Spitzel verdingen. Das gilt auch für die Angestellten von Gemischtwarenläden an der Peripherie von Uruapan. Oder für Lastwagenfahrer, die Schutzgelder zahlen, um auf Tour gehen zu können. Aufkleber auf Glücksspielautomaten bezeugen, dass deren Eigentümer dies gleichfalls tun.

Felipe Calderón, der nun als Ex-Präsident das Land verlässt, um in Harvard zu unterrichten, hat seine Entscheidung, den Drogenkrieg als Krieg zu führen, stets verteidigt: „Ich bin mir sicher, dass die Mexikaner sich eines Tages an den Augenblick erinnern, da das Land beschloss, sich mit ganzer Kraft gegen ein unersättliches kriminelles Phänomen von transnationalen Dimensionen zu verteidigen“, sagte er am 20. November 2012 bei der Einweihung eines Denkmals für gefallene Soldaten.

Sein Nachfolger Enrique Peña Nieto von der Partei der Institutionellen Revolution (PRI) hat nun versprochen, Calderóns Offensive fortzuführen. Dabei will er aber die Strategie „anpassen“ und den Fokus auf die Eindämmung der Gewalt verlagern. Sein Team erklärt, gegen Korruption und Geldwäsche vorgehen zu wollen, und hat noch einmal bekräftigt, wie wichtig es ist, junge Mexikaner vor den Kartellen zu schützen. Nachdem sich bei Volksabstimmungen in einigen US-Staaten die Mehrheit für eine Legalisierung von Marihuana ausgesprochen hatte, wurde sogar dezent eine Überprüfung der bisherigen Methoden der Drogenbekämpfung angedeutet. Bislang bleiben die Pläne der neuen Regierung jedoch äußerst vage – fest steht nur, dass Peña Nieto es kategorisch ablehnt, jemals mit Kriminellen zu verhandeln.

Die Tempelritter hingegen schließen diese Option nicht aus. Die Einwohner von Tierra Caliente haben erlebt, wie sich prominente Mitglieder des Kartells im Wahlkampf für Peña Nieto eingesetzt haben. Sie gehen davon aus, dass es letztlich zu einem Dialog kommen wird. „Zum Wohle des Landes wird Nieto verhandeln müssen“, sagt eine „einflussreiche Persönlichkeit“ aus der Region. „Tut er das nicht, könnte alles schlimmer werden, weil sich die Tempelritter verraten fühlen.“

Selbst Mexikaner, die unter dem organisierten Verbrechen schwer gelitten haben, könnten keinen anderen Ausweg erkennen als den Dialog. „Narcos hat es immer gegeben und wird es wohl immer geben“, sagt das Entführungsopfer aus Uruapan. „Man muss mit ihnen einen Ausgleich finden, damit sie ihren Geschäften nachgehen können, ohne dass die normalen Leute in Mitleidenschaft gezogen werden.“

Jo Tuckman berichtet für den Guardian aus Mittel- und Südamerika

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Übersetzung: Zilla Hofman
Geschrieben von

Jo Tuckman | The Guardian

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