Kommt der Mob zurück?

Kirgistan Auch wenn Beobachter die Parlamentswahl fair und frei nennen, blieben viele ethnische Usbeken dem Urnengang fern. Sie leiden noch immer unter Repressionen und Angst

Es gab weder einen Haftbefehl noch irgendeine Warnung. Um fünf Uhr morgens stürmten zehn kirgisische Polizisten das Zelt, in dem Bakha schlief, zerrten den ethnischen Usbeken in den Wagen und fuhren mit ihm weg. Sein kleiner Sohn wurde mehrere Stunden später völlig verstört von Verwandten gefunden. „Sie verhalten sich wie die Gestapo“, sagt Bakhas älterer Bruder Rustam, als er auf dessen Verhaftung zu sprechen kommt.

Vier Monate nach den Pogromen an der usbekischen Minderheit zwischen dem 10. und 15. Juni, bei denen 2.000 Menschen ums Leben kamen und 400.000 fliehen mussten, weil ihre Häuser niedergebrannt wurden, gehen kirgisische Behörden Rustam zufolge nach wie vor gegen Usbeken vor. Die klagen über willkürliche Festnahmen, Misshandlungen im Gefängnis und Rechtsverstöße. Die kirgisischen Institutionen vor Ort machen inzwischen die Usbeken selbst für den Ausbruch der Gewalt verantwortlich und verfolgen sie wegen Anstiftung zu Rassenhass, Aufruhr und Beihilfe zum Mord.

„Mein Bruder“, erzählt Rustam, „hatte seinen Wagen gerade erst für 5.000 Dollar verkauft. Zwei Tage später wurde er verhaftet. Das war kein Zufall. Die Polizei hatte seiner Frau gesagt, wenn sie ihnen 1.500 Dollar gäbe, würden sie im Gegenzug die Mordanklagen gegen Bakha fallen lassen. Sie wollen uns loswerden. Wo aber sollen 1,5 Millionen Menschen hin?“

Am Scheideweg

Die Zukunft Kirgistans scheint ungewiss. Seit zehn Jahren hat es in Zentralasien keine derartigen Eruptionen von Gewalt mehr gegeben. Pessimisten fürchten, Kirgistan, das sowohl eine amerikanische als auch eine russische Militärbasis auf seinem Territorium beherbergt, könnte zu einem failed state – einem gescheiterten Staat – werden und dem Drogenhandel, der Organisierten Kriminalität und islamistischem Radikalismus verfallen.

Andere sind optimistischer und verweisen darauf, dass es sich bei Kirgistan um das liberalste Land in der Region handelt. In der post-sowjetischen Nachbarschaft haben zumeist autokratisch regierende starke Männer das Sagen. Die Wahl vom 10. Oktober könnte den demokratischen Trend verstetigt, genauso gut zu erneuten Unruhen geführt haben. Innerhalb von fünf Jahren erlebte Kirgistan zwei Umstürze, zuletzt wurde im April Präsident Bakijew gestürzt.

29 politische Parteien traten zur Wahl an, 3.000 Kandidaten bewarben sich um 120 Mandate. Im Fernsehen liefen auf sympathische Weise amateurhafte Wahlwerbespots – es handelte sich allem Anschein nach um eine durch und durch demokratische Veranstaltung. „Wir haben gar kein Geld, um jemanden zu bestechen“, erwiderte ein sozialdemokratischer Kandidat auf die Frage, ob alles ordnungsgemäß vonstatten gegangen sei.

Psychisch gebrochen

Die dringendste Aufgabe der neuen Regierung wird darin bestehen, neue Gewalttaten zwischen den Volksgruppen zu verhindern und tiefe Gräben einzuebnen. Dann sind da noch die Nachbarn: Russland, Kasachstan, Usbekistan. Das demokratische Experiment vor ihrer Haustür begeistert sie nicht über Gebühr. Ob es wirklich hält, was es verspricht, scheint allerdings nicht geklärt. Viele Usbeken gaben zu verstehen, ihnen sei die Wahl egal. „Ich wollte nicht abstimmen“, meint Ibeg, der in der Ruine seines Hauses gerade mit der alten Mutter beim Tee sitzt. „Sie haben mein Haus niedergebrannt und meinen Nachbarn getötet und wollten Dasselbe mit meiner Familie tun. Alle waren daran beteiligt.“

„Wir sind psychisch und physisch gebrochen“, sagt Krigizbajew, ein anderer Usbeke, und zeigt auf die Stelle, an der seine Nachbarin, eine junge Frau namens Zarifa, mit einem Beil erschlagen wurde. „Die meisten von uns sitzen nur noch zuhause. Auf der Straße riskieren sie, verhaftet zu werden.“ In einem nahe gelegenen Haus seien sechs Kinder verbrannt, die sich mit ihrer Mutter im Keller versteckt hatten, so Krigizbajew weiter. Viele junge Leute seien nach Russland unterwegs, um dort Arbeit zu finden. Ungefähr 460 Usbeken sitzen in Osch in Gefängnissen der Polizei, andere werden in Gebäuden interniert, die dem kirgisischen Sicherheitsdienst SNB gehören. Kirgisen wurden bisher nicht verhaftet. Human Rights Watch und andere Organisationen zeigten sich alarmiert über die ganz offensichtlich einseitige Vorgehensweise bei den Untersuchungen. Sie fragen, weshalb wurde die usbekische Menschenrechtsaktivisten Azimjon Askarov im September zu lebenslanger Haft verurteilt?

Drei Tage Krieg überlebt

Die genauen Gründe für die Pogrome im Juni liegen nach wie vor im Dunkeln. Aber es ist klar, dass viele Kirgisen, deren nomadische Vorfahren in Jurten lebten, neidisch auf die wohlhabenderen Usbeken waren oder dies nach wie vor sind. Für Rustam und die anderen besorgten Usbeken bleibt die alles entscheidende Frage, ob der kirgisische Mob wiederkommt. Die Vorzeichen stehen nicht gut: Vergangenen Monat sei eine Horde betrunkener kirgisischer Jugendlicher am Ende seiner Straße aufgetaucht und habe rassistische Beleidigungen geschrieen. „Ich weiß nicht, wie dieser Völkermord enden wird. Wir haben drei Tage Krieg überlebt. Sie haben uns alles geraubt und das Haus niedergebrannt. Und jetzt haben sie meinen Bruder.“

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Übersetzung: Holger Hutt
Geschrieben von

Luke Harding | The Guardian

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