Kurz vor der Ohnmacht

Literatur Der neue Roman von Ian McEwan behandelt wieder die ganz großen Fragen. Nun steht eine Richterin vor einem Urteil über Leben und Tod
Ausgabe 04/2015

Macht und Autorität üben eine unwiderstehliche Faszination auf viele Schriftsteller aus. Der britische Bestsellerautor Ian McEwan fühlt sich immer wieder fasziniert von den großen Institutionen: In Saturday war sein Protagonist ein angesehener Neurochirurg, in Solar ein Physiknobelpreisträger. In Honig war es eine MI5-Agentin, und in seinem neuen Roman Kindeswohl ist es eine Richterin am High Court von London. Früher oder später dürfte McEwan auch ein Buch über Politiker schreiben oder vielleicht über die Finanzwelt. Aus den Danksagungen in seinen Romanen spricht aufrichtige Bewunderung für die jeweiligen Experten, die er befragt hat, und sein Umgang mit Details aus deren Welten ist klug. Er versteht es, einen beiläufigen Insiderton anzustimmen. Ob tatsächlich Eingeweihte das auch finden – was sagen Klimaforscher zu Solar oder Geheimagenten zu Honig? –, spielt keine Rolle, denn Experten sehen den Wald vor lauter Bäumen ohnehin oft nicht. McEwans Ehrgeiz besteht darin, diesen Wald zu zeigen. Das meint: die komplexen Wirkungsweisen institutionalisierter Macht.

Sein Interesse an der Arbeit von Richterin Fiona Maye springt den Leser förmlich an: „Im Familienrecht wimmelte es von seltsamen Unterscheidungen, unerwarteten Widerlegungen, intimen Halbwahrheiten, exotischen Anschuldigungen … es galt feinkörnige Eigentümlichkeiten von Lebensverhältnissen in Windeseile berücksichtigen zu können.“

Tessa Hadley ist Schriftstellerin und lebt in Cardiff. Zuletzt erschien der Roman Clever Girl

Übersetzung: Michael Ebmeyer

Die Romanhandlung setzt damit ein, dass eine private Krise Fiona aus ihrem Karrieretrott reißt. Ihr Ehemann Jack, Professor für Alte Geschichte, der ihr stets ein treuer und liebevoller Begleiter gewesen ist, verkündet, dass er eine Affäre haben möchte, und zwar mit einer 28-jährigen Statistikerin. Fiona und Jack sind Ende 50 und kinderlos. Er klagt, ihre Beziehung sei zu „nett und gemütlich“, sie verhielten sich eher wie Geschwister als wie ein Liebespaar und hätten seit „sieben Wochen und einem Tag“ keinen Sex mehr gehabt. Jack möchte Fiona nicht hintergehen, geschweige denn verlassen, er wünscht sich bloß, einmal im Leben eine „große leidenschaftliche Affäre“ zu haben. „Ekstase, bis kurz vor der Ohnmacht – kannst du dich daran erinnern?“ Fiona ist schwer gekränkt und empört. Als er auf seinem Wunsch beharrt, wirft sie ihn hinaus und lässt das Schloss der Wohnungstür austauschen. Auch Jack wird gedemütigt und steht nach wenigen Tagen zerknirscht wieder auf der Matte. Doch der Friede der Ehe ist nun so erschüttert wie Fionas Vertrauen in sich selbst und in ihre Arbeit.

Geradezu heroisch

Die Geschichte wird in der dritten Person, aber konsequent aus Fionas Perspektive erzählt. Ihre Gedanken kreisen meist um ihre Tätigkeit als Richterin. Nun würde ein realistischer Romancier – und am Anfang kommt das Buch wie ein realistischer Roman daher – üblicherweise gerade so viele berufliche Fragmente einflechten, dass die Erzählung authentisch wirkt, während sein Hauptaugenmerk auf dem Gefühls- und Beziehungsleben der Heldin läge.

Es heißt ja, die Form des Romans eigne sich besser, um subjektive Wahrnehmung zu schildern, als dazu Ideen oder abstrakte Argumente zu vermitteln. Doch geradezu heroisch wirft McEwan diese Regel über Bord. Eine Abfolge besonderer Fälle aus dem Familienrecht, mit all ihren faszinierenden Einzelheiten, juristischen Grundlagen und mit den großen Fragen, die sie aufwerfen, durchzieht den Roman als fester Bestandteil von Fionas Denken. Es gibt auch noch andere Exkurse, etwa zu Salzwiesen als Schutz gegen Überschwemmungen an der Küste, zur apokalyptischen Zukunftsvision eines Geologen oder zu Justizirrtümern.

Diese Entschlossenheit, die Handlung mit komplexen Themen und Argumenten anzureichern, sei gelobt, denn es gibt viel zu wenig Gegenwartsliteratur, die Arbeit, auch Gedankenarbeit, ernst nimmt. Allerdings lassen die Exkurse den Erzählfluss in Kindeswohl immer wieder stocken, und zugleich wird Fionas Privatleben nie so interessant wie ihre juristischen Dilemmata.

Erwartungsgemäß platzt in ihre Ehekrise eine besondere berufliche Herausforderung hinein: Fiona muss eine Notfallanordnung aussprechen, weil ein 17-jähriger Zeuge Jehovas eine lebensrettende Bluttransfusion verweigert. Als sie den Jungen im Krankenhaus besucht, ist sie hingerissen von seiner Schönheit und seinem Talent. Der Junge schreibt Lyrik im Geist William Blakes und spielt ihr auf der Geige vor – sie singt dazu. Diese Szene am Krankenhausbett wirkt eher wie ein Tableau oder eine Allegorie als wie echtes Leben, auch der Junge ist mehr Symbol- als Romanfigur: „Vor allem strahlte er Unschuld aus, eine frische, reizbare Unschuld, eine kindliche Offenheit.“

Fiona Mayes Urteil wird uns über mehrere Seiten hin präsentiert: „Diese Entscheidung war nicht leicht zu treffen. Ich habe A.s Alter im gebotenen Maß in die Gewichtung einbezogen, ebenso die Rücksicht auf seinen Glauben und die Menschenwürde, die sich auch auf das Recht erstreckt, eine Behandlung zu verweigern.“

Und ihr Urteil hat Folgen, die sie in Verwirrung und Selbstzweifel stürzen. Die bisher strikte Trennung zwischen ihrem privaten Ich und ihrer öffentlichen Funktion als Instrument eines unparteiischen Rechtssystems wird brüchig.

Ein praller Romanstoff, sollte man meinen. Das Problem ist aber, dass McEwans Prosa Fionas Erlebnisse weniger nachzeichnet, sondern unbeeindruckt zusammenfasst. Als Ehemann Jack von seinem gescheiterten Abenteuer zurückkehrt, heißt es lapidar, sobald er die Wohnung der anderen Frau betreten habe, hätte er sich „blödsinnig verpflichtet gefühlt, fortzufahren mit dem, was er begonnen hatte.“ – „Und je mehr ich mich in die Enge getrieben sah, desto klarer wurde mir, was für ein Idiot ich war, all das aufs Spiel zu setzen, was wir haben, was wir uns geschaffen haben, diese Liebe, die –“

An dieser Stelle bricht Jack zum Glück ab, oder Fiona hört ihm nicht weiter zu. Seine Worte sind so armselig und unzureichend wie unsere Formulierungen häufig in Wirklichkeit. Und wir erwarten, dass der Romancier den Rest besorgt, dass er uns all das erzählt, was die Protagonisten selbst nicht sagen können – über ihr Älterwerden, ihr schales Intimleben, ihre Kinderlosigkeit, ihre dennoch anhaltende Liebe zueinander –; und davon, wie sich verletzliche Privatperson und öffentliche Machtfunktion in die Quere kommen.

Was wir wollen, sind „seltsame Unterscheidungen, unerwartete Widerlegungen, intime Halbwahrheiten, exotische Anschuldigungen, … feinkörnige Eigentümlichkeiten von Lebensverhältnissen“; doch die bekommen wir nicht. Stellenweise, wenn die Ehepartner „einander angespannt umschleichen“, gewinnen die Schilderungen an Schärfe, aber zumeist sind sie so nüchtern, als schriebe Fiona selbst das Buch: „Dann wurde ihr klar, wie sich Jacks Rückkehr für sie anfühlte. Ganz einfach. Sie war enttäuscht, dass er nicht fortgeblieben war. Nicht einmal ein bisschen länger. Das war alles. Enttäuschung.“

Rasseln und Rumpeln

Wie gewohnt fährt McEwan dann schweres Geschütz auf, um den moralischen Höhepunkt seiner Geschichte zu inszenieren. Es rasselt und rumpelt in den Kulissen, und hinter dem Vorhang werden die Aufbauten in Position geschoben. Der Eindruck von Realismus weicht dabei mehr und mehr dem Gefühl, sich im Räderwerk einer Parabel zu befinden. Doch zumindest wird uns diesmal, anders als in Abbitte oder Honig, nicht im letzten Moment der narrative Teppich unter den Füßen weggezaubert. Die Schlussabsätze des Romans sind zärtlich und ernsthaft. Das große Finale lässt sich diesmal besser ertragen als in Saturday, wo der gottgleiche Arzt seinen brutalen Gegner mithilfe von Lyrik besiegte und ihm dann noch das Leben rettete. In Kindeswohl wird zwar ebenfalls wieder die Macht der Poesie und der Musik beschworen, aber subtiler: Anstatt das Vertrauen der Richterin in die eigene Autorität zu stärken, scheint sie es im Lauf der Handlung zu überschatten.

Kindeswohl Ian McEwan Diogenes 2015, 224 S., 21,90 €

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Geschrieben von

Tessa Hadley | The Guardian

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