China Die Volksrepublik hat eine Reihe maßgeblicher Reformen annonciert, die dutzende Millionen betreffen werden – so soll unter anderem die Ein-Kind-Politik gelockert werden
Die chinesischen Staatsmedien kündigten die Reformen am Freitagabend mit einem 22.000 Wörter umfassenden Bericht an, der die Ergebnisse des dritten Plenums ausführte. Bei den jährlichen „Plenums“-Sitzungen kommen rund vierhundert Spitzenkader der chinesischen KP zusammen. Sie werden traditionell genutzt, um wichtige Reformen anzustoßen. Die Plenen in den Jahren 1978 und 1993 legten die Grundlagen für das gegenwärtige chinesische Wirtschaftsmodell, einer Kombination aus Marktkapitalismus und strikter politischer Kontrolle.
Paare, in denen ein Partner keine Geschwister hat, sollen künftig zwei Kinder bekommen dürfen, berichtete die staatliche chinesische Nachrichtenagentur Xinhua unter Berufung auf die Ergebnisse des Plenums, das am Die
des Plenums, das am Dienstag endete. Bislang dürfen die meisten Chinesen nur ein Kind bekommen. Für einige Bevölkerungsgruppen – ethnische Minderheiten etwa, Menschen mit Behinderungen oder Paare, in denen beide Einzelkinder sind – bestehen allerdings Ausnahmeregelungen. Sie dürfen schon jetzt zwei Kinder haben.Dem Dokument zufolge plant die Kommunistische Partei auch, das außergerichtliche Haftsystem der „Umerziehung durch Arbeit“ abzuschaffen. Außerdem soll die Sozialfürsorge verbessert werden. Angekündigt ist zudem die Lockerung der Migrationsbeschränkungen für die Millionen Einwohner ländlicher Gegenden, die in die Städte gehen möchten. Genaueres zu den Reformen oder Zeitplänen für ihre Umsetzung ist noch nicht bekannt.Das System der Umerziehung durch Arbeit führte die Partei im Jahr 1957 ein. Damals befand sich der maoistische Eifer auf dem Höhepunkt, „Konterrevolutionäre“ zweckdienlich loszuwerden. In jüngerer Zeit wurde es eher von kommunalen Behörden benutzt, um die Straßen von Kleinkriminellen wie Dieben oder Prostituierten zu befreien, ohne ein ordentliches Gerichtsverfahren bemühen zu müssen. Doch auch politische Dissidenten und die Mitglieder verbotener religiöser Gemeinschaften geraten häufig ins Visier.Die „Umerziehungs“-Haft kann bis zu vier Jahre dauern, die Zustände in den Gefängnissen werden oft als brutal beschrieben: die Gefangenen werden in winzigen Zellen zusammengepfercht, nicht ausreichend mit Nahrungsmitteln versorgt und manchmal sogar gefoltert. Offizielle Zahlen gibt es zwar nicht, Menschenrechtsgruppen zufolge könnten aber zwischen zweihunderttausend und einer Millionen Menschen in solchen Lagern inhaftiert sein.Der Schritt sei positiv zu bewerten, meint Nicholas Bequelin, der in Hong Kong für Human Rights Watch arbeitet: „Weil das 'Umerziehung-durch-Arbeit'-System so eng mit politischer Verfolgung verknüpft war, weil die Zustände in den Lagern so entsetzlich sind und weil seit Jahrzehnten Druck auf China ausgeübt wird, das System abzuschaffen.“ Bequelin äußert aber auch Vorbehalte: „Wir wissen nicht, ob China beabsichtigt, eine neues System der Administrativhaft – des Freiheitsentzugs ohne Prozess - zu schaffen.“Darüber hinaus enthält der Bericht das Versprechen, die Reform des Hukou-Systems zu „beschleunigen“. Diese bürokratische Fessel hindert hunderte Millionen Arbeitsmigranten daran, ihre ländlichen Heimatorte zu verlassen. "Das Land wird den Umzug von Bauern in kleine Städte weniger stark kontrollieren und die Beschränkungen bezüglich der ordnungsgemäßen Umsiedlung in mittelgroße Städte lockern“, meldete Xinhua.Die kontroverse Ein-Kind-Politik, die 1979 eingeführt wurde, um das Bevölkerungswachstum im Zaum zu halten, wurde von Kritikern immer wieder als überholt und grausam bezeichnet. In den Städten hat sie zu einer demographischen Krise geführt. Einzelkinder der zweiten Generation stehen nun vor der Herausforderung, zwei Eltern und vier Großeltern zu versorgen. In ländlichen Gegenden war ein Anstieg der geschlechterselektiven Abtreibungen die Folge, da viele Familien auf dem Land Jungen gegenüber Mädchen vorziehen. Im Zuge der extremen Maßnahmen, zu denen die Familienplanungsbehörden zuweilen greifen, um die Geburtenrate niedrig zu halten, kam es sogar zu Menschenrechtsverletzungen wie Entführungen, erzwungenen Abtreibungen und außergerichtlichen Festnahmen.Steve Tsang ist Professor für Moderne Chinastudien an der Universität Nottingham. Er meint, der Regierung gehe es bei diesem Schritt vor allem um wirtschaftliche Aspekte. Das lasse sich daran erkennen, dass sie nicht bereit sei, die Ein-Kind-Politik vollends abzuschaffen. „Bislang wurde das chinesische Wirtschaftswachstum von einem demographischen Überschuss angetrieben. Inzwischen aber gibt es ein demographisches Defizit“, erläutert er. „Gegen die Menschenrechtsverstöße kann man nur etwas tun, indem man das System ganz abschafft.“Die 33jährige Hu Hongling stammt vom Land, aus der Provinz Anhui. Sie lebt aber mit ihrem Mann in Peking: „Ich finde, dass sind gute Neuigkeiten“, sagt sie. „Ein Kind allein ist zu einsam. Ich habe einen Bruder und war glücklich als Kind, auch wenn meine Familie arm war. Mein Mann hingegen ist Einzelkind. Er fühlt sich manchmal einsam. Er tut sich schwer, Freundschaften zu schließen.“Zu einer Explosion der Bevölkerungszahl wird die Lockerung der Geburtenkontrolle allerdings wohl kaum führen. Viele Städter ächzen bereits unter den rasant steigenden Preisen für Ausbildung und Wohnen. Mehrere Kinder zu haben gilt ihnen als Privileg der Reichen. Der 39jährige Zhang Xin aus Peking etwa arbeitet in der Medienbranche und könnte nun ein zweites Kind bekommen. Er selbst ist Einzelkind, seine Frau stammt aus einer Familie mit mehreren Kindern. Die beiden haben bereits einen siebenjährigen Sohn. Dennoch mache die neue Politik keinen großen Unterschied für ihn, sagt er: „Ich glaube nicht, dass wir uns zeitlich und finanziell noch ein Kind leisten könnten“.Der Plenumsbericht enthält auch die Ankündigung einer Reihe weniger dramatischer Reformen. So sollen Möglichkeiten zur Schaffung eines Gerichts zum Schutz geistigen Eigentums sondiert werden. Zudem will man die Zahl der Straftaten, auf die die Todesstrafe ausgesetzt ist, reduzieren und „ein neutraleres, nachhaltigeres System der sozialen Absicherung aufbauen, das eine verbesserte Wohnungsgarantie enthält.“Der Bericht enthält aber auch Widersprüchliches. Die Politiker versprechen zwar einen „unabhängigen, gerechten Einsatz gerichtlicher Instanzen“ und die Hochhaltung der Verfassung, die unter anderem Versammlungs- und Redefreiheit verspricht. Sie kündigten aber auch an, „die Lenkung der öffentlichen Meinung zu verstärken und entschlossen gegen Internetverbrechen vorzugehen“. Dies lässt darauf schließen, dass die Zensur in Medien und im Internet beibehalten werden wird."Wir wissen, dass die Rechtsstaatlichkeit im chinesischen Sprachgebrauch immer stärker präsent ist. Sie berührt auch Dinge wie die Internationalisierung, die China als wichtig erachtet“, erklärt Rana Mitter, Chinastudienprofessor von der Universität Oxford. "Wenn man in Bereichen wie dem Strafrecht echten Fortschritt vorweisen kann, verschafft einem das auch mehr Glaubwürdigkeit auf anderen Gebieten – etwa dem internationalen Finanzwesen.“Weiter meint Mitter: „Die Partei macht einmal mehr klar, dass sie ihren Machtanspruch keineswegs lösen wird. Eine größere Liberalisierung oder Pluralisierung der Politik kündigt sich hier nicht an.“
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