Lobbyisten einer anderen Welt

Lateinamerika Abstimmungen in Venezuela und Brasilien: Linke ­Politiker hoffen auf ein ­erneu­tes Mandat für den Sozia­lismus des 21. Jahrhunderts

In Europa und Nordamerika wird oft trivialisiert, was in Lateinamerika geschieht. Doch der Wandel dieses Erdteils zählt zusammen mit dem Aufstieg Chinas, dem Kollaps der Finanzmärkte 2008 und den Schranken, die sich die USA mit dem „Krieg gegen den Terror“ selbst auferlegt haben, zu einer neuen Weltordnung. Von Ecuador bis Brasilien, von Bolivien bis Argentinien, haben sich gewählte Volksvertreter vom IWF abgewandt, ihre Rohstoffe den Konzernen entzogen und unabhängige Allianzen zuwege gebracht.

Oliver Stones neuer Film South of the Border macht sowohl das Ausmaß der Transformation als auch deren verfälschende Wiedergabe in den westlichen Medien unmissverständlich klar. Der Regisseur lässt sechs Staatschefs aus diesem neuen Kosmos zu Wort kommen. Am bemerkenswertesten wirkt deren gegenseitiger Beistand – von Argentiniens Cristina Kirchner bis hin zu dem wesentlich weiter links stehenden Evo Morales in La Paz.

Zwei entscheidende Voten stellen die Zukunft dieses Prozesses auf die Probe, zunächst das Parlamentsvotum am 26. September in Venezuela, wo Hugo Chávez seit seiner ersten Wahl zum Präsidenten 1999 mit seiner Bolivarischen Revolution der Vorreiter einer lateinamerikanischen Perestroika wurde. Trotz der großen Popularität in seiner Heimat haben die USA, die EU und die von den Eliten kontrollierten Medien Südamerikas, Chávez zur Zielscheibe einer Verleumdungs- und Hohnkampagne gemacht. Mit seiner hyper-dynamischen Rhetorik hat das weit weniger zu tun als mit der Effizienz und Energie, mit der er dank Venezuelas Ölreichtum die Macht der USA herausfordert.

Seit 1999 wurde die Armutsrate des Landes halbiert, der Sozialetat verdreifacht, die Gesundheitsvorsorge rapide ausgebaut, die Basisdemokratie gefördert. Seit Jahresbeginn aber wittern Chávez’ Feinde Revanche und Blut. Die Regierung hat mit ihren Reformen angesichts Dürre bedingter Stromausfälle an Fahrt verloren, sie hat es – anders als Evo Morales in Bolivien – versäumt, das Land mit einem Konjunkturpaket heil durch die Rezession zu bringen. Auch wächst das Unbehagen über die hohe Rate schwerer Gewaltverbrechen.

Lulas Abgang

Hugo Chávez wird gern unterstellt, ein Diktator zu sein, dessen ohnmächtigem Regime Stillstand droht. Tatsächlich hat er mehr freie Wahlen gewonnen als jeder große Staatschef dieser Welt. Die Probleme seiner Regierung haben weniger etwas mit Autokratie als mit institutioneller Schwäche zu tun.

Sollte Chávez’ Vereinigte Sozialistische Partei (PSUV) am 26. September verlieren, würde das seine Wiederwahl 2012 gefährden und das Land radikalisieren. Doch erscheint dies immer unwahrscheinlicher, denn die Wirtschaft holt auf, es gibt eine Nationalpolizei, und – das Wichtigste – Chávez ist es Mitte August gelungen, einen drohenden kriegerischen Konflikt mit Kolumbien durch ein regional ausgehandeltes Agreement mit der pro-amerikanischen Regierung in Bogotá zu entschärfen.

Entscheidender sind die für Oktober anberaumten Präsidentenwahlen in Brasilien. Dass die Regionalmacht unter Lula da Silvas Führung ökonomisch zu einer treibenden Kraft wurde, hat den Wandel in Lateinamerika beschleunigt. Der Präsident aus der sozialdemokratischen Arbeiterpartei (PT) mag weniger radikal sein als Chávez oder Morales, doch er hat enormes Geld in den Kampf gegen die Armut fließen lassen und sehr viel für die Unabhängigkeit des Kontinents getan. Da eine dritte Amtszeit ausgeschlossen ist, wirbt er mit seiner Popularität für die bisherige Stabschefin Dilma Roussef, die der Bolivarischen Revolution in Venezuela aufgeschlossener gegenübersteht. Da die ökonomische Akte der Wirtschaftswissenschaftlerin keine Angriffspunkte bietet, ist José Serra – ihr schärfster Rivale aus dem rechten Lager – darauf verfallen, eine Kampagne gegen Chávez und Morales zu fahren. Er kritisiert Lula dafür, die beiden zu unterstützen. Serra moniert, die nach dem Putsch in Honduras gewählte Regierung von Porfirio Lobo sei durch Brasilien noch immer nicht anerkannt. Vor allem habe man es mit einem Sakrileg zu tun, wenn Lula zwischen Iran und den USA vermitteln wolle. Bisher bleibt diese Taktik freilich den Erfolg schuldig. Roussef hängt Serra in den Umfragen ab.

Clintons Lösungen

Sollten die Abstimmungen in Venezuela und Brasilien erneut von den Linken gewonnen werden, könnten die USA und ihre Freunde in Versuchung geraten, nach anderen Wegen zu suchen, um Lateinamerika vom Pfad der Selbstbestimmung zu drängen, den es wählte, während George W. Bush damit beschäftigt war, seine Feinde in der muslimischen Welt zu bekämpfen. Auch wenn Barack Obama versprochen hat „ein neues Kapitel des Dialogs anzustreben“ und warnt, es gäbe einen „fürchterlichen Präzedenzfall“, sollte der blutige Putsch gegen den honduranischen Reformpräsidenten Manuel Zelaya Bestand haben, wirkt da vieles wie Camouflage. In Wirklichkeit wurde zugelassen, dass die Putschisten in Tegucigalpa politisch überlebten, so dass – um es mit den Worten Hillary Clintons zu sagen – die „Krise gemanagt wurde und alles zu einer erfolgreichen Lösung kam“.

Die Botschaft lautete: Die radikale Welle kann gedreht werden! Es ist zu befürchten, dass bald in einem anderen der schwächeren Länder – in Paraguay oder Guatemala – eine ähnlich „erfolgreiche Lösung gemanagt“ werden könnte. Die USA versuchen sowieso, ihre militärische Präsenz in Lateinamerika voranzutreiben. Unter dem Vorwand der „Aufstandsbekämpfung“ haben sie Truppen an sieben Stützpunkten in Kolumbien stationiert.

Direkte Interventionen werden deshalb in absehbarer Zukunft nicht wahrscheinlicher. Sollte es den Parteien und sozialen Bewegungen, die den Wandel des Kontinents bewirkt haben, gelingen, ihren Schwung zu erhalten, werden sie neue Formen sozialistischer Politik begründen, die in der modernen Ära für unmöglich erklärt wurden. Zwei Jahrzehnte, nachdem uns gesagt wurde, es gebe keine Alternativen mehr, wird eine andere Welt erschaffen.

Seumas Milne ist Kolumnist des Guardian

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Übersetzung: Christine Käppeler
Geschrieben von

Seumas Milne | The Guardian

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