Waleed Shamad erreichte die Nachricht von der letzen Selbstverbrennung in der bourse, einem dichten Gewirr von Shisha-Cafés unter freiem Himmel, die sich in den dunklen Gassen rund um die alte Kairoer Börse ducken. Ein arbeitsloser Mann hatte sich auf einer belebten Straße angezündet – es war der zwölfte in der vergangenen Woche. Laut den TV-Nachrichten war der 35-jährige in der Hoffnung auf Arbeit in die Hauptstadt gekommen. Er wollte Geld verdienen, um ein Haus zu kaufen und heiraten zu können. Doch die Arbeitslosigkeit trieb ihn in die Verzweiflung.
„Diese Beschreibung könnte auf jeden von uns zutreffen“, sagt Shamad und zieht seinen Schal enger, um sich vor der Kälte zu schützen. „Diese menschlichen Feuer entbrennen so schnell, dass man kaum den Überblick behält.“ Kairo ist eine Stadt, die für sonnige Tage und laue Nächte gebaut ist. Kommt der Winter, kann der Wind mit grimmiger Schärfe peitschen. Das hält Shamad und seine Freunde jedoch nicht davon ab, sich am Abend auf dem Bürgersteig auf einen Tee zu treffen und die jüngsten Ereignisse zu erörtern: die Demos vom Dienstag, auf denen die Ägypter so zahlreich und selbstbewusst wie nie zuvor das Ende von Hosni Mubaraks Präsidentschaft forderten – und wo in den anschließenden Krawallen drei Menschen starben. Oder die Freitagspredigten, in denen es nun oft um die Ablehnung des Selbstmords durch den Islam geht. Oder dass die Regierung ein Verkaufsverbot für Benzinflaschen verhängt hat. Und natürlich über das Neueste aus Tunis, das die Männer seit Tagen an den TV-Sender Al Jazeera fesselt.
„Wir haben unseren Augen nicht getraut“, sagt Shamad. „Wenn man sieht, wie ein Bruder einen schweren Kampf gewinnt, gibt das Hoffnung. Hoffnung für sich selbst und Hoffnung für sein Land.“ Wie zwei Drittel der ägyptischen Bevölkerung hat Shamad sein ganzes Leben unter der Präsidentschaft Hosni Mubaraks verbracht. Mubarak ist ein Verbündeter des Westens, seine Herrschaft währt nunmehr drei Jahrzehnte. Erst seit den Protesten am Dienstag scheint sie ein klein wenig zu wackeln.
Mit seinen 27 Jahren ist der Akademiker Shamad, der sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser hält und noch bei seinen Eltern lebt, Teil einer demographischen Gruppe, die 90 Prozent der Arbeitslosen des Landes umfasst und deren Frust Ägypten nach Meinung von einigen Analysten in eine eigene Intifada stürzen könnte – mit ungewissen Folgen für den übrigen Nahen Osten. „Keine reguläre Arbeit zu haben, wirkt sich auf jeden Bereich deines Lebens aus – praktisch wie psychologisch. Fast alle Altersgenossen, die ich kenne, sind noch nicht verheiratet und abhängig von ihren Familien – da erscheint einem das Leben schon manchmal aussichtslos.“
Erlernte Angst
Der UN-Entwicklungsbericht stellte im vergangenen Jahr fest, viele junge Ägypter seien in Warteschleifen gefangen und sehnten sich danach, dass ihr Leben endlich beginne. „Es ist ja nicht so, dass wir einfach passiv rumsitzen und die Situation akzeptieren wollen“, sagt Shamad. „Doch bisher zog es unsere Generation vor, dem Staat aus dem Weg zu gehen, anstatt ihm entgegenzutreten. Wir bekommen von Geburt an beigebracht, Angst vor der Polizei zu haben. Sie wissen, wie sie dich und die, die du liebst, verletzen können.“
Doch viele junge Städter haben genug von den offiziellen Politikforen, wo seit der jüngsten – offenkundig manipulierten – Parlamentswahl selbst die zahmsten Oppositionsparteien ausgeschlossen sind und die Nationaldemokratische Partei (NDP) 93 Prozent der Stimmen für sich reklamierte. Stattdessen suchen sich die Jungen lieber Freiräume, in denen abweichende Meinungen geäußert werden können.
„In Blogs und sozialen Medien hat es einen sprunghaften Anstieg politischer Aktivitäten gegeben“, sagt Amr Hamzawy, Forschungsleiter des Carnegie Middle East Centre in Beirut. Obwohl am Dienstag während der Proteste Twitter und Teile der Mobilfunknetze lahmgelegt wurden, griff diese Dynamik auf die Straßen über – auch wenn dort Mubaraks allgegenwärtiger Sicherheitsapparat die Kontrolle behielt.
Einer Gruppe, der es schon zuvor gelungen war, vom Staat einst kontrollierte Bereiche dauerhaft zu besetzen, ist die ägyptische Arbeiterschaft. Sie erkämpfte vom Regime eine Reihe von Zugeständnissen. „Das fürchtet das Regime am meisten,“ sagt Gamila Ismail, eine regimekritische Politikern, die sich bei den Wahlen erfolglos gegen die NDP aufstellen ließ. „Die Regierung versucht zu verhindern, dass die jungen Online-Aktivisten mit ihren politischen Forderungen auch noch die Arbeiter inspirieren, die sich für einen besseren Lebensstandard einsetzen. Wenn die Jugendlichen in Kairo und Alexandria sich mit den Aktivisten in Malhalla zusammentun, weiß die Regierung, dass sie Ärger hat.“ 60 Meilen nördlich der Hauptstadt ist die Textilstadt El Mahalla el-Kubra zur militanten Speerspitze einer Welle von Streiks und Sitzblockaden geworden, die Ägypten in den vergangenen fünf Jahren überrollt hat. Im April 2008 wurden nach der Arbeitsniederlegung in einer Fabrik drei Menschen von der Polizei erschossen.
Wandel von unten
Die Straße nach Malhalla führt durch Kairos Vororte, die sich ungeordnet in das Nildelta und die Wüste erstrecken – hier blicken die hohen Wände schnell wachsender Gated Communities für Reiche auf die Anhäufungen von Ashwa’iyats herab, Slums aus rotem Backstein, in denen inzwischen 60 Prozent der Kairoer leben. Hier kann man sehen, für was die Regierung Mubarak steht: für eine kolossale Inbesitznahme von Land und Kapital durch die politische und ökonomische Elite des Landes.
In der Nähe des Marktplatzes von Mahalla befestigt eine Gruppe junger Leute sorgfältig tunesische Flaggen an hölzernen Masten. Andere basteln Plakate, die Ägyptens Solidarität mit Tunesien erklären und die Korruption, Polizeifolter und Armut anprangern. Die Aktivisten erhalten amüsierte aber insgesamt positive Reaktionen. „Ich bin noch nie bei so was dabei gewesen, obwohl ein Freund meines Bruders im April 2008 von der Polizei angegriffen wurde“, sagte ein 26-jähriger Motorradfahrer. „Die Zustände haben sich massiv verschlechtert. Wahrscheinlich können wir die Dinge nur verbessern, wenn wir die großen Fische an der Spitze austauschen.“
Nicht jeder teilt diese Meinung. Noch einmal 70 Meilen weiter nordwestlich in einem mit Holz getäfelten Café in Alexandria mit Blick auf das Mittelmeer schüttelt Hossam al-Wakeel wütend den Kopf. Er gehört zur islamistischen Muslimbruderschaft, der vorgeworfen wird, sie habe die Anti-Mubarak-Bewegung verraten, weil sie am nationalen „Revolutionstag“ am Dienstag nicht teilnahm. Die Muslimbrüder sind die einzige Oppositionsbewegung, die hunderttausende auf die Straßen bringen könnte, dies aber nach wie vor nicht tut.
„Ich glaube nicht, dass Demonstrationen wie die vom Dienstag Mubarak zu Fall bringen werden“, so der 23 Jahre alte Mann. „Die Muslimbruderschaft glaubt, dass der Wandel von unten kommen muss und dass die Gesellschaft als Teil eines schrittweisen Prozesses Schicht um Schicht neu aufgebaut werden muss. Nicht durch eine Revolution, die von oben her eine neue Führung einsetzt“, erklärt der Mann.
Seine Vorstellung, wie der Wandel in Ägypten sich vollziehen sollte, ist weit entfernt von derjenigen der Aktivisten mit den tunesischen Flaggen in Malhalla. Dennoch eint sie, dass sie das Regime Mubaraks herausfordern. Die jungen Slumbewohner und ihre Nachbarn in den Gated Communities wären sicher schon mit einem wie auch immer gearteten Reformprozess zufrieden. Sollte sich aber ein Funke entzünden und die Massen weiterhin auf die Straßen gehen, würden die meisten aber ohne Zweifel auch weiter auf die Straße gehen. Und dann könnte womöglich die wütende Jugend bald wirklich die Richtung vorgeben.
Jack Shenker berichtet derzeit für den Guardian aus Kairo.
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