McChrystals Einkaufsliste

Afghanistan Die Europäer, nicht die USA sollen Soldaten für die Verstärkung der in Afghanistan stationierten Truppen stellen, heißt es im Brüsseler NATO-Hauptquartier

Es ist damit zu rechnen, dass Stanley McChrystal, der US-Oberkommandierende in Afghanistan, demnächst über die 100.000 im Einsatz befindlichen NATO-Soldaten hinaus eine förmliche Anfrage stellt. Sie dürfte den europäischen NATO-Partnern gelten, um in Erfahrung zu bringen, welche Kapazitäten vorhanden sind, das jeweilige nationale ISAF-Kontingent aufzustocken. Wie ein ranghoher NATO-Mitarbeiter zu verstehen gab, soll damit gewartet werden, bis nach den umstrittenen Wahlen vom 20. August eine klare politische Einigung getroffen ist. Wenn es zu dieser Anforderung kommen sollte, werden die USA ins Feld führen, dass sie in diesem Jahr bereits 21.000 Soldaten mehr geschickt haben und auch im Irak immer noch massiv präsent sind.

Nach der Bundestagswahl

Da die Amerikaner bereits zwei Drittel aller NATO-Kräfte am Hindukusch stellen, werden die europäischen Verbündeten unter Druck stehen, sich mehr zu engagieren. „Die Deutschen haben noch Kapazitäten, ebenso die Franzosen, Italiener sowie das Vereinigte Königreich“, sagt eine NATO-Quelle. Die Amerikaner wären nur in der Lage, noch wesentlich mehr Truppen zu entsenden, wenn sie ihr Korps im Irak zurückfahren. Frankreich, Deutschland und Italien hätten dagegen Tausende von Soldaten zur Verfügung, sollten sie ihre Missionen im Libanon und im Kosovo reduzieren. Paris hat sowohl bei der United Nations Interim Force in Lebanon (UNIFIL) als auch bei der KFOR-Mission je 2.000 Soldaten im Einsatz – Italien bei UNIFIL etwa 2.500 und noch einmal 2.000 im Kosovo. Der NATO-Offizielle schätzt, dass auch die Briten über freie Kapazitäten in einer ähnlichen Größenordnung verfügen. Der Druck dürfte sich zusätzlich erhöhen, sollte Kanada seine Ankündigung wahr machen, seine 2.800 Soldaten im Laufe der kommenden 18 Monate aus der Provinz Kandahar abzuziehen. Was Deutschland betrifft, so wird die Zukunft seiner 4.000 Soldaten im Norden vom Ergebnis der Bundestagswahl abhängen. Aus Madrid hieß es, Spanien könne seine 1.200 Mann um 200 weitere aufstocken.

Weder frei noch fair

McChrystal hat der NATO eine strategische Einschätzung vorgelegt. Es wird erwartet, dass er zu diesem Bericht eine „Einkaufsliste“ für mehr Truppen nachreicht. Europäischen Quellen zufolge sei die Obama-Administration allerdings nicht gerade glücklich gewesen, dass der General mit Aussagen zitiert wird, wie er den Bedarf an Tausenden Soldaten decken will, bevor die 21.000 zusätzlichen US-Soldaten überhaupt vollständig eingetroffen sind. 6.000 werden in Afghanistan noch erwartet, und McChrystal wurde angewiesen, bis auf weiteres von formalen Truppenanforderungen abzusehen.

„Die Amerikaner müssen an den Kongress denken und dürfen im Augenblick nicht über die Entsendung weiterer Truppen sprechen. Lassen Sie uns abwarten und sehen, was bei den afghanischen Wahlen herauskommt“, meint ein europäischer NATO-Diplomat. Wenn überhaupt, erwarten nur noch wenige westliche Regierungen, dass es gelingt, in Afghanistan einen starken, einheitlichen und demokratischen Staat zu schaffen. Schon gar nicht nach der Präsidentschaftswahl, über deren Ergebnis in Kabul weiter gerungen wird. „Niemand ist je davon ausgegangen, dass diese Wahlen frei und fair sein würden“, sagte ein NATO-Mann. Stattdessen hätten die westlichen Regierungen es nun mit einer „dezentralisierten Stammesgesellschaft zu tun, die zu großen Teilen von Leuten geführt wird, die uns kaum sympathisch sein dürften, die es aber al-Qaida nicht erlauben werden, Leute auszubilden und Mordanschläge auf Amerikaner, Deutsche oder Briten zu planen.“
Übersetzung: Holger Hutt

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Geschrieben von

Julian Borger, The Guardian | The Guardian

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