Als er nach Hause kommt, sieht Mark Johnson (Name wie auch alle folgenden geändert) seine Post durch. Zwischen den üblichen Rechnungen erregt ein kleiner gefütterter Umschlag sein Interesse. Er hofft, dass sich in ihm zwei Gramm relativ reines MDMA befinden.
Johnson hat keine Ahnung, wer ihm den Brief geschickt hat. Er hat seinen Dealer nie getroffen und wird das auch in Zukunft nicht. Er hat den Stoff über die Seite Silk Road bestellt – einer Art Untergrund-Ebay, die zum Hauptvertriebsplatz von Drogen im Internet geworden ist. Obwohl die Strafverfolgungsbehörden sich völlig darüber im Klaren sind, was auf dem Portal passiert, zeigen sie sich bislang außer Stande, die Seite vom Netz zu nehmen.
Auch wenn die Seite seit ihrer Gründung im Februar 2011 im Geheimen operiert, konnte doch herausgefunden werden, wie stark sie während der vergangenen sechs Monate gewachsen ist: Die Verkäufe verdoppelten sich und erreichten bis zu 1, 7 Millionen US-Dollar pro Monat.
Johnson, der in leitender Position beim Fernsehen arbeitet, sagt von sich selbst, er sei kein begeisterter Konsument, Drogen würden ihn lediglich interessieren. Auf Silk Road aufmerksam gemacht geworden sei er auf einer Party – „von einem Typen, wie man sie/ihn nur auf Partys trifft“. Johnson zufolge handelt es sich um eine Seite für Kenner, wo man auf einfachem Wege hochwertige Drogen erstehen kann. Sie sei zwar nicht übermäßig einfach zu bedienen, erfordere aber auch keine besondere Expertise: Wer einen Dauerauftrag einrichten oder ein Risotto-Rezept nachkochen kann, der findet sich auch auf der Seite zurecht.“
Wie bei Ebay
Wenn man erst einmal drin ist, funktioniert vieles wie bei Ebay: Die Reputation der Verkäufer wird durch Käufer-Bewertungen verifiziert. Das schafft Vertrauen. Das Geld wird bis zur Lieferung für gewöhnlich von einem Treuhänder aufbewahrt und wenn etwas fehlt, hat man einen Anspruch auf Entschädigung. Alles in allem sei die Qualität auf Dauer besser, der Handel sicherer und die Erfahrung insgesamt angenehmer, als wenn man versuche, einen Straßendealer zu finden. Johnson behauptet sogar, die Seite trage zur Suchtprävention bei: „Auf Silk Road sind einige äußerst gefährliche Substanzen mit hohem Suchtfaktor erhältlich, bei denen es nicht ratsam wäre, dass man sofort auf sie zugreifen kann. Dort ist man gezwungen, den Kauf nüchtern zu tätigen.“
Heute sind auf der Seite über 10.000 Posten aufgeführt. Bei 7.000 handelt es sich um Drogen, beim Rest um Erotik-Artikel, Bücher und falsche Identitäten. Waffen aller Art und Kinderpornografie sucht man hingegen vergebens. Beides ist verboten. (Eine Schwesterseite, die Waffen verkaufte, ging aufgrund mangelnder Nachfrage letztes Jahr vom Netz.) Dr. Nicolas Christin, der die Seite untersuchte, glaubt, dass Silk Road seit Juli 2012, als er seine Beobachtung der Seite einstellte, nochmals erheblich gewachsen ist. „Es wäre nicht damit getan, dass die Polizei ein paar Leute hinter Gitter bringt, damit die Sache ein Ende hat. Die Seite ist sehr dezentral aufgebaut: Wir zählen jeden Monat über 600 Verkäufer.“
Wie kann es sein, dass ein Marktplatz, auf dem Millionen umgesetzt werden, sich dem Arm des Gesetztes so lange entziehen kann? Wenn man die Nutzer fragt, liegt die Antwort hierauf in der Art, wie Silk Road aufgebaut ist. Die Behörden wissen, wo sie die Seite im Netz finden können. Schon kurz nachdem 2011 zum ersten Mal von ihr berichtet wurde, schwor der US-Senator Chuck Schumer bereits, er werde dafür sorgen, dass sie offline gehe. Er nannte es den „dreistesten Versuch, über das Netz Drogen zu verkaufen“, der ihm bislang begegnet sei.
Aufgrund von zweier technischer Innovationen, welche die Webseite so gut wie unangreifbar machen, musste sie noch nie abgeschaltet werden: Zum einen läuft Silk Road als Hidden Service auf Tor – ein beliebtes Tool zur Anonymisierung im Netz. Dadurch wird es nahezu unmöglich, die konkreten Standorte der Computer zu bestimmen, die den Marktplatz betreiben.
Da Tor auch rechtmäßig genutzt wird, ist es schwierig, den Anonymisierungsdienst abzuschalten. Da mit seiner Hilfe auch in Ländern wie China, Iran oder Syrien Zensur und staatliche Zugriffe umgangen werden können, stammt ein großer Teil der Spendengelder, aus denen sich Tor finanziert, aus dem Budget, das dem US-Außenministerium für die Freiheit im Internet zur Verfügung steht.
Staatenlose Online-Währung als Schlüssel
In seinem Paper spricht Dr. Christin die Möglichkeit an, dass die Behörden stattdessen versuchen könnten, Silk Road an einem anderen Punkt anzugreifen. Das Portal bedient sich nämlich auch der anonymen, staatenlosen und verschlüsselten Online-Währung Bitcoin. Bitcoins werden gegenwärtig von keiner Regierung, keinem Unternehmen und keiner Gruppe kontrolliert, sondern allein von der Mathematik: eine Reihe komplexer, kryptografischer Berechnungen entscheiden darüber, wie viele Bitcoins es gibt und wie viele gehandelt werden.
Silk Road macht wahrscheinlich den größten Gebrauch von der Währung, gefolgt von der unregulierten Glücksspielseite Satoshidice. Aber auch gewöhnlichere Dienstleister übernehmen die Währung: Die Blog-Plattform Wordpress akzeptiert sie ebenso wie die Social News-Site Reddit. WikiLeaks griff zu Bitcoin als die Seite von den traditionellen Banken boykottiert wurde.
Am Anfang war Bitcoin mit fünf Cent pro Münze nahezu wertlos. Heute wird eine Bitcoin mit 70 US-Dollar gehandelt und der Gesamtwert aller Bitcoins beläuft sich auf 800 Millionen Dollar. Das macht Bitcoin zur am schnellsten wachsenden Währung weltweit.
Obwohl ihre Erfindung mittlerweile so viel wert ist, findet man mehrere Schlüsselfiguren der Bitcoin-Community in einem besetzten Haus im Zentrum von London. Während er den Gang an einer Reihe von Konferenzräumen entlanggeht, die zu Wohnzimmern umfunktioniert wurden, weist Amir Taaki, der Bitcoin mitentwickelt hat, in der Bewegung aktiv ist und Konferenzen organisiert, die Bedenken von sich, die Nutzung durch Silk Road sein moralisch nicht zu vertreten.
„Die Leute wollen Drogen. Der Krieg gegen die Drogen dürfte gescheitert sein“, sagt er. „Ich will, dass die Kartelle verschwinden und die Leute sich ihre Drogen direkt bei den Produzenten kaufen können. Das ist das Coole an Dingen wie Silk Road – man kann Gangs aus dem Weg gehen.“
Für viele der Beteiligten sind Bitcoins weit mehr als nur ein praktischer Weg, um Drogen zu kaufen. Für sie stellen sie vielmehr eine Herausforderung des orthodoxen Zahlungsverkehrs dar: Hier fallen keine Wuchergebühren an; hier wird nicht jede Transaktion von Kreditkartenfirmen verfolgt oder sogar vom Staat überwacht. Es könnte eine gewisse Blase entstanden sein, weil Sparer, die ihr Geld zuvor in Zypern oder Spanien angelegt hatten, panisch nach einem Ort gesucht haben, wo sie ihr Geld anlegen können.
Für Mihai Alisie, Redakteur beim Bitcoin magazine, spielt das aber kaum eine Rolle. „Bitcoin wegen der Drogengeschäfte zu verbieten wäre, als würde man ein Dorf niederbrennen, um ein Schwein zu braten oder das ganze Internet lahmlegen, weil jemand etwas Pornografisches gepostet hat“, sagt er. „Ich denke, Bitcoin ist die nächste große Technologie, die unsere Gesellschaft revolutionieren wird. Es ist so groß wie das Internet – oder vielleicht sogar noch größer.“
Als wir das Interview beendet haben, klettern Taaki und Alisie auf das Dach des Bürogebäudes, in dem sie gegenwärtig wohnen. Taaki läuft an den Rand, sieht hinüber zu den Hochhäusern der Londoner City und streckt ihr seinen Mittelfinger entgegen.
Ein paar Kilometer entfernt steckt Mark Johnson sich sein MDMA in die Hintertasche und stellt sich darauf ein, seine jüngste Erwerbung am Wochenende zu testen.
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