Mehr als ein Gebäude

Lesekultur Vom Lesesaal zum Erlebnisraum: Der Wandel der Bibliotheken in Zeiten der Eventkultur. Oft genug siegt dabei Architektur über Substanz. Zum Beispiel in Großbritannien

Durch die Zeit zu reisen ist so einfach: vor ein paar Monaten kaufte ich in einem Süßwarengeschäft in Pateley Bridge ein Pfund Mintoes-Bonbons von der Marke Nuttalls und die Jahre fielen nur so von mir ab. Oder man hört ein bestimmtes Lied – es muss noch nicht mal eines sein, das man seinerzeit besonders mochte.

Und dann gibt es für mich noch diesen Ort, der in einer ganz eigenen Liga spielt, wenn es um die unmittelbare Evokation nostalgischer Gefühle geht: Die Broomhill Library in Sheffield, vor der ich an diesem regnerischen Tag stehe. Ich schaue über die Straße und wie durch Zauberei verspüre ich wieder dasselbe schmerzhafte Verlangen aus den Tagen, in denen ein Ausflug hierher für mich das größte vorstellbare Vergnügen bedeutete.

Als Bücher noch alles waren, wonach es mich verlangte, als sie mir wie reife Früchte vorkamen, die nur darauf warten, geschält und verschlungen zu werden. Ich habe nie aufgehört, dafür dankbar zu sein, dass dieser reichhaltige Genuss mir allzeit zur Verfügung stand als ich das Lesen für mich entdeckte.

Die kleine Stadtteilbibliothek befindet sich in einem schicken Teil der Stadt nahe der Universität: Ein hübsches – ich glaube edwardianisches – Haus, aus nordenglischem Sandstein, das vielleicht einmal einem aufwärtsstrebenden Stahlmagnaten gehörte. Es hat einen kleinen Vorgarten mit Rosenbüschen und einer Bank, auf der ich nie jemanden sitzen gesehen habe – so auch heute nicht. Zwischen zwei recht großen Säulen befindet sich die rote Eingangstür. In den fünfunddreißig Jahren, die ich das Haus nun kenne, hat es sich kaum verändert, kommt mir heute allerdings kleiner vor als in meiner Kindheit, in der ich es für ein Herrenhaus hielt, wie es besonders belesenen Gräfinnen geziemt.

Ein Stück von mir

Dies ist sicher auch der Grund dafür, dass nach einem halben Jahrhundert das Ende der 1957 vom Lord Mayor Alderman Albert Ballard eröffneten Broomhill Library in ihrer derzeitigen Erscheinungsform beschlossen wurde. Sie ist einfach zu altertümlich. In Kürze wird sie in ein neues Gebäude ziehen. Der Gedanke, dass die Broomhill Library bald nicht mehr hier sein wird, ist verwirrend. Mit ihr verschwindet ein Stückchen persönlicher Geographie und damit auch ein winziges Stückchen meiner selbst. Keine Bibliothek wird jemals so wunderbar sein wie diese. Nicht für mich.

Ich gehe hinein und fürchte mich ein wenig vor dem, was mich erwartet. Doch alles ist in Ordnung. Die Kinderbuchabteilung befindet sich immer noch in der oberen Etage – die Versuchung ist groß, meinen Po in einen der winzigen Plastikstühle zu quetschen, aber irgendwie schaffe ich es zu widerstehen –, die für Erwachsenenbücher noch immer im unteren Geschoss. Der Bestand ist nicht überragend, aber ich erspähe Bücher von Jane Gardam und Claire Messud, David Mitchell und, nun ja, Jordan, einen Roman des Starlets Katie Price. Beeindruckend ist, dass eine so kleine Bücherei einen Bereich eigens für Graphic Novels hat. Erst beim Hinausgehen bemerke ich den laminierten Aushang. „Unser Versprechen an Sie“, steht darauf, neben dem Gemeindelogo. Das weckt sofort meine Aufmerksamkeit.

Seltsamerweise wird in dieser Auflistung von Versprechen an die Büchereibesucher kein einziges Mal das Wort „Buch“ erwähnt – genau so wenig verwandte Wörter wie „Belletristik“, „Sachbuch“ oder „Autor“. Das erste Versprechen lautet, die Bücherei werde sauber, ordentlich und „familienfreundlich“ sein, das zweite, die Mitarbeiter seien „einfach zu erkennen“ sind und würden mich „fair“ behandeln und „nicht diskriminieren“ (Was? Noch nicht einmal, wenn ich nach Follyfoot-Romanen frage?).

Beim dritten Versprechen muss es doch soweit sein, denke ich: Jetzt sichern sie bestimmt Bücher zu und zwar viele. Aber nein. Sie garantieren bloß „vielfältige Materialien, die die Bedürfnisse aller erfüllen.“ Ich starre diese Liste einige Zeit mit schlackerndem Kiefer an. Dann gehe ich und fühle mich mächtig deprimiert.

In der Welt der Bibliotheken ist momentan einiges im Gange. Gutes, aber auch sehr viel Schlechtes. In Newcastle und Birmingham werden in Kürze umwerfend schicke neue Bibliotheken eröffnen, in Whitechapel und Brighton haben bereits umwerfend schicke neue Bibliotheken eröffnet. Es wird also Geld für Bauten ausgegeben. Ob aber auch welches für Bücher ausgegeben wird, die immerhin die Existenzberechtigung dieser Gebäude liefern, darauf werde ich später zurückkommen.

Derweil schließen die Türen anderer, kleiner, heißgeliebter Stadtteilbibliotheken. Seit 2003 sind in Großbritannien 82 Bibliotheken geschlossen worden – eine Zahl, die angesichts der veränderten finanziellen Großwetterlage drastisch steigen wird.

Das Erlebnis Bücherei

Als ich mir im Jahr 2006 erstmals Sorgen um unsere Bibliotheken machte, war die Staatsministerin für Kultur, Medien und Sport und damit die Person, die über gewisse gesetzlich festgelegte Befugnisse über die lokalen Büchereien verfügt, eine Frau namens Tessa Jowell. Ihr Minister hieß David Lammy. Jowell, die mit der Bewerbung Londons um die olympischen Spiele beschäftigt war, sagte wenig zu unseren Bibliotheken. Von Lammy kamen schwachsinnige Statements wie „Bücher spielen beim Erlebnis Bücherei eine zentrale Rolle“, worauf ich in einer Kolumne erwiderte „Der Tod spielt beim Erlebnis Krematorium eine zentrale Rolle.“

In den vergangenen zwei Wochen habe ich mit etlichen Briten gesprochen, die sich gegen die Schließung von Bibliotheken engagieren: leidenschaftliche Menschen voller Hingabe, die in jeder Hinsicht von ihren gewählten Vertretern in den Bezirksregierungen und im Parlament enttäuscht sind – und wirklich ist das Gesamtbild nicht wirklich erheiternd, besonders wenn man wie ich glaubt, dass Internetzugänge, Coffeeshops und Yogaunterricht zwar tolle Sachen sind, in Bibliotheken aber Bücher an erster Stelle stehen sollten.

Die Anteil der gesamten öffentlichen Mittel für Bibliotheken, der tatsächlich auf Bücher verwendet wird, beträgt nicht einmal acht, im inneren Londoner Stadtgebiet Londons sogar nur 5,7 Prozent. Resultat ist, dass viele Büchereien inzwischen nur noch einen extrem spärlichen Buchbestand beherbergen. In den Jahren 1996/7 standen im Vereinigten Königreich 92,3 Millionen Bücher zur Ausleihe zur Verfügung; 2007/08 sank diese Zahl auf 75,8 Millionen. Hieraus ergibt sich, dass weniger Leute sich Bücher ausleihen, was es den Gemeinden wiederum einfach macht zu behaupten, eine Bibliothek sei kaum besucht worden und könne getrost geschlossen werden.

„Viele Leute betrachten Büchereien als Gebäude,“ meint der ehemalige Bibliotheksdirektor Tim Coats, der heute leidenschaftlich über Bibliotheken bloggt: „Aber eine Bibliothek ist keine Gebäude, sondern eine Sammlung.“ Er hat den Eindruck, dass das man beim Kulturministerium und anderen Institutionen zunehmend bücherfeindlich sei, was in Anbetracht deren Besorgnis über die Literalität der Briten eigentlich verwunderlich ist.

Wenn neue Büchereien gebaut werden, ist das eine spannende Sache: Die vielen großen sexy Architektennamen, der viele Stahl, das viele Glas. Einige der neuen Büchereien sind zugegebenermaßen hervorragend: Für die neue Zentralbibliothek die im Juni in Newcastle eröffnen wird, wurden 200.000 neue Bücher angeschafft. Auf der anderen Seite aber gibt es den Fall der Brightoner Bibliothek, die vor drei Jahren mit Fanfarengetön eröffnet wurde.

Ein Container voller Bücher

Schon im Vorfeld waren die Zeichen nicht gut gewesen: Das britische Satiremagazin Private Eye berichtete, ein Bauarbeiter habe in der Nähe einen Container voller Bücher gefunden, die eingestampft werden sollten. Als die Bücherei dann eröffnete, wurde der Grund offensichtlich; entweder hatte niemand darauf geachtet, dass genug Regale für alle Bücher aufgestellt wurden oder das Geld war einfach ausgegangen.

Seither bemühen hartnäckigen Aktivisten sich, ihre „wertvollen lokalen Ressourcen“ wieder zu etwas machen, das an eine Bibliothek erinnert. Sie reichen Petitionen ein, hängen Plakate auf und gehen zu Gemeinderatssitzungen. Es übertrifft jede Satire, wenn der Autor und Aktivist Christopher Hawtree ankündigt: „Diese Woche werde ich wieder nachfragen, welche Fortschritte bei der Wiederbestückung der Brightoner Bibliothek mit Regalen gemacht wurden.“

Hawtree sagt, die Einwohner seien nicht nur frustriert, sondern fühlten sich auch bevormundet: „In einer Bibliothek sollte mehr zu finden sein, als in irgendeiner Bahnhofsbuchhandlung. Hier öffnet sich eine soziale Kluft zwischen denen, die sich die Bücher leisten können, die sie wollen, und denjenigen, die das nicht können.“

Doch es geht auch anders. Es gibt eine Alternative, einen Kompromiss zwischen den kleinen, heruntergekommenen viktorianischen Bibliotheken, die Leute wie unser Kulturminister als nicht mehr geeignet erachten, und den glänzenden neuen Gebäuden, bei denen Style und Design über die Substanz triumphieren. Im Bezirk Hillingdon hat ein konservativer Stadtrat die Sanierung der 17 Bibliotheken der Gemeinde veranlasst. Sie sollen mit Apple-Computern und einem besseren Buchsortiment ausgestattet werden. Das ist dann immer noch viel billiger, als neue Gebäude zu errichten. Zudem handelte er mit den Verlagen bessere Konditionen für den Ankauf von Büchern aus, sorgte dafür, dass die Bücher gleich in die richtige Zweigstelle geliefert werden und holte Starbucks in die Bibliotheken, was sich auf deren Budget äußerst positiv auswirkte. „Ich selbst bin kein Büchermensch“, sagt Higgins über sich, als er mich mitnimmt, um mir drei der bereits renovierten Bibliotheken zu zeigen „Aber mir war von Anfang an klar, dass mein Ziel im Standard eines modernen Buchlandes besteht.“

Mehr Bücher, mehr Ausleihen

Und wirklich lässt sich sagen, dass er dieses Ziel erreicht hat. Selbst in der kleinen Dorfbibliothek von Harefield, das zu Hillingdon gehört, sind die Regale bestens bestückt. Seit 2007 gibt es in Hillingdons Bibliotheken 64.000 neue Bücher. Es gibt Leute, die sagen, den „Kunden“ der Bibliotheken seien neue Serviceangebote wie Internetzugang möglicherweise sogar wichtiger als Bücher. Für manche mag das stimmen.

Aber das Beispiel Hillingdon macht deutlich, dass ein größeres Angebot an Büchern zu mehr Ausleihen führt. So hat beispielsweise die Ruislip-Manor-Bücherei seit ihrer Wiedereröffnung im Oktober 2007 einen fünffachen Anstieg der Ausgabezahlen zu verzeichnen.

Wenn wir, die wir Bücher für einen essentiellen und wesentlichen Teil unseres kulturellen Erbes erachten, die Sache jetzt aus den Augen verlieren, werden wir das eines Tages bitter bereuen. Wir müssen Alarm schlagen und diejenigen ins Rampenlicht zerren, die für den Kahlschlag verantwortlich zeichnen. „Wir müssen der Öffentlichkeit klar machen, dass diese Einschnitte falsch sind“, sagt Shirley Burnham von der Bürgerinitiative für den Erhalt der alten Stadtbibliothek in der südenglischen Stadt Swindon. „Den Leuten muss klar werden, dass man eine Bücherei nicht wieder zurückholen kann, wenn sie erst einmal weg ist.“

Dass die Menschen in ihrer Heimatstadt Anteil nehmen, gibt ihr Hoffnung. Die Regierung redet immer von dem Zusammenhalt innerhalb der Gesellschaft und wie dieser gestärkt werden könne. Hier eine kleine Anregung aus dem wirklichen Leben einer Kleinstadt: Die Leute wollen nicht, dass ihre Bibliotheken genauso verschwinden wie mit den Fleischereinen und Bankfilialen bereits geschehen.



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Übersetzung: Holger Hutt / Zilla Hofman
Geschrieben von

Rachel Cooke, The Guardian | The Guardian

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