Mehr Partyschreck wagen

Amazon Das Unternehmen wird 25 – allerhöchste Zeit, ihm die Feier zu versauen
Geschenke bekommt Amazon schon zur Genüge
Geschenke bekommt Amazon schon zur Genüge

Foto: Philippe Huguen/AFP/Getty Images

Wie jeder pubertierende Teenager weiß, ist es durchaus möglich fest daran zu glauben, dass etwas eine schwerwiegende Sünde ist, und es trotzdem immer wieder – beinahe zwanghaft – zu tun. Etwa 90% der deutschen Bevölkerung sollten dieses Gefühl kennen – nur dass sich diese 90% ihr Schuldgefühl auch tatsächlich verdient haben. So viele von uns kaufen nämlich wissentlich und ohne Skrupel bei einem Unternehmen, das eine schreckliche Bilanz in Sachen Arbeitnehmer- und Arbeitsbedingungen vorweist, Steuern für die Gemeinschaft weitestgehend vermeidet und sich durchaus ankreiden lassen muss, dafür verantwortlich zu sein, dass so manches Geschäft in hiesigen Einkaufsstraßen unterdessen vernagelt ist.

Diese Firma, Amazon, wird 25 Jahre alt. Und es tut mir nicht sonderlich leid, dass ich auf seine Party geschissen habe. Auch Amazon selbst dürfte sich nicht weiter über einen Mangel an herzlichen Geburtstagswünschen den Kopf zerbrechen. Was Pakete betrifft, steht es das ganze Jahr auf der Gewinnerseite – und bekommt dazu jeden Tag ein immer größeres Stück vom Reichtumskuchen der Welt serviert. Guten Appetit!

Warum um alles in der Welt ernähren so viele von uns dieses Monster weiterhin? Die Antwort scheint offensichtlich: Preis und Komfort. Wenn dem so wäre, müsste man davon ausgehen, dass das einzige, was noch billiger und einfacher gekauft werden kann als der neueste Roman von Dan Brown für das Kindle, unser eigenes Gewissen ist.

Aber wenn man mal über die wenigen Sekunden hinaus blickt, die es braucht, um mit „nur einem Klick zu bestellen“, wird klar, dass Amazon nicht wirklich billig oder bequem ist. Eine Lektion, die wir nur langsam zu lernen scheinen, ist, dass in schlecht regulierten digitalen Märkten der Preis, den man zahlt, nicht unbedingt dem entspricht, der die tatsächlichen Kosten widerspiegelt. Amazon kann nur zu niedrigen Preisen verkaufen, weil es auf der anderen Seite nicht für die vielen Dinge bezahlt, die seine Existenz überhaupt erst ermöglichen. Von den Straßen, auf denen die Lieferwagen fahren, über das Gesundheitswesen und die Sozialleistungen, auf die sich die Mitarbeiter verlassen müssen, um ihre unzureichende Bezahlung auszugleichen, baut Amazon auf all das, wofür andere Steuern zahlen.

Also sind wir es, die schlussendlich trotzdem die Rechnung dafür begleichen müssen. Entweder wir zahlen auf Umwegen für das, was Amazon an Körperschaftssteuern vermeidet – oder wir bekommen einfach schlechtere öffentliche Dienstleistungen. Es scheint, als hätten wir das alte Sprichwort vergessen, welches da lautet: Wenn ein Geschäft zu gut aussieht, um wahr zu sein, ist es womöglich kein gutes Geschäft.

Was ist eigentlich „convenient“?

Was den Komfort betrifft, so finde ich es z.B. viel komfortabler, erstmal zu sehen, was ich kaufen werde, bevor ich dafür bezahle. Ich werde auch nicht der Einzige sein, der viel Zeit dabei vergeudet, zu recherchieren, was denn jetzt online die beste Option, das größte Schnäppchen, die richtige Größe ist. Und den Aufwand, die Sachen zurückzugeben, die wir nie gekauft hätten, wenn wir sie zuerst mal anprobiert hätten, sollte man auch nicht außer Acht lassen.

Es ist nur allzu – Achtung, Buzzword – „convenient“, also bequem für Amazon, das Konzept der „Convenience“ darauf zu reduzieren, wie wenig Zeit man braucht, um an seine Einkäufe zu kommen. Aber es gibt eine sinnstiftendere Defintion von „convient“, die Amazon wiederum wohl höchstens mit einem Stern bewerten würde. Die alte Bedeutung von „convenient“ ist nämlich „angemessen“ oder „geeignet“. In diesem Sinne wäre es „convenient“, Dinge viel eher von einer Person zu kaufen als über eine schnöde Webseite. Es taugt mir viel mehr, eine große Vielfalt an Geschäften in meiner Nähe zu haben, als nur Wettbüros, Friseure, Cafés und Nagelstudios.

Oftmals stellt sich heraus, dass das, was in diesem Sinne am bequemsten ist, auch im engeren Sinne tatsächlich bequem ist. Rufen Sie doch mal Ihre lokale Buchhandlung an. Sie werden überrascht sein, dass sie in der Regel das gewünschte Buch am nächsten Tag im Laden hat. Gehen Sie mal in den nächstgelegenen Baumarkt, und er wird Sie fixer und kompetenter über das, was Sie benötigen, informieren, als Sie sich selbst beraten können, indem sie sich durch zweifelhafte Bewertungen wühlen.

Aber man hat ja heutzutage schon Glück, wenn man überhaupt noch einen Baumarkt oder eine Buchhandlung in der Nähe hat. Denn jedes Mal, wenn wir auf „Bestellen" klicken, bringen wir lokale Geschäfte ihrem Grab ein Stückchen näher.

Nur um das klarzustellen, ich will damit nicht sagen, dass niemand jemals bei Amazon einkaufen sollte. Manchmal ist es der einzige Weg, etwas zu bekommen – oder so viel billiger als die Alternative, dass es schon beinahe einem heroischen Akt gleichkäme, woanders zu shoppen. Natürlich bin ich selbst kein völliger Boykotteur. Aber am langen Ende sind einfach zu viele von uns zu faul, wenn sie Amazon als Standardplattform für ihre Einkäufe nutzen.

Bitte nicht füttern!

Vor kurzem war ich mittelschwer erstaunt, als ein liberaler, bürgerlicher, ethisch bewusster Freund beiläufig meinte, dass heutzutage „jeder“ ein Amazon Prime-Konto besäße. Und das stellte sich in einigen sozioökonomischen Gruppen als keine große Übertreibung heraus. In Deutschland haben unterdessen knapp 17,3 Millionen Haushalte ein Prime-Abonnement.

Das geht so nicht. Klar, die Regierung sollte gleiche Wettbewerbsbedingungen schaffen, indem sie Unternehmen wie Amazon dazu bringt, Steuern zu zahlen, wie sie sie eigentlich – ohne fadenscheinige Tricksereien – zahlen müssten. Dass die EU dieses Problem inzwischen auf dem Radar hat, ist ein zarter Silberstreif am Horizont – gut versteckt hinter der Mutter aller Regenwolken. Das entschuldigt aber eben gerade nicht, dass wir dieses Monstrum in der Zwischenzeit fleißig weiter füttern.

Man muss sich nicht einbilden, irgendwie doch ein ethisch korrekter Konsument sein zu können, wenn man Amazon routinemäßig benutzt, obwohl es gute Alternativen gibt. Es mag zwar Amazons Geburtstag sein, aber es ist allerhöchste Zeit, dem Unternehmen die Party zu versauen.

Julian Baggini ist Schriftsteller und Philosoph. Der Text wurde hinsichtlich deutscher Zahlen und Verhältnisse angepasst

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Übersetzung: Jan Jasper Kosok
Geschrieben von

Julian Baggini | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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