Sie sind groß. Sie sind intelligent. Sie scheinen uns ähnlich zu sein. Doch Wale leben in einer Welt, die dem Menschen weitestgehend verschlossen ist. Wohl deshalb beeindrucken sie nicht nur Wissenschaftler, auch Künstler sind von den bedrohten Tieren inspiriert. Keine andere Ordnung in der Tierwelt führt Fantasie und Faktensuche so eng zusammen, und neue Beobachtungen legen gar nahe, dass Pottwale höchstselbst ein inspirierendes Miteinander pflegen. Der Autor Philip Hoare hat dazu den Walforscher Hal Whitehead befragt.
Philip Hoare:
Wie sind Sie auf den Pottwal aufmerksam geworden?
Hal Whitehead:
Ich glaube, dieser Wal ist eines der geheimnisvollsten Tiere überhaupt, und genau das reizt mich an ihm. Ich nehme an, das ist auch der Grund, warum sich Schriftstelle
Ich glaube, dieser Wal ist eines der geheimnisvollsten Tiere überhaupt, und genau das reizt mich an ihm. Ich nehme an, das ist auch der Grund, warum sich Schriftsteller und Künstler so von ihm angezogen fühlen. Hoare: Ihr BuchWhitehead: Wenn Biologen von Kultur reden, reagieren Leute, die sich als Kulturkenner verstehen, oft befremdet. Dabei ist Kultur für Biologen vor allem ein Fluss von Information zwischen den Mitgliedern einer Gemeinschaft. Dieser Fluss ist das Grundprinzip der Biologie. Ohne ihn gäbe es kein Leben. Viele Biologen konzentrieren sich dabei auf den Informationsaustausch durch Gene – aber es gibt auch andere Formen. Kultur ist eine von ihnen. Die Vorstellung, dass diese Art von Austausch bei Tieren existiert, ihre Gemeinschaft durchdringt und außergewöhnliche Interaktionen hervorbringt, ist ungeheuer spannend. Im Falle des Pottwals haben wir zuerst versucht, unsere Beobachtungen durch genetische Evolution zu erklären. Vor der Küste der Galápagos-Inseln etwa leben zwei Gruppen von Pottwalen, deren Verhaltensweisen sich voneinander erheblich unterscheiden. Sie nutzen unterschiedliche Arten der Kommunikation und der Nahrungsbeschaffung.Erst nahmen wir an, es mit zwei Unterarten zu tun zu haben, aber wir fanden keine genetischen Unterschiede. Es musste andere Prozesse geben, durch die diese Pottwale zu derart verschiedenen Gesellschafts- und Verhaltensformen gekommen waren. Die Erklärung, die uns am plausibelsten erschien, war Kultur. Und es wurde auch immer offensichtlicher: Diese Wale leben in einer multikulturellen Gesellschaft.Hoare: Pottwale kommunizieren hauptsächlich über Klicks – Abfolgen niederfrequenter Laute, die sie mithilfe ihres Sonars erzeugen. Handelt es sich bei dieser Art der Kommunikation denn schon um einen Ausdruck von Kultur?Whitehead: Jede Lautfolge eines Pottwals enthält Hinweise auf die spezifische kulturelle Gemeinschaft, zu der er gehört. Anthropologen sagen, dass ethnische Symbole zu menschlichen Kulturen gehören. Wir wissen es nicht genau, aber es gibt Hinweise darauf, dass auch Pottwale bestimmte Klangstrukturen benutzen, um die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Clan zu symbolisieren.Hoare: Vor kurzem erschien ein Bericht über die Intelligenz verschiedener Tierarten. Er ordnet Delfine vor Primaten und hinter dem Menschen ein. Angesichts der Größe des Pottwalgehirns und seiner hoch entwickelten Großhirnrinde stellt sich die Frage, ob wir es hier mit Tieren zu tun haben, die dem Menschen in ihrer sozialen Struktur sehr nahe stehen. Wie kann man die Hirnfunktionen eines Wals untersuchen? Whitehead: Das ist sehr kompliziert. Es gibt Untersuchungen, die sich mit den kognitiven Fähigkeiten von Delfinen beschäftigen. Diese Tests wurden von Menschen konzipiert, stützen sich auf ein menschliches Weltverständnis. Delfine und Pottwale leben aber in einer völlig anders strukturierten Umgebung. Sie fühlen und kommunizieren fast nur über die Akustik, während Menschen ihre Umwelt vor allem visuell wahrnehmen. Und Wale bewegen sich in der dreidimensionalen Welt des Wassers; wir auf der zweidimensionalen Welt des Bodens. Wir wenden unsere Maßstäbe an. Deshalb unterschätzen wir ihre Fähigkeiten womöglich gravierend. Ich glaube, Wale tun Dinge, die wir noch gar nicht begreifen können – weil wir uns in ihrer Welt nicht zurechtfinden. Ein Weg wäre, Menschen innerhalb einer virtuellen Welt agieren zu lassen, die der realen Umgebung der Wale so gut wie möglich nachempfunden ist und uns verstehen lässt, wie sich so ein Walleben tatsächlich gestaltet.Kommunikation durch KörperkontaktHoare: Sie sagen, Wale leben in einer für uns lebensfeindlichen Umgebung. Inwiefern reflektiert das Gehirn des Wals die unermessliche Weite seiner Umwelt? Braucht es ein großes Gehirn, um eine solche Umgebung zu verarbeiten?Whitehead: Weil Wale in diesem riesigen dreidimensionalen Lebensraum zu Hause sind, ohne ein echtes Zuhause zu kennen, sind sie ewige Nomaden. Das Wichtigste in ihrer Umwelt ist die Gesellschaft anderer Wale. Ein Sozialleben ist für sie vermutlich überlebenswichtig. Wenn sie umherziehen, ist alles in einer stetigen Veränderung begriffen. Alles, bis auf die Gegenwart der anderen Wale. Sie wird unverzichtbar – sie sind auf diese soziale Intelligenz angewiesen.Ich nehme an, dass vor allem diese sozialen und kulturellen Bedürfnisse die Entwicklung eines großen, komplexen Gehirns vorangetrieben haben – mehr als das unmittelbare Bedürfnis, eines riesigen und komplizierten Lebensumfelds Herr zu werden.Hoare: Ich habe gelesen, wenn sich Pottwale versammeln, stecken sie ihre Köpfe zusammen. Das soll den Kommunikationsprozess intensivieren. Stimmt das?Whitehead: Auf kurze Entfernung sind Wale sehr taktile Tiere. Sie verbringen viel Zeit damit, einander zu berühren und über diesen Körperkontakt miteinander zu kommunizieren. Das ist offenbar sehr wichtig. Im Gegensatz zum Menschen haben Wale nicht die Möglichkeit, sich über auffällige körperliche Gesten oder durch Mimik zu verständigen. Ich vermute allerdings, dass Wale ein sehr detailliertes Bild von den Umrissen einzelner Artgenossen haben und dass sie so Informationen ablesen können, vielleicht unwillkürlich.Das Klicken dient sehr wahrscheinlich auch dem Austausch. Pottwale haben da eine sehr eigenwillige Methode – etwa ein Viertel ihres Körpers besteht aus diesem gewaltigen Sonarsystem, das sehr laute Klickgeräusche erzeugt und Nahrung in Kilometern Tiefe aufspürt. Dasselbe Organ benutzen die Wale aber auch für die Kommunikation. Sie modifizieren ihre Klicks und arrangieren sie in Mustern. Die Laute werden offenbar zum Verstärken sozialer Bindungen eingesetzt.Hoare: Glauben Sie, Wale nehmen ihre Existenz bewusst wahr?Whitehead: Wo soziale Beziehungen und Kultur von Bedeutung sind, ist die kognitive Fähigkeit, anderen bestimmte mentale Zustände zuzuschreiben und diese in sich selbst wiederzuerkennen, sehr wahrscheinlich. Zwangsläufig ist das dann mit einer Reflexion des Zusammenhangs von Selbst und Umwelt verbunden. Wale sind eine kulturell geprägte Spezies, Erkenntnisse über diese Beziehungen des Selbst könnten also von einem Individuum zum anderen und sogar über Generationen weitergegeben werden. Ich weiß nicht recht, wie wir das beweisen sollen, aber die Möglichkeit besteht.Hoare: Das Sonar der Wale wird nicht nur für die Kommunikation, sondern auch für die Jagd eingesetzt. Sie sagen nun, dass die Tiere anderen Artgenossen mithilfe des Sonars auch Schaden zufügen können – und dass sich deshalb eine Art Moralität als Teil des sozialen Miteinanders herausbildet. Whitehead: Pottwale haben das stärkste Sonar in der Natur. Es ist extrem leistungsfähig und fokussierbar. Aber ein Klick muss nicht nur erzeugt, sondern auch empfangen werden. Hören ist überlebenswichtig. Deshalb sagt man: Ein tauber Wal ist ein toter Wal. Stellen Sie sich nun eine Gruppe von Pottwalen vor, die in der Tiefe Nahrung jagen. Jeder von ihnen erzeugt einen dieser extrem starken Klicks pro Sekunde. Sie bewegen sich alle im selben Areal, müssen also sehr vorsichtig sein, wie Jäger, die als Trupp mit Gewehren durch den Wald streifen und regelmäßig Schüsse abgeben. Würde ein Pottwal sein Sonar auf das Ohr eines anderen Wals richten, wäre das lebensbedrohlich. Es muss klare Regeln geben, damit alle am Leben bleiben. Es muss Richtlinien zum Gebrauch des Sonars geben. Es ist ein Ausdruck von Moralität.Das Whale-watching DilemmaHoare: In welche Richtung soll sich die Forschung Ihrer Meinung nach entwickeln und welche Instrumente brauchen Sie dafür?Whitehead: Die Walforschung ist sehr instrumentenlastig. Ohne all diese Maschinchen hätten wir vieles gar nicht entdecken können. Das bedeutet manchmal aber auch, dass wir uns mehr mit technischen Einzelheiten beschäftigen als mit den Tieren. Ein wichtiger Schritt war die Entwicklung neuer Sender. Vor zehn Jahren hatten wir eine sehr vage Vorstellung davon, wie Pottwale in der Tiefe auf Nahrungssuche gehen. Erst solche Sender konnten uns Einblicke geben. Richtig interessant wird es dann, wenn wir so auch soziale Strukturen erforschen können. Zum Beispiel, wie der Herzschlag der Tiere in verschiedenen Situationen ausfällt – etwa wenn sie einen Bekannten treffen oder ein fremdes Klickmuster wahrnehmen. Auf einer physischen Ebene können wir beobachten, wie sie miteinander interagieren, wie das Hören von Klicklauten ihre Bewegungen subtil verändert. Im besten Falle könnten wir diese Informationen dann bestimmten Individuen zuordnen, und je mehr wir über das Leben eines einzelnen Wals erfahren, umso besser können wir Unterschiede analysieren und verstehen, wie diese Unterschiede sich auf das Sozialgefüge auswirken.Hoare: Das Dilemma ist: Verändern wir die Wale, indem wir sie erforschen? Whale-watching schafft öffentliche Aufmerksamkeit für die Tiere, aber beeinflusst es ihr Verhalten? Wird das Zusammentreffen der Kulturen künftig ein wechselseitiger Austausch sein? Werden wir eines Tages die Wale verstehen können und sie mit uns kommunizieren? Whitehead: Die fundiertesten und interessantesten Kenntnisse stammen von Walen in Gefangenschaft. Natürlich wird das immer problematischer, weil sie nicht die realen Lebensbedingungen widerspiegelt. Wie können wir weiterforschen, wenn wir Wale nicht mehr in Gefangenschaft halten wollen, aber unsere Methoden zur Erfassung ihrer kognitiven und kommunikativen Fähigkeiten nicht für Tiere in Freiheit entwickelt wurden? Die Biologen Lori Marino und Toni Frohoff schlagen vor, diese Verfahren in der Wildnis bei Tieren anzuwenden, die den Kontakt zu Menschen suchen. Das ist umstritten. Sollte sich die Methode aber bewähren, könnten wir die kognitiven Prozesse von Walen und Delfinen in der Natur untersuchen, in Situationen, die uns genug Kontrolle über das Geschehen einräumen, um Denkstrukturen und Entscheidungsprozesse zu verstehen.Hal Whitehead ist Biologie-Professor an der Dal-housie University in Kanada und beobachtet auf dem Forschungsschiff Balaena Wale vor Nova Scotia. Sein Spezial-gebiet sind Pottwale, er untersucht aber auch Beluga- und Pilotwale und verschiedene Delfinspezies.Philip Hoare ist ein britischer Sachbuchautor. Für Leviathan, or The Whale bekam er 2009 den Samuel-Johnson-Preis. Hoare lebt in Southampton und beobachtet am Cape Cod, USA, Buckelwale. Das Gespräch erschien im Observer
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