Nachts in der Rue des Juifs

Frankreich Das Land wird von einer neuen antisemitischen Welle erfasst: Der Pariser Comedian Dieudonné ist dabei einer der Protagonisten
Ausgabe 04/2014

Am 12. Januar 1944 wurden 365 Juden von Bordeaux aus in die Vernichtungslager der Nationalsozialisten deportiert. In den Tagen zuvor waren sie in ihrer Synagoge gefangen gehalten worden. Siebzig Jahre später kursieren nun Bilder einer Gruppe von Jugendlichen, die vor derselben Synagoge stehen und ihre rechte Hand auf den linken, nach unten durchgestreckten Arm legen. Das ergibt eine Art umgekehrten Hitler-Gruß. Er heißt der Quenelle-Gruß und ist nach dem umstrittenen Comedian Dieudonné M’bala M’bala benannt. Im Hintergrund sieht man eine Steintafel mit der InschriftA Nos Martyrs“ und den Namen der damals Deportierten. 5.000 der ehemals 6.200 Bordeauxer Juden wurden von den Nazis ermordet.

Bordeaux, im Januar 2014: Im Shopping-Center Sainte Catherine nahe der Synagoge sitzen Jugendliche auf einer Treppe und essen Sandwiches. Auf meine Frage, ob sie den Quenelle-Gruß kennen und wissen, was er bedeutet, zucken sie mit den Schultern. „Ein Zeichen gegen das Establishment, ein Scherz“, sagen sie. Mehrdeutig? „Ja.“ Provokant? „Ja.“ Antisemitisch? „Nein.“

Aber wenn der Gruß nicht antisemitisch sei, frage ich weiter, warum sieht man ihn dann immer öfter vor Synagogen in Frankreich? Vor der jüdischen Schule in Toulouse, vor der Mohamed Merah drei Kinder getötet hat? An Straßenschildern in der Rue du Four, die auf deutsch Ofenstraße heißt, und in der Rue des Juifs? Vor den Waggons, mit denen französische Juden in die Konzentrationslager transportiert wurden? Warum all das? Sind die Juden das Establishment? Die Jugendlichen sagen nichts mehr und zucken mit den Achseln.

„Es gibt viele Bilder mit dem Quenelle-Gruß, die an anderen, nicht-jüdischen Orten gemacht wurden“, meldet sich dann doch noch einer zu Wort. Und er hat Recht. Die gibt es wirklich. Für manche ist der Gruß nichts weiter als eine gallische Art, gegen das System zu sein. Andere empfinden ihn dagegen sehr wohl als Verhöhnung des Holocaust und des jüdischen Leidens. Für sie ist er das Symbol einer neuen antisemitischen Welle, die das ganze Land in den letzten Monaten erfasst hat.

Rassistische Vorurteile

Erfunden hat den Quenelle-Gruß, wie gesagt, der Comedian Dieudonné. Aber er behauptet, damit nie eine antisemitische Haltung ausgedrückt zu haben. Er hat sich aber auch nie von denjenigen distanziert, die die Geste in diesem Sinne verwendet haben. Seine Reaktion bestand darin, jenen mit dem Anwalt zu drohen, die sie mit dem Hitlergruß in Verbindung bringen.

Jetzt haben Aktivisten in Bordeaux geklagt, um die Justiz zu einer Entscheidung zu zwingen: Sind diese „Quenelles“, wie man das Zeigen des Grußes in Frankreich nennt, eine illegale „rassistische Beleidigung“ oder nicht? Nun hat die Polizei in Bordeaux Ermittlungen eingeleitet, um jene Personen vor der Synagoge zu identifizieren. Geklagt hat Clothilde Chapuis, sie ist die lokale Vorsitzende des Verbandes der „Ligue Internationale Contre le Racisme et l‘Antisémitisme“. „Genug ist genug. Jetzt muss es aufhören. Die Quenelle ist schon lange keine Geste gegen das Establishment mehr, wenn sie es denn jemals war. Sie ist antisemitisch. Und wenn sie offen antisemitisch ist, wie auf diesen Fotos, dann muss das aufhören. Wenn das Gericht entscheidet, dass es sich um eine rassistische Beleidigung handelt, haben wir gewonnen.“

Damit würde dann die Botschaft vermittelt, dass die Republik keine Kompromisse macht, wenn es darum geht, ihre Werte zu verteidigen. Und die jungen Leuten würden erfahren, dass nicht ungestraft davonkommt, wer diese Geste an bestimmten Orten zeigt. Keine Toleranz der Intoleranz. „Ich habe große Sorge, dass es Dieudonné gelingt, bei den jungen Leuten die Saat rassistischer und antisemitischer Vorurteile zu säen. Auch die Meinungsfreiheit hat ihre Grenzen. Wir sehen ja, wohin sie uns gebracht hat. Vor vier Jahren kam Dieudonné in einem kleinen Tourbus nach Bordeaux, vor drei Jahren hatte er 900 und im vergangenen Jahr bereits 4.000 Fans. Er spielt mit unserer Demokratie.“

Bordeaux ist eine von mehreren Städten auf Dieudonnés jüngstem Tourneeplan, die seine Show verboten haben, weil die Behörden eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung befürchten. Der Comedian erklärte daraufhin, er werde kein alternatives Programm mit unproblematischen Nummern aufführen. „Wir leben in einem demokratische Land und ich muss mich an die Gesetze halten, trotz der offensichtlichen politischen Einmischung“, erklärte er und wies die Antisemitismus-Vorwürfe erneut von sich.

Glaubwürdig wirkt er dabei nicht. „Es steht jedem zu, über Juden, Moslems oder wen auch immer zu diskutieren. Aber niemand darf etwas sagen, das zu Hass anstachelt“, beharrt Clothilde Chapuis. „Mit der Klage betreten wir neuen Boden, der Tatbestand der Volksverhetzung umfasst bislang lediglich das gesprochene und das geschriebene Wort, aber keine Gesten. Da es aber sehr wohl auch als Beleidigung geahndet wird, wenn man einem Polizisten den Finger zeigt, gibt es hier einen Präzedenzfall. Und wenn eine Quenelle vor einer Synagoge oder einer Holocaust-Gedenktafel gezeigt wird, dann ist sie antisemitisch.“

Eine merkwürdige Allianz

Seine Fans verehren Dieudonné fast wie einen Guru. Zu ihnen zählen Unterstützer der extremen Rechten und fundamentalistische Moslems. Eine merkwürdige Allianz von Leuten, die sich eigentlich nicht riechen können, die den Meister aber für das Opfer einer globalen amerikanisch-zionistischen Verschwörung halten. Und dann sind da jene Anhänger, die der Politikwissenschaftler Jean-Yves Camus „verwirrte Jugendliche“ nennt, „die jeden Sinn für menschliche Werte verloren haben“.

„Fragt denn irgendwer, was Dieudonné zu einem Antisemiten gemacht hat? Wenn er denn einer ist, was ich nicht glaube.“ So sagte es mir einer seiner jugendlichen Fans in Bordeaux. Das bringt die Haltung dieser Menschen gut auf den Punkt. Auf der anderen Seite stehen François Hollande, seine sozialistische Regierung, multikonfessionelle Organisationen und Repräsentanten des Judentums, der katholischen Kirche, des Islam und antirassistische Gruppen. Und irgendwo in der Mitte stecken die Bürgerrechtler und Zensurgegner fest. Sie fürchten, dass Dieudonné durch Verbote zu einem Märtyrer wird.

Zusätzliche Aufmerksamkeit ist ihm auf jeden Fall sicher: Die Zahl seiner Twitter-Follower, Facebook-Likes und YouTube-Zugriffe ist seit Beginn des Skandals drastisch gestiegen. Dazu beigetragen hat sicher auch der 69-fache französische Nationalspieler Nicolas Anekla, der bei West Ham United spielt und im Dezember 2014 den Gruß machte. Natürlich beteuert Anelka, kein Antisemit zu sein. In Bordeaux verweist derweil Erick Aouizerate, der Präsident der regionalen israelitischen Kultusgemeinde auf die Gedenktafel vor der Synagoge. „Es ist genau 70 Jahre her, dass unsere Synagoge geplündert und 365 Menschen in die Todeslager geschickt wurden. Die jungen Leute auf diesen Bildern haben die Geschichte ihres Landes und die Werte der Republik anscheinend vergessen oder man hat sie ihnen nicht beigebracht.“

Dieudonné: Früher links, heute Antizionist und Antisemit

Es ist unklar, ob der umstrittene Künstler und Polit-Aktivist Dieudonné M’bala M’bala, geboren 1966, den Quenelle-Gruß erfunden hat, inzwischen ist die Geste aber eindeutig mit ihm verbunden. War Dieudonné (so sein Bühnenname) in den 90er Jahren noch für linke politische Gruppierungen aktiv, so wandte er sich danach antizionistischen und antisemitischen Parteien zu und pflegt enge Kontakte zum rechtsextremen Front National. Dessen früherer Vorsitzender Jean-Marie Le Pen ist der Taufpate seines dritten Kindes.
Auch sonst scheint Dieu-donné sich bevorzugt in unappetitlicher Gesellschaft zu bewegen. Im Jahr 2008 verlieh er dem Holocaust-Leugner Robert Faurisson bei einer Veranstaltung einen „Preis für Unangepasstheit und Impertinenz“, der durch einen Mitarbeiter in KZ-Uniform überreicht wurde.
Bei seinen Shows, unter anderem auch in seinem eigenen Theater in Paris, vertritt Dieudonné M‘bala M‘bala vehement antisemitische Verschwörungstheorien und provoziert regelmäßig und genüsslich öffentliche Skandale. Vor kurzem äußerte er bei einem seiner Auftritte Bedauern darüber, dass der jüdische Journalist Patrick Cohen den Gaskammern entgangen sei. Französische Städte versuchen seit Beginn diesen Jahres, seine Auftritte zu verhindern. Dieudonné ist außerdem mehrfach zu hohen Geldstrafen verurteilt worden. Er erfreut sich auch in den jungen migrantischen Communities großer Beliebtheit. AW

Kim Willsher berichtet für den Guardian aus Paris



AUSGABE

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Übersetzung: Holger Hutt
Geschrieben von

Kim Willsher | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

The Guardian

Die Vielfalt feiern – den Freitag schenken. Bewegte Zeiten fordern weise Geschenke. Mit dem Freitag schenken Sie Ihren Liebsten kluge Stimmen, neue Perspektiven und offene Debatten. Und sparen dabei 30%.

Print

Für 6 oder 12 Monate
inkl. hochwertiger Weihnachtsprämie

Jetzt sichern

Digital

Mit Gutscheinen für
1, 6 oder 12 Monate

Jetzt sichern

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden