Im Sommer 2007 hatte Charlotte Gainsbourg beim Wasserskifahren einen Unfall, der ihr zunächst nicht weiter bemerkenswert erschien. Ein halbes Jahr später bekam sie nach einer Galavorstellung von I’m Not There in Venedig Kopfschmerzen, die sieben Tage dauerten. Nach ihrer Rückkehr in ihre Heimatstadt Paris suchte sie einen Arzt auf. „Sie machten eine MRT-Aufnahme und entdeckten, dass mein Gehirn auf die Seite gedrückt worden war und mein Kopf sich mit Blut gefüllt hatte“, erzählt sie leicht benommen. „Der Arzt war sehr erschrocken. Er erklärte mir, ich müsste eigentlich tot oder gelähmt sein.“
Die folgende Notoperation war erfolgreich, trotzdem dauerte es lange, bis Gainsbourg glauben konnte, dass sie wieder gesund wa
ie wieder gesund war. Bis ins Frühjahr 2008 hinein bestand sie auf weitere Kernspin-Tomografien. Sie war überzeugt, dass sie sterben würde. „Es war eine seltsame, unsichere Zeit“, sagt sie in perfektem englischen Tonfall mit leicht geflüstertem französischen Akzent. Wenn sie nach dem richtigen Wort sucht, macht sie lange Pausen. „Die Ärzte sagten, ich sei in Ordnung, aber mein Gefühl sagte mir etwas anderes. Ich hatte wohl eine posttraumatische Angststörung.“ Hatte sie Angst, wieder zu arbeiten? „Es war, als bräuchte ich einen Kokon, in dem nur ich und meine Familie Platz hatten. Ich war sehr überrascht, dass ich so schwach und zerbrechlich sein konnte. Das war mir neu. Ich dachte immer, ich sei eine starke, mutige Person und hatte keine Ahnung, wie groß meine Angst vor dem Tod war.“Sound des DeliriumsEmotional habe sie sich erst erholt, als sie ihre Arbeit wieder aufnahm, sagt Gainsbourg. Im Frühjahr 2008 reiste sie nach Los Angeles, nicht als Schauspielerin, sondern um den Songwriter, Produzenten und Multi-Instrumentalisten Beck zu treffen. Sie war ihm kurz zuvor bei einem Konzert der White Stripes vorgestellt worden. Im Studio erarbeiteten sie zunächst ein paar Songentwürfe. Gainsbourg spielte Beck gleich zu Anfang das Geräusch eines Kernspin-Tomografen vor, das sie im Internet gefunden hatte. „Für mich war das der Sound des Deliriums“, sagt sie und lacht ein kurzes, nervöses Lachen. Sie lacht öfters so, immer dann, wenn sie über etwas Persönliches spricht. „Für mich war es der intimste und aufschlussreichste Sound, den ich mir vorstellen konnte.“ Einer der ersten Texte, die Beck für das Album schrieb, enthielt die Zeile „drill my head full of holes“ („bohr Löcher in meinen Kopf“). Er hatte sie geschrieben, bevor er von ihrem Unfall erfuhr. „Er entschuldigte sich später dafür“, erzählt sie und lächelt. „Aber ich fühlte mich ihm dadurch verbunden.“Wie alles, was Beck anfasst, ist das Album IRM– so die französische Abkürzung für einen MRT – eine Mischung aus unterschiedlichen musikalischen Stilen. Die einzige Konstante ist Gainsbourgs distanzierter, gehauchter Gesang: Ihre zerbrechliche Technik spiegelt den emotionalen Minimalismus wider, mit dem sie als Schauspielerin agiert. Das Album klingt vor allem deshalb so gut, weil dieser Gesang und Becks Cut-and-Paste-Landschaften einen so großartigen Kontrast bilden.Gainsbourg hat ihre musikalischen Partner immer klug ausgewählt, dasselbe gilt für die Regisseure, mit denen sie arbeitet. „Beck forderte mich immer wieder auf, eigene Songs zu schreiben“, sagt sie mit jener Bescheidenheit, die für sie so typisch ist. „Doch das Genie meines Vaters lastet zu schwer auf mir.“Charlotte Gainsbourg sieht so aus, wie ich sie mir vorgestellt habe. Androgyn, auf eine unaufdringliche Art stylish und ein wenig wie nicht von dieser Welt. Auch mit 38 ist sie eine unkonventionelle Schönheit. Heute, im Teezimmer eines Hotels in Bayswater, sieht sie in Jeans, einem schwarzen Oberteil und einer braunen Lederjacke sehr chic aus. Sie wirkt zunächst schüchtern und etwas unbeholfen. Es ist dieselbe Mischung aus Verletzlichkeit und Verschlossenheit, die auch ihre Filmrollen auszeichnet. Und doch wirkt sie ausgeglichen, was schon etwas heißen will, wenn man ihren Hintergrund bedenkt.Ihr Vater, der Sänger-Schauspieler-Regisseur Serge Gainsbourg war, lange vor der Erfindung des Punk, ein echter Provokateur, der zu Frankreichs beliebtestem Anti-Helden avancierte. Ihre Mutter, Jane Birkin, eine wunderschöne britische Schauspielerin und Sängerin, wurde seine Muse und – für eine gewisse Zeit – Teil seines großen unmoralischen Abenteuers. Zusammen nahmen sie 1969 „Je t’aime, moi non plus“ auf. Der Papst verurteilte die sexuellen Anspielungen des Songs – unter anderem wird darin ein Orgasmus simuliert –, in Großbritannien durfte er nicht im Radio gesendet werden. 1984, mit gerade einmal 13 Jahren, nahm Charlotte mit ihrem Vater die Single „Lemon Incest“ auf – ein Spiel mit der Verherrlichung von Inzest und Pädophilie. Er verhalf Charlotte noch vor ihrer Pubertät zu unwillkommener Berühmtheit. „Zum Glück“, erzählt sie, „war ich gerade auf ein Internat gekommen, als die Single veröffentlicht wurde. Ich habe von dem ganzen Skandal nichts mitbekommen.“Aber wie muss es sich für sie angefühlt haben, diesen Song zu singen und sich für das zugehörige Video kokett mit ihrem Vater auf einem Doppelbett zu räkeln – er mit freiem Oberkörper, sie nur mit Hemd und Schlüpfer bekleidet. „Oh, ich war nicht naiv, als ich das gesungen habe“, sagt sie. „Ich wusste, um was es da ging. Aber der Gedanke dahinter ist rein. Es geht wirklich um die Liebe zwischen Vater und Tochter. Im Text heißt es ,the love that will never do together.‘“„Und wissen Sie“, fügt sie lächelnd hinzu, „ich glaube, dass er mich benutzt hat, aber er hat mich benutzt, um zu provozieren. Darin war er wirklich gut.“Einmal hat sie sich für ihren Vater geschämtEin einziges Mal habe sie sich für ihren Vater geschämt, als er im Fernsehen live einen 500-Francs-Schein verbrannte. „Am nächsten Tag verbrannten die Kinder in der Schule meine Hausaufgaben. Das war ein dummer Kinderstreich, aber für mich war es schlimm. Ich glaube, ich war ein schüchternes Kind und ich musste einen Schutzschild um mich herum aufbauen. Aber ich habe nicht gelitten, sondern hatte eine glückliche Kindheit.“Ihre Eltern, das betont sie, seien trotz ihrer nächtlichen Streifzüge durch das Pariser Nachtleben und obgleich ihr Vater so berühmt war, im Grunde „ sehr bescheiden und normal gewesen“. Sie erzogen sie und ihre Halbschwester Kate – Birkins Tochter mit dem Komponisten John Barry – auf die typisch bürgerliche Art. Sie gingen auf ein Internat, nahmen Klavierstunden, und wurden mit Literatur vertraut gemacht. Ihre Mutter, so erzählt sie, habe es geliebt, Filme zu drehen und übertrug diese Leidenschaft schon früh auf ihre Töchter.1986 wurde ihr mit 15 Jahren der César in der Kategorie Beste Nachwuchsdarstellerin für ihre Rolle in Das freche Mädchen verliehen. Bei der Gala küsst sie ihr stolzer Vater etwas zu lange und leidenschaftlich auf die Lippen, sie bekommt einen kindlichen Weinkrampf, dann setzt sie unbeholfen zu einer Rede an. Sie wirkt wie ein grüblerischer, schmollender Junge und etwas von dieser Haltung haftet auch heute noch ihrem distanzierten Verhalten an.Einem internationalen Publikum wurde sie 1993 durch die Verfilmung von Ian McEwans Roman Der Zementgarten bekannt. Abermals geht es um Inzest, dieses Mal zwischen einem Bruder und seiner Schwester. Wie ihre Mutter scheint auch Gainsbourg das Bedürfnis zu haben, mit den Konventionen zu brechen und für jene Art von Kontroversen zu sorgen, die das Lebenselixier ihres Vaters waren. Vergangenes Jahr stand Gainsbourg im Mittelpunkt einer Medienkontroverse, die ganz nach dem Geschmack ihres Vaters gewesen wäre. Als Lars von Triers Antichrist beim Filmfestival in Cannes uraufgeführt wurde, reagierte das Publikum auf die drastische Darstellung sexueller Gewalt mit Buhrufen, doch es gab auch vereinzelten Applaus. Die Frau, die sie spielt, wird nach dem Tod ihres Sohnes schleichend verrückt. Ihre Geistesstörung führt dazu, dass sie ihren Gatten (Willem Dafoe) misshandelt. In einer sehr drastischen Szene bohrt sie ein Loch in sein Bein, in einer anderen schneidet sie sich selbst die Klitoris ab.Antichrist war der erste Film, den Gainsbourg nach ihrer Gehirnblutung drehte. Für ihre Darstellung gewann sie die Goldene Palme als beste Darstellerin in Cannes. Ich merke an, dass eine Rolle in einem Lars-von-Trier-Film nicht unbedingt die gesündeste Art ist, um mit einer post-traumatischen Angststörung umzugehen. „Oh, aber genau das war es!“, sagt sie, plötzlich hellwach. „Er taucht so tief in ein Extrem ein, dass man sich selbst vergisst. Dazu kam, dass auch er sehr verletzlich war. Ich hatte jemanden vor mir, der sich über seine Gesundheit noch ungewisser war und sich größere Sorgen machte als ich.“Unweigerlich kommt das Gespräch auf ihren Vater, der 1991 an einem Herzinfarkt starb. Sein Tod führte in Paris zu einer Art Staatstrauer. Sein Haus in der Rue de Verneuil in Paris soll seit seinem Tod unverändert geblieben sein. Will sie es zu einem Museum machen? Sie schweigt einen Moment, und ich spüre, dass ich eine Grenze überschritten habe. „Nein“, sagt sie schließlich. „Ich habe 17 Jahre lang darüber nachgedacht und alles geplant, aber mein Unfall war der Wendepunkt. Ich habe plötzlich erkannt, dass ich nicht möchte, dass die Leute in sein Haus kommen, um alles über ihn herauszufinden. Es muss etwas geben, das ich für mich alleine bewahren kann. Ich muss in diesem Punkt selbstsüchtig sein.“Ich frage sie, ob sie jemals darüber nachgedacht hat, selbst in dem Haus zu leben. „Oh, das könnte ich nicht. Das würde mir emotional zu schwer fallen.“ Es stellt sich jedoch heraus, dass sie nur wenige Straßen vom Haus ihres Vaters entfernt wohnt. Sie besucht es regelmäßig. Ich fühle mich schuldig, als ich die Frage stelle, aber ich möchte wissen, was sie dort tut. „Ich sitze einfach dort. Ich kann nicht auf den Friedhof, er ist mir zu öffentlich und es sind immer Leute an seinem Grab. Die Wohnung ist der einzige Ort, an dem ich mit meinen Erinnerungen an ihn alleine sein kann.“ Sie schweigt einen Augenblick, dann sagt sie: „Auf eine seltsame Art ist das Haus sehr lebendig. Er ist dort sehr präsent.“Sie trauert nach 18 Jahren nochIch frage sie, vielleicht ein wenig unhöflich, was ein Psychologe wohl dazu sagen würde. Sie lacht: „Das will ich auf keinen Fall wissen.“ Ihr Vater nimmt in ihrem Leben ganz offensichtlich immer noch einen wichtigen Platz ein. „Das tut er“, sagt sie leise. „Sehr viel Platz. Am Anfang fühlte ich mich, als hätte mir jemand die Beine abgetrennt und dieses Gefühl blieb lange Zeit. Erst als ich meine Kinder bekam, konnte ich wieder nach vorne sehen. Mein Mann war sehr geduldig. Der Tod meines Vaters ist 18 Jahre her und es ist für mich immer noch sehr, sehr schwierig. Dabei bin ich erwachsen.“ Mir wird bewusst, dass ich hier einer Frau zuhöre, die immer noch trauert. „Ich vermisse ihn sehr,“ sagt sie, „aber nun, da ich die Hälfte meines Lebens mit ihm und die andere Hälfte ohne ihn verbracht habe, kann ich vielleicht wieder etwas wachsen und mich weiterentwickeln.“Trotz alledem wirkt Charlotte Gainsbourg mit ihren 38 Jahren bemerkenswert zufrieden. Sie arbeitet in ihrem eigenen Tempo und zu ihren eigenen Bedingungen. Sie denkt noch etwas zögerlich über eine Tour nach, um das Album zu promoten. „Es ist meine Taktik, mich in Frage zu stellen,“ sagt sie zum Schluss. „Ich habe erkannt, dass ich gerne unausgeglichen bin. Ich mag es, mich unsicher zu fühlen. Wenn ich eine Szene drehe und schlecht bin und dann eine andere, und ich bin gut – das ist die Art von Achterbahn, die ich mag.“
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