Nur Lügner haben Antworten

Autorenkino Erst wollte er Pianist oder Priester werden, dann arbeitete er als Programmdirektor fürs Fernsehen. Zum Filmemachen kam er erst sehr spät: Michael Haneke

Seit dem Erscheinen seines ersten Spielfilms Der siebte Kontinent 1989 hat sich der heute 67-jährige Michael Haneke den Ruf erworben, einer der kompromisslos-düstersten Filmemacher unserer Zeit zu sein. Immer wieder setzt er sich mit Themen sozialer Entfremdung und der abstumpfenden Wirkung der Massenmedien auf das Einfühlungsvermögen und den Antrieb des Menschen auseinander. Er wendet sich gegen die Gemütlichkeit unserer bürgerlichen Gewissheiten, indem er seine Figuren zwingt, extreme, unangenehme Entscheidungen zu treffen.

Wenn der fernsehbesessene Teenager-Held in Bennys Video ein Mädchen tötet, das er zufällig vor der Videothek kennen gelernt hat, ist er durch die permanente Gewalt im Fernsehen so abgestumpft, dass er rein gar nichts mehr empfindet. Bennys Eltern geht es nicht viel besser: Sie sind so wild entschlossen, den äußeren Anschein von Wohlanständigkeit zu bewahren, dass sie den Leichnam ungerührt entsorgen. „Es steckt ebensoviel Böses in jedem von uns wie Gutes. Wir befinden uns im permanenten Zustand der Schuld, selbst wenn wir nicht vorsätzlich etwas Böses tun. Wir sitzen hier in Luxus-Hotels und leben auf Kosten der Menschen in der Dritten Welt. Wir alle haben ein schlechtes Gewissen, tun aber herzlich wenig dagegen.“

Dies sind nicht gerade die Themen, die ein Massenpublikum an die Kinokassen locken, aber Haneke macht keinen Hehl aus seiner Verachtung für den Mainstream und dessen sterile, glatt-polierte Darstellungen von Sex und Gewalt. „Vor kurzem kam ich nach einer Reise nach Österreich zurück. Als ich die Nachrichten sah, handelten alle Schlagzeilen von schrecklichen Dingen wie Erdbeben und Explosionen, aber unterlegt war das Ganze von netter, fröhlicher Musik. Die Gewalt ist Teil der Unterhaltung geworden. Dies birgt die große Gefahr, dass ich sie gar nicht mehr wahrnehme.“ Für Haneke muss Gewalt immer als das gezeigt werden, was sie ist, in jedem bösartigen Detail. „Die Wahrheit ist obszön“, sagt er nonchalant, als würde er gerade einen Cappuchino bestellen.

In München geboren, verbrachte er sein ganzes Leben in Österreich und verfügt über einen durch und durch europäischen Kunstsinn. Das amerikanische Kino wird mit einer einzigen Handbewegung als „Kultur-Imperialismus“ abgetan. Warum? „Ich hasse Filme, die mich dümmer machen wollen als ich bin, und davon gibt es viele. Wobei ich zugeben muss, dass ich gar nicht so oft ins Kino gehe. In den 60ern und 70ern ging ich beinahe jeden Tag hin, aber jetzt nicht mehr.“

Es entbehrt daher nicht einer gewissen Ironie, dass Haneke in den vergangenen Jahren einen beträchtlichen Erfolg in eben jenem Mainstream hatte, den er so verachtet. 2005 hatte er mit Caché einen weltweiten Hit. Juliette Binoche und Daniel Auteuil spielen darin zwei Pariser Intellektuelle, die von einem anonymen Stalker mit einer Reihe geheimnisvoller Videobänder terrorisiert werden. Der Film gewann eine ganze Reihe von Preisen, darunter den Preis für die beste Regie in Cannes und spielte in Großbritannien mehr als eine Million Pfund ein – so etwas passiert einem Arthouse-Film nur äußerst selten.

Das weiße Band

Aber so wie es aussieht, wird Hanekes jüngste Arbeit seine bislang erfolgreichste werden. Das weiße Band gewann die Goldene Palme in Cannes. Der Film erzählt die Geschichte eines deutschen Dorfes, das am Vorabend des Ersten Weltkrieges von sporadischen Ausbrüchen von Gewalt heimgesucht wird, die nie aufgeklärt werden. Gedreht in schwarz-weiß, ohne Soundtrack, und ohne einfache Lösung, ist der Film in seiner Weigerung, irgendwelche Zugeständnisse an den Zuschauer zu machen, ein klassischer Haneke.

Einmal mehr scheint die gefährliche Natur konventioneller sozialer Strukturen im Zentrum von Hanekes Interesse zu stehen. Ein Großteil der Handlung dreht sich um Kinder, die in antagonistischen Beziehungen zu Autoritäten stehen, ob dies der Priester ist, der der Kirche vorsteht, der Baron, der über die Gemeinde regiert oder die Eltern, die über ihre Familien bestimmen. Kritiker mutmaßten, Haneke wolle die Entstehung des Nazismus erklären – die Kinder, die willkürliche Akte der Gewalt begehen, werden zu der Generation heranwachsen, die später die Barbarei des Holocaust hervorbringen wird.

„Es ist kein Zufall, dass ich diese Zeit für die Geschichte ausgesucht habe“, sagt Haneke. „Das ist die Nazi-Generation. Ich wollte aber nicht, dass der Film auf dieses Beispiel, dieses spezifische Modell reduziert wird. Ich könnte ebenso gut einen Film über den heutigen Iran machen und genau dasselbe fragen: Wie beginnt Fanatismus?"

Darin besteht der Kern des Films. Wo die Leute sehr leiden, werden sie sehr empfänglich für Ideologie, denn sie suchen nach etwas, an dem sie sich festhalten können – etwas, das sie aus dem Elend herausholt.“ Beseitigt der ideologische Glaube das Bedürfnis, Fragen zu stellen? „Natürlich. Je dümmer ich bin, desto eher werde ich jemandem folgen, der mir die Antworten geben wird.“

Glaube an die Authentizität

Wahrscheinlich liegt hierin einer der Gründe, weshalb Hanekes Arbeit nie eine einfache Antwort bereithält. Als Regisseur glaubt er fest daran, dass ein Film mehr Probleme aufwerfen sollte, als er löst. Sein idealer Zuschauer ist derjenige, der das Kino mit Fragen verlässt. Findet er es irritierend, wenn Leute, die seine Filme gesehen haben, ihn fragen, wie die Geschichte weiter gehe? „Das irritiert mich überhaupt nicht. Die Frage ist ganz natürlich. Ich sage in so einem Fall: Sehen Sie sich den Film an, lassen Sie ihn sich noch einmal durch den Kopf gehen, und überlegen Sie sich, was Sie darüber denken wollen. Die Leute wollen immer Antworten, aber nur Lügner haben Antworten. Politiker haben Antworten.“

In der Vergangenheit brachte Hanekes tiefer Glaube an die Authentizität – daran, das Leben so zu zeigen, wie es wirklich ist, mit all seinen wirren Widersprüchen und brutalen Schrecklichkeiten, ihm die Kritik ein, er verherrliche die Gewalt als notwendige Rebellion gegen die erstickenden gesellschaftlichen Konventionen. Macht er sich Gedanken darüber, welche Wirkung seine Filme auf ein leicht beeinflussbares Publikum haben könnten? Er rollt mit den Augen und klopft mit dem Zahnstocher gegen die Zähne. „Sie werden in jeder Krimi-Serie im Fernsehen mehr Gewalt zu Gesicht bekommen als in meinen Filmen ... Die Kunst muss eine stimulierende Wirkung haben, wenn sie ihren Namen verdienen will.“

Ist er nicht auch ein Stück weit Verantwortung zu unterhalten? „Ja, natürlich. Aber was verstehen Sie unter Unterhaltung? Die St. Matthäus-Passion, das ist auch Unterhaltung. Problematisch wird es erst, wenn Sie sich nur noch durch Zerstreuung oder Dummheiten unterhalten lassen können.“

Glückliche Kindheit

Obwohl das Leben der meisten Kinder in seinen Filmen zuhause ziemlich schrecklich ist, beharrt er darauf, eine glückliche Kindheit gehabt zu haben. „Sie werden mir nicht glauben, aber ich war in Wahrheit sogar ein äußerst verwöhntes Kind,“ sagt er mit einem weiteren entwaffnenden Kichern. „Ich war ein Einzelkind und die bösartigeren unter meinen Freunden sagen, man merke dies auch.“ Seine Eltern – Beatrix von Degenschild und Fritz Haneke – waren Schauspieler, die sich während des Zweiten Weltkriegs bei der Truppenbetreuung kennen lernten.

Haneke wurde 1942 geboren, als sie im Rahmen einer Tournee gerade in München gastierten. Sein Vater verließ Frau und Sohn als Haneke drei war und ging nach Deutschland, während Haneke in Österreich aufwuchs. Erst als er erwachsen war, lernten sie sich kennen. Doch dafür, dass er verlassen wurde, äußert Haneke sich sehr positiv. „Mein Vater und ich hatten ein gutes Verhältnis, es war sehr entspannt. Er besaß viel Humor.“

Beatrix heiratete einen österreichischen Juden, der während des Krieges nach England emigriert war. Wußte er als Kind, was in Nazi-Deutschland vorgefallen war? „Nur sehr, sehr wenig. Wir haben nie über den Krieg gesprochen.“ Gab es ein Gefühl von kollektiver Schuld? Was meinen Vater angeht, habe ich keine Ahnung. Meine Mutter war als junges Mädchen einmal mit einem SS-Offizier zusammen, hatte aber nicht wirklich eine Ahnung, was vor sich ging – ihr gefiel nur die Uniform. Als er ihr von den Dingen erzählte, die er getan hatte, war sie abgestoßen und machte mit ihm Schluss.“

Zunächst wollte er Pianist oder Priester werden – als ich ihn frage, ob er immer noch an Gott glaube, entgegnet er: „Solche Fragen beantworte ich ebenso wenig wie Fragen nach meinen bevorzugten Sexualpraktiken: das ist zu intim.“ Er berichtet jedoch, als Kind vom Kino fasziniert gewesen zu sein. Seine erste Erinnerung an einen Film ist, dass ihn seine Großmutter mitnahm, um Laurence Oliver in Hamlet zu sehen. Da war er vier. „Später erzählte sie mir, dass ich nach drei Minuten raus musste, weil mir die Musik solche Angst machte.“

Ein Jahr später schickten ihn seine Eltern im Rahmen eines Austauschprogrammes drei Monate nach Dänemark. Für ihn war das eine schreckliche Zeit. „Das war die einzig harte Erfahrung meiner Kindheit. Als ich zurückkam, habe ich zwei Wochen lang nicht mehr mit meinen Eltern gesprochen. Der Höhepunkt aber war ein Ausflug in ein Kopenhagener Kino. „Der Film spielte irgendwo in Afrika, mit Kamelen und Palmen und ich war so gepackt von dem Film, dass ich gar nicht begreifen konnte, wie schnell wir aus Afrika zurück nach Kopenhagen kommen konnten, als plötzlich die Lichter an- und die Türen aufgingen und wir wieder auf dem Parkplatz standen.“

Ein Gegenpol zum Fernsehen

Schließlich studierte Haneke Philosophie und Psychologie an der Universität von Wien und arbeitete dann lange Jahre als Programmdirektor bei einem deutschen Fernsehsender sowie als Regisseur an mehreren deutschsprachigen Bühnen und für das Fernsehen, bevor er im Alter von 47 Jahren mit Der Siebte Kontinent seinen ersten Kinofilm drehte. Viele seiner filmischen Arbeiten erscheinen als Gegenpol zu dem, was er die verdummende Unmittelbarkeit des Fernsehens nennt. „Vom Fernsehen sind wir Szenen gewohnt, die uns unmittelbar mit Informationen versorgen, die uns das Gefühl vermitteln: 'Ich habe es gesehen. Ich habe es verstanden. Was kommt als nächstes?' Dabei gelangt man nie zu einem Punkt, der die Einfühlung in die besondere Situation ermöglichen würde.“

Im Gegensatz dazu hat Haneke keine Angst davor, mit der Kamera bei einer Szene zu verweilen – etwa bei einer Tür, die gerade geschlossen oder einem Gebäude, welches gerade betreten wurde. „Wenn Sie jemanden bewegen wollen, müssen Sie mit seinen visuellen Gewohnheiten spielen – mit dem, was er zu sehen gewohnt ist.“

Hanekes Eltern starben, bevor Der siebte Kontinent erschien. Was denken seine Kinder über seine Arbeit (er hat vier aus erster Ehe und drei Stiefkinder von seiner zweiten Frau Susi. Sie sind zwischen 32 und 44 Jahren alt)? „Sie freuen sich, wenn ich Erfolg habe, aber ich hab keine Ahnung, ob ihnen die Filme wirklich gefallen. Ich spreche privat nicht gerne viel über meine Arbeit. Aber wenn ich schreibe, bekommt meine Frau es immer als erste zu lesen. Sie sagt mir immer die Wahrheit. 'Das hier ist langweilig, das verstehe ich nicht' – alle anderen haben zu viel Respekt. Sie reagiert sehr spontan.“

Ist er ein guter Vater? „Mit Sicherheit nicht. Ich bin immer am Arbeiten. Um ein guter Vater zu sein, muss man viel Zeit und Raum für die Kinder.“ Es ist also schwer, mit ihm zusammen zu leben? „Das müssen Sie meine Frau fragen,“ sagt er und grinst dann. „Ich bin sehr starrköpfig. Wäre ich das nicht, könnte ich keine Filme machen.“



Hanekes größte Erfolge:

Funny Games (1997, 2008)
In dem Film, den er selbst als seinen einzigen Agit-Prop-Streifen bezeichnet hat, konfrontiert Haneke den Voyeurismus des Publikums mit einem Film voll brutaler Gewalt über eine Familie, die in ihrer eigenen Wohnung gefangen gehalten wird. Um eine Wette gegen ihre sadistischen Vergewaltiger und das Kino-Publikum zu gewinnen, lassen sie sich auf entsetzlich brutale Spiele ein. Ursprünglich auf Deutsch gedreht, drehte Haneke den Film 2008 mit Tim Roth und Naomi Watts Szene für Szene nochmals auf Englisch.

Die Klavierspielerin (2001)
Auf einer weiteren Erkundung der Themen Entfremdung und Voyeurismus, porträtiert Haneke das sado-masochistische Verhältnis zwischen der von ihrer Mutter total kontrollierten und unterdrückten Klavierlehrerin Erika Kohut (Isabelle Huppert) und ihrem Schüler Walter (Benoit Magimel). Die beiden Hauptdarsteller gewannen Preise in Cannes, der Film den prestigeträchtigen Grand Prix.

Code-unbekannt (2001)
Mit langen Einstellungen und episodischer Erzählweise erkundet Haneke mittels des Lebens von fünf scheinbar unterschiedlicher Pariser Themen wie Nationalität, Politik, Schuld und Familie. Dieser, auf Anregung von Juliette Binoches entstandene Film war Hanekes erster in französischer Sprache .

Caché (2005)
Ein ganz besonders intensiver Thriller, in dem das Leben des erfolgreichen Schriftstellerpaares Georges und Anne Laurent von Schuld, Zweifel, und Misstrauen zerstört wird, als ihnen ein mysteriöses Überwachungsvideo zukommt. Juliette Binoche und Daniel Auteuil gewannen in Cannes die Preise für die besten Darsteller, Haneke den Preis für die beste Regie.


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Geschrieben von

Elisabeth Day, The Guardian | The Guardian

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