Ohne Hemmungen

Gewalt Indien gilt als schlechtester Lebensort für Frauen unter allen G20-Ländern, noch vor Saudi-Arabien. Und: Sexuelle Übergriffe gegen Frauen nehmen dort zu. Woran liegt das?
Dieser Angriff auf eine junge Frau, gefilmt von einem lokalen Fernsehsender, hat eine landesweite Debatte ausgelöst
Dieser Angriff auf eine junge Frau, gefilmt von einem lokalen Fernsehsender, hat eine landesweite Debatte ausgelöst

Screenshot: Assam News Live

Die Bilder versetzten ein ganzes Land in Aufruhr. Als Anfang Juli eine junge Frau eine Bar in der Stadt Guwahati im Nordosten Indiens verließ, wurde sie von einer Gruppe von Männern angegriffen. Sie zogen sie an den Haaren, versuchten ihr die Kleidung vom Leib zu reißen und lachten dabei. Das Ganze ereignete sich um halb zehn abends auf einer der belebtesten Straßen der Stadt. Mindestens 20 Minuten lang alarmierte niemand die Polizei, obwohl viele Umstehende Mobiltelefone hatten. Die nutzten sie, um zu filmen, wie die Männer das Unterhemd der Frau hochrissen, an ihrem BH zerrten und ihre Brüste begrapschten, während sie um Hilfe flehte. Wir wissen das, weil der Kameramann eines lokalen Fernsehsenders den Übergriff aufzeichnete, um seine Zuschauer damit zu vergnügen. 45 Minuten lang wurde die junge Frau misshandelt, bis die Polizei einschritt.

Binnen einer halben Stunde liefen die Bilder auf dem Lokalsender LiveNews. Auf der anderen Seite der Stadt sah sie auch die 29-jährige Sheetal Sharma, Aktivistin der regionalen Frauenrechtsorganisation North-East Network. „Ein furchtbarer Übergriff“, sagt sie. „Das Verstörendste war aber, dass die Schuld der Frau in die Schuhe geschoben wurde. Diese sei, so wurde in dem TV-Bericht betont, betrunken gewesen.“

740 Euro Entschädigung

Erst Tage später, als der Clip sich über das Internet verbreitet hatte und auch von den landesweiten Sendern in Delhi ausgestrahlt wurde, sah die Polizei sich zu Ermittlungen gezwungen. Sechs Tage danach traf sich der Regierungschef des Bundesstaates mit dem Opfer und versprach der Frau 50.000 Rupien Entschädigung, umgerechnet 740 Euro.

Der Schaden war damit allerdings nicht wiedergutzumachen. Die meisten Inderinnen wussten schon vorher aus leidvoller Erfahrung, wie hart das Leben als Frau in der größten Demokratie der Welt sein kann, auch 46 Jahre nachdem Indira Gandhi als erstes weibliches Staatsoberhaupt des Landes Geschichte schrieb. Eine Umfrage unter 370 internationalen Genderforschern wählte Indien vor Kurzem zum schlechtesten Lebensort für Frauen aller G20-Länder; noch vor Saudi Arabien. „Nach wie vor werden Frauen und Mädchen in Indien verkauft wie Vieh. Sie werden oft mit zehn Jahren verheiratet, werden verbrannt, wenn es zum Streit um die Mitgift kommt oder werden als Haussklavinnen ausgebeutet und missbraucht“, sagt Gulshun Rehman von der Hilfsorganisation Save the Children.

Laut einer Umfrage halten 52 Prozent der heranwachsenden Mädchen und 57 Prozent der Jungen es auch für gerechtfertigt, wenn ein Mann seine Frau schlägt. Die Straftaten gegen Frauen nahmen vergangenes Jahr um 7,1 Prozent zu. Die größte Zunahme war bei Verstößen gegen das Verbot der Mitgiftzahlung (plus 27,7 Prozent), bei Entführungen (19,4 Prozent) und Vergewaltigungen (9, 2 Prozent) zu verzeichnen.

Vor diesem Hintergrund sorgte ein Interview der Vorsitzenden der National Commission of Women (NCW), einer Regierungsorganisation zur Förderung von Frauen, bei vielen Inderinnen für einen Wutausbruch. Auf die Frage, ob es einen Dresscode für Frauen geben sollte, antwortete Mamta Sharma: „Nach 64 Jahren Freiheit wäre es nicht richtig, Frauen vorzuschreiben, was sie anziehen sollen. Man sollte ungezwungen sein, aber wenn wir den Westen blind nachäffen, zerstören wir unsere Kultur und machen damit solche Verbrechen wie in Guwahati überhaupt erst möglich. Am schlimmsten ist die Verwestlichung in den Städten.“

Die Bemerkungen lösten einen Sturm der Entrüstung aus: „Es geht nicht einfach nur um das blinde Nachäffen des Westens, Frau Sharma. Es geht auch um den Mangel an rechtlicher und physischer Sicherheit, den Mangel an Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern, um die Untätigkeit von Polizei und Justiz sowie das fehlende Bewusstsein, dass Männer und Frauen dasselbe Recht haben, zu tun und lassen, was sie wollen“, formulierte es Sagarika Ghose im Online-Magazin First Post.

Taliban-plus-Mentalität

Aini Mahanta, Chefredakteurin des Frauenmagazins Nandini, sieht in Sharmas Worten einen Beleg für die „Taliban-plus-Mentalität“, die ihrer Meinung nach in Indien Einzug hält. „Was hier passiert, ist schlimmer als die Taliban. Denn die sagen wenigstens offen, was ihnen gefällt und was nicht. Die Gesellschaft hier ist dagegen verlogen. Wir beten weibliche Götter an, schaffen es aber nicht, Frauen vor diesen Verbrechen zu beschützen und machen sie dann auch noch selbst dafür verantwortlich.“

Selbst im kosmopolitischen Mumbai komme es vor, dass Frauen als Prostituierte beschimpft und verhaftet würden, wenn sie sich nur in einer Bar aufhielten, meint Mahanta. Junge Feministinnen wie Sheetal Sharma klagen, Frauen würden in „gute“ und „schlechte“ unterteilt – je nachdem, wie sie sich kleiden und ob sie nach Einbruch der Dunkelheit noch ausgingen.

Wie alltäglich sexuelle Übergriffe in Indien sind, erfahren viele Frauen auf dem Weg zur Arbeit. In überfüllten Bussen und Zügen drücken Fremde sich gegen sie und betatschen sie oft. Im Juni sorgte eine Bloggerin aus Delhi mit einem Beitrag für Aufsehen, in dem sie beschrieb, was passierte, als sie sich einmal entschied, nicht das spezielle Frauenabteil der U-Bahn zu nehmen. Als sie einem Mann bat, er solle nicht zu nah neben ihr stehen, sprang ihr ein anderer Mann bei und forderte den Aufdringlichen auf, Abstand zu halten. Daraufhin brach ein blutiger Faustkampf zwischen den Männern aus. Statt dazwischenzugehen, wendeten die Umstehenden sich mit Vorwürfen gegen die 35-jährige Frau: „Es ist alles deine Schuld. Warum bist du in dieses Abteil gekommen?“

Über ihre Erfahrungen möchte die Bloggerin auch auf Nachfrage nur anonym berichten. Sie sagt: „Sexuelle Belästigungen wie diese habe ich tausendfach erlebt. Ich hasse es, das Wort zu benutzen, aber diese Übergriffe sind in Indien leider ,normal‘.“ Sie hat sich jetzt ein Auto gekauft.

Helen Pidd ist Indien-Korrespondentin des Guardian

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Übersetzung: Zilla Hofman/Holger Hutt
Geschrieben von

Helen Pidd | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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