Putins Welt

Kreml-Astrologie Wladimir Putin schottet sich immer mehr ab und berät sich nur noch mit wenigen Vertrauten
Ausgabe 36/2014
Was auch immer in der Ukraine passieren wird: Kaum jemand zweifelt daran, dass Putin in vier Jahren versuchen wird, weiter Präsident zu bleiben
Was auch immer in der Ukraine passieren wird: Kaum jemand zweifelt daran, dass Putin in vier Jahren versuchen wird, weiter Präsident zu bleiben

Fotos: Alexei Nikolsky / AFP / Getty Images, S. Borisov / iStock

Verehrt werde er, gar gefürchtet. Das gehe sogar so weit, dass ihm niemand mehr zu widersprechen wage. Distanziert sei er und isoliert. Er fremdele mit dem Internet und besitze nicht einmal ein Mobiltelefon. Er verfüge zwar über breite Unterstützung im Volk; der Zirkel jener Vertrauten aber, die ihn beraten, werde immer kleiner. Dieses Bild zeichnen Kreml-Kenner von Wladimir Putin und seinem Führungsstil.

Im Moment sind solche Informationen wichtiger als je seit Zusammenbruch der Sowjetunion. Putins Vorgehen in der Ukraine hat ihn einmal mehr zum wohl faszinierendsten Staatsoberhaupt der Welt gemacht. Die Kreml-Astrologie kommt wieder in Mode. Zugleich sind die Mauern dieses Machtzentrums erneut so hoch und undurchdringbar wie zu Zeiten von Leonid Breschnew. Immer wieder bekommt man erzählt, dass die Zahl jener, die ihm die Wahrheit sagen, klein sei. Umso mehr, da die Mehrheit der Mitglieder der russischen Regierung verärgert über die scharfe Reaktion des Westens auf die seit sechs Monaten dauernde Krise ist. Sie begrüßen Putins Kurs in der Ukraine. Und Kritiker haben kein Forum, ihre Zweifel zu äußern.

Der Präsident lässt kaum etwas über seinen Führungsstil durchblicken. Als er kürzlich danach gefragt wurde, fiel seine Antwort elliptisch aus: „Das wichtigste Kriterium für Erfolg ist, ob man von seinem Handeln überzeugt ist. Die Aufgabe besteht darin, die Menschen nicht zu zwingen, sich der eigenen Meinung anzuschließen, sondern den eigenen Standpunkt effektiv zu vermitteln. Dann fassen sie Vertrauen und fangen an, einen zu unterstützen.“

Dass die russische Elite hinter Putin steht, vielleicht sogar mehr denn je, ist überhaupt keine Frage. Der Kreml-Beobachter Jewgeni Minschenko sagt, die Sicherheitsdienste etwa stünden ihm nun, nachdem er eine Reihe von Posten neu besetzt habe, „loyaler gegenüber als zu irgendeinem anderen Zeitpunkt“. Dennoch herrscht keineswegs über alles Einigkeit im Kreml. Es mag auf den ersten Blick überraschend sein, aber ehemalige Mitarbeiter berichten immer wieder über ein bemerkenswertes Ausmaß interner Richtungskämpfe.

„In einem Land wie Amerika, das ein Zwei-Parteien-System hat, ändert sich die oberste Schicht der Entscheidungsträger je nachdem, ob die Regierung aus Republikanern oder Demokraten besteht“, sagt ein ehemaliger Kreml-Mitarbeiter. „Der Kreml hingegen ist voller Leute, die vollkommen unterschiedliche Ansichten haben. Es kann vorkommen, dass Anhänger einer staatlich kontrollierten Marktwirtschaft mit marktorientierten Liberalen zusammenarbeiten.“ Putin selbst finde dies überaus nicht problematisch: „Er mag es, wenn seine Untergebenen miteinander kämpfen. Er fühlt sich so in seiner Position gestärkt.“

Öffentlicher Dissens bleibt dennoch natürlich tabu. Als der stellvertretende Wirtschaftsminister Sergej Beljakow Anfang August auf Facebook schrieb: „Ich entschuldige mich bei allen für die Dummheiten, die wir machen, und für unsere nicht eingehaltenen Versprechen“, Und dann sogar noch nachsetzte: „Wir haben das Schamgefühl verloren“, wurde er gefeuert. Freier denkende Regierungsmitglieder mussten ohnehin längst ihre Posten räumen.

Geleakte Dokumente

Als eine der wenigen Informationsquellen darüber, wie Putins Präsidialverwaltung arbeitet, galt in den zurückliegenden Monaten ein inzwischen verbotener Blog, der von einer mysteriösen Gruppe namens Schaltaj Boltaj – zu deutsch Goggelmoggel – betrieben wurde. Dort wurden Dokumente und E-Mails aus dem Kreml gepostet. Zuletzt erklärten die Macher, sie hätten das Smartphone von Premier Dmitri Medwedew geknackt und präsentierten einige seiner persönlichen Nachrichten online. Kurzzeitig hackten sie sich auch in seinen Twitter-Account ein. Geleakt wurden dort unter anderem Informationen über die Planung und Finanzierung der Ostukraine-Strategie des Kreml. Auch die Texte einiger Reden Putins erschienen online, bevor der Präsident sie überhaupt gehalten hatte.

Die Schaltaj-Boltaj-Macher bezeichnen sich als „Idealisten“, deren Ziel es sei, „die Gegebenheiten zu verändern“. Als der Guardian kürzlich eines der Mitglieder treffen konnte, erschien ein Mann in einem Hemd mit Blumenmuster und stellte sich selbst als Schaltaj vor. Er hatte sich auf einem Steg an einem Fluss in einer europäischen Stadt treffen wollen und begann erst zu reden, als das kleine Boot, das er mitgebracht hatte, sich auf dem Wasser befand und die Musik laut genug war. Er sagte, dass die Gruppe sich aus Hackern und – vielleicht – auch aus unzufriedenen Regierungsbeamten zusammensetzen würde. Man verfüge über ein ganzes Archiv bislang unveröffentlichten Materials, das man möglicherweise in Zukunft publik machen würde.

Weiter behauptete er, der Gruppe seien bis zu Tausende, von Kreml-Beamten versendeten E-Mails zugängig. Zum Beweis zog er einen Laptop hervor und präsentierte das augenscheinlich vollständige Archiv eines E-Mail-Kontos eines Spitzenfunktionärs. Die Lektüre der E-Mails und anderer interner Dokumente habe der Gruppe einzigartige Einsichten verschafft, sagte Schaltaj. Putin beschrieb er als einen Mann „ohne menschliche Emotionen“. Allerdings sei er ein wahrer Patriot und überzeugt davon, dass seine Herrschaft das Beste für Russland sei.

„Ich denke, er war zu lange an der Macht. Er hat die Bodenhaftung verloren. Er ist wie ein Zar. Freunde im normalen Sinn hat er nicht. Möglicherweise gibt es Menschen, die er mag, aber er ist eben auch extrem paranoid“, erzählt er. Zum inneren Kreis um den Präsidenten zählen etwa alte Schulfreunde oder Judopartner, mit denen er sich regelmäßig zu Eishockeyspielen trifft. In Staatsangelegenheiten spielen diese Leute in der Regel aber keine Rolle.

Gespräche mit anderen, die sich in diesen Korridoren der Macht auskennen, lassen darauf schließen, dass viele wichtige Entscheidungen der jüngsten Zeit im Geheimen oder innerhalb eines sehr kleinen Zirkels getroffen wurden. So gut wie die gesamte mittlere Beamtenschicht des Kreml sei davon überrascht worden. Früher habe die Präsidialverwaltung bei wichtigen Themen noch Runde Tische mit Experten abgehalten, sagt Jewgeni Minschenko. Seit Beginn des Jahres finden sie so gut wie gar nicht mehr statt; Entscheidungen wie die zur Annektierung der Krim oder der jüngst erfolgten Militärintervention in der Ostukraine würden von einem kleinen Zirkel von Beratern, meist aus dem Sicherheitsdienst, getroffen. „Es gab dazu keine Diskussionen, keine Fokusgruppen“, erklärt auch Schaltaj. „Noch zwei Tage vor Putins Entscheidung, die Krim zu annektieren, wusste fast niemand in der Präsidialverwaltung davon.“

Ebenso haben nur sehr wenige Leute wirklich eine Ahnung davon, wie weit Russlands bewaffnete Intervention in der Ukraine gehen wird. Das zumindest liegt auch daran, dass Putin es möglicherweise selbst nicht weiß. Kreml-Beobachter sagen, der Präsident habe in den zurückliegenden Monaten keineswegs einen lange gereiften Plan verfolgt, die Sowjetunion wieder aufleben zu lassen. Vielmehr habe er sich immer wieder in die Ecke gedrängt gefühlt. Beschlüsse wie der zur Annektierung der Krim seien in letzter Minute getroffen worden, auch wenn Pläne für die Eventualität bereitgelegen hätten.

„Putin ist ein Konservativer“, sagt ein ehemaliger Kreml-Beamter, der den Präsidenten persönlich kennt. „Er versteht sich auf aggressive Rhetorik, die im westlichen Sinne nicht ‚politisch korrekt‘ ist. Was allerdings sein Handeln betrifft, war er nie Freund dramatischer Schritte. Deshalb waren die jüngsten Monate auch so überraschend.“

Moskau machte in den vergangenen Sommerwochen nicht den Anschein, eine Stadt zu sein, die sich auf den Krieg vorbereitet. Kratzt man aber an der Oberfläche, stößt man auf sehr konkrete Ängste. Robert Schlegel, ein Duma-Abgeordneter, hält eine Bombardierung Moskaus durch die USA in nicht allzuferner Zukunft für eine ernst zu nehmende Möglichkeit: „Als Vater denke ich jeden Tag darüber nach, wohin ich meine Familie evakuieren könnte“, sagt er. „Die Bedrohung ist sehr real.“

Nächtliche Videobotschaft

Die Empörung über den Abschuss der MH17 über der Ostukraine hat den Eindruck verstärkt, man werde ungerecht behandelt. Als vermutet wurde, eine russische Rakete sei am Abschuss beteiligt gewesen, musste Putin tagelang wütende Anrufe westlicher Staatschefs entgegennehmen. Vier Tage nach dem Absturz und nach einem Abend, den er am Telefon mit einer Reihe von Politikern verbracht hatte, nahm Putin in den frühen Morgenstunden eine Videobotschaft auf.

Er steht darin allein an einem Tisch und tritt stets von einem Bein auf das andere. In seinem Gesicht reflektiert sich das Licht. „Niemand hat das Recht, diese Tragödie zu benutzen, um eigene politische Ziele zu verfolgen“, sagt er mit leiser, aber von kaum verhohlenem Zorn erfüllter Stimme. Dem Präsidenten war wohl klar, dass es von Russland unterstützte Rebellen waren, die die MH17 abschossen. Dennoch glaubt er fest daran, dass von den USA in Kiew in Gang gesetzte Ereignisse für das Chaos in der Ostukraine verantwortlich seien und Russland schließlich zum Eingreifen gezwungen gewesen sei. Der Glaube an eine dunkle antirussischer Verschwörung des Westens ist nicht neu. Aber sie ist zur Zeit ausgeprägter denn je. In einem privaten Gespräch wetterte ein Regierungsbeamter kürzlich gegen die westliche Einmischung: „Vielleicht sind wir Barbaren. Aber nur, weil ihr uns nicht in Ruhe lasst, damit wir uns entwickeln können.“

Es ist deshalb nicht falsch zu sagen, dass Putins Ukrainepolitik darauf abzielt, einen vermeintlich vom Westen gestützten Plot zu vereiteln, der seine Macht untergraben soll. Der Präsident will weiterhin die Chance haben, sein Land zu gestalten. Denn was auch immer in der Ukraine passieren wird, kaum jemand zweifelt daran, dass Putin in vier Jahren versuchen wird, weiter Präsident zu bleiben. „Ich habe keinen Zweifel daran, dass er 2018 wieder kandidieren wird“, sagt ein Beobachter. „Er hat keinen Grund abzutreten. Er ist beliebt, er meint, er sei besser als andere Kandidaten, er hat per Verfassung das Recht, sich noch einmal aufstellen zu lassen. Und glaubt aufrichtig daran, dass er dem Land viel Gutes bringt.“

Shaun Walker berichtet für den Guardian aus Moskau

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Übersetzung: Zilla Hofman
Geschrieben von

Shaun Walker | The Guardian

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