Es kommt selten vor, dass man im linksliberalen Norden Londons einem Häretiker begegnet. Rupert Sheldrake füllt diese Rolle seit 30 Jahren aus und ist dabei bestens gelaunt. Wie er so in seinem mit Büchern vollgestopften Arbeitszimmer sitzt und über die Landschaft blickt, wirkt er nicht wie einer, der einst vom Glauben abfiel. Er wirkt eher wie jener Biochemiedozent, als der er galt – der klügste Darwinianer seiner Generation, ein Mitglied der Royal Society, Harvard-Stipendiat und Fellow am Clare College, dem zweitältesten College der University of Cambridge.
Das alles war Sheldrake, bevor man ihn 1981, wenige Monate nach dem Erscheinen seines ersten Buchs Das schöpferische Universum, zum Aussätzigen erklärte. Das Editorial von Nature verkündete damals allen Rechtschaffenen, Sheldrakes Werk gehöre „verbrannt“, der Autor selbst sei „in derselben Sprache zu verdammen, in der der Papst Galileo verdammt“ habe, und zwar „aus demselben Grund: Ketzerei.“
Es habe sich „genau wie eine päpstliche Exkommunikation“ angefühlt, erinnert sich Sheldrake. „Für Wissenschaftler wurde es sehr gefährlich, mich zu kennen.“ Diese Haltung hat sich über die Jahre noch verfestigt, denn Sheldrake arbeitet weiter an den Rändern seiner Disziplin. Er erforscht Phänome, die die „konventionelle, materialistische Wissenschaft“ nicht erklären kann – und tritt für offenere Ansätze im wissenschaftlichen Arbeiten ein.
Telepathie zwischen Tieren
Sein neues Buch The Science Delusion betrachtet nun die Grenzen und die Hybris des heutigen wissenschaftlichen Denkens – insbesondere den „wissenschaftlichen Dogmatismus“, der sich Sheldrake zufolge selbst als Evangelium präsentiert. Dabei greift der Forscher einige der verhärtetsten Gebote der zeitgenössischen Wissenschaft auf und formuliert sie als Fragen: „Sind die Naturgesetze unveränderlich?“, „Hat die Materie kein Bewusstsein?“, „Verfolgt die Natur keine Absicht?“, „Ist der Verstand auf das Gehirn beschränkt?“. Nicht zuletzt ist Sheldrake ein brillanter Polemiker. Geschickt bringt er alles in Position, was dazu gereicht, die überkommenen Lehren zu untergraben – von augenfälliger Telepathie zwischen Tieren über Kristalle, die zu wachsen „lernen“, bis hin zu den fantastischeren Auffassungen der Theoretischen Physik.
Ein Phänomen, für das Sheldrake sich unter anderem interessiert, ist die Polarität. Und falls er selbst einen natürlichen Gegenpol hat, so ist das Richard Dawkins, ein Erzmaterialist und emeritierter Professor für Public Understanding of Science in Oxford. Spielt Sheldrake mit dem Titel seines aktuellen Buches nicht auch auf Dawkins’ Bestseller The God Delusion an? Es gehe ihm um sehr viel mehr, antwortet Sheldrake. „Aber Dawkins ist ein ,Symptom des wissenschaftlichen Dogmatismus‘. Er zementiert diesen Ansatz im öffentlichen Versändnis. Insofern ist der Titel schon ein wenig spitz.“
Sheldrake ist so alt wie Dawkins – beide werden in diesem Jahr 70 –, und obschon ihre Karrieren beinahe im selben Umfeld in der Biochemie begannen, könnten sie heute kaum weiter entfernt voneinander sein. Sollte man Sheldrakes Anschauungen in einem Satz zusammenfassen, so könnte man diesen aus Hamlet entleihen: „Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, Richard, als Eure Schulweisheit sich erträumen lässt.“
Gemein sei ihm und Dawkins die Gewissheit, sagt Sheldrake, „dass die Evolution das zentrale Merkmal der Natur ist. Ich würde aber sagen, dass seine Evolutionstheorie bei der Biologie stehen bleibt. Wenn es etwa um Kosmologie geht, hat er wenig zu sagen. Ich würde das Evolutionsprinzip auch dorthin übertragen. Ich denke, dass auch die Naturgesetze Entwicklungen unterliegen. Ich halte sie eher für Gewohnheiten als für Gesetze. Wir beginnen gerade zu verstehen, dass sie sich in unterschiedlichen Teilen des Universums eindeutig unterschiedlich entwickelt haben.“ Sheldrake spricht oft darüber, dass 83 Prozent der Masse im Universum aus dunkler Materie bestehen und von dunkler Energie bewegt werden, was „durch nichts in unserer Wissenschaft auch nur annähernd“ erklärt werden könne. Dessen ungeachtet lieben es Naturwissenschaftler, sich eine allmächtige Wissenschaft auszumalen. Die „Science Delusion“, der „Wissenschaftswahn“, manifestiert sich in der Überzeugung, dass das Wesen der Realität prinzipiell verstanden sei und nur noch um seine Einzelheiten ergänzt werden müsse. „Mit meinem Buch möchte ich vor dieser Einstellung warnen, da sie der Wissenschaft meiner Meinung nach schadet.“ Den US-Titel des Buchs, Science Set Free, findet er deshalb passender. Dem dortigen Verlag sei klar gewesen, dass man das Buch mit dem Titel The Science Delusion als rechtes Traktat missverstanden hätte, das Evolution und Klimawandel leugnet. „Und damit will ich nichts zu tun haben.“
Niedergang alter Gewissheiten
Ob er geahnt habe, dass sein erstes Buch so heftige Reaktionen hervorrufen würde? „Ich habe es geschrieben, um einen größeren Rahmen für die Biologie zu finden. Einen holistischen, der voraussetzt, dass auch die Naturgesetze eine Evolution durchmachen.“ Während der ersten drei Monate nach seinem Erscheinen wurde das spekulative Werk noch positiv rezipiert. Dann schrieb Sir John Maddox sein „Verbrennt das Buch“-Editorial in Nature – und Sheldrakes neues Leben begann: als diskreditierter Forscher und Bestsellerautor.
Sheldrake ging in die Offensive und hat seine Arbeit seither auf jene Art Phänomene konzentriert, die die Wissenschaft von sich weist, „von denen die Menschen aber ja fasziniert sind, weshalb sie sich dumm dabei vorkommen“. Ein Langzeitexperiment von Sheldrake untersucht etwa, wie Hunde wissen können, wann ihre Besitzer nach Hause kommen. Ein anderes befasst sich mit dem nicht mit dem Begriff Zufall erklärbaren Phänomen, dass viele Menschen merken, wenn sie von hinten angestarrt werden. Sheldrake interessiert sich auch für die Wirksamkeit der chinesischen Medizin, für die Kräfte, die Vögel und andere Tiere über weite Entfernungen hinweg führen, und für das Wesen des Bewusstseins.
Obschon nichts davon sein Ansehen in der Wissenschaftscommunity wiederhergestellt hat, bleibt Sheldrake stur. Gegenwärtig befindet sich sein Buch auf Amazons Wissenschaftsbestseller-Liste weit oben, es ist im Gegensatz zu den meisten seiner früheren Bücher recht respektvoll besprochen worden. Der Geächtete sieht Anzeichen dafür, dass der Widerstand abnimmt und dass Zweifel und Erstaunen wieder in die Wissenschaft zurückkehren. „Ich denke, mein Buch wird auch deshalb so positiv aufgenommen, weil die Zeiten sich ändern. Viele der alten Gewissheiten – nicht zuletzt die über den neoliberalen Kapitalismus – sind hinfällig. Die atheistische Erweckungsbewegung von Dawkins, Hitchens und Dennett ist vielen Leuten einfach zu beschränkt und dogmatisch. Ich denke, wir erleben gerade den Beginn einer nie dagewesenen Offenheit.“
Tim Adams schreibt für den Observer über Menschen und Kulturthemen. Übersetzung der gekürzten Fassung: Holger Hutt und Zilla Hofman
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