Rote Zahlen, rote Lippen

Stil Viele hoffen auf ein Ende der Krise. Aber die steigende Lippenstift-Nachfrage sagt etwas anderes. Frauen malen sich die Lippen rot, wenn die Zeiten besonders hart sind

Während sich Wirtschaftswissenschaftler und Banker noch über Boni streiten und die Frage diskutieren, wer denn nun die Schuld an der Rezession trägt, rüsten die Kosmetikkonzerne für einen erwarteten Lippenstift-Boom auf. In den vergangenen Monaten hat die Modebranche unverhohlen auf den sogenannten „Lippenstift-Effekt“ geschielt. Zuletzt wurde er in New York nach den Anschlägen vom 11. September beobachtet. Wenn die Zeiten schlecht sind, hält sich die weibliche Kundschaft beim Kauf von Designerkleidung und Handtaschen zurück, stattdessen schlägt sie aber bei den günstigeren Luxusartikeln richtig zu. Kosmetik-Geschäfte in Großbritannien beobachten in diesem Winter bereits einen deutlichen Anstieg beim Verkauf von Lippenstiften.

Und so wollen die großen Kosmetikkonzerne nun aus dem „Lippenstiftkrieg“ 2010 Kapital schlagen, wenn sie im Frühjahr ihre neuen Kollektionen herausbringen. Um vom Boom zu profitieren, wetteifern sie um die schönsten Models für ihre Kampagnen. Scarlett Johanssons berühmter Schmollmund wird für die neue Kollektion von Dolce Gabbana in kräftigem Beerenrot bemalt. Chanel hingegen hat die französische Sängerin und Freundin des Schauspielers Johnny Depp, Vanessa Paradis, als Gesicht für den neuen „Rouge Coco“-Lippenstift verpflichtet. Georgia Jagger, die von ihrem Vater Mick Jagger die berühmten Lippen geerbt hat, taucht diese für die neue Kollektion von Rimmel in tiefstes Rot.

„Der Lippenstift-Effekt hat bei uns zu 12 Prozent mehr Absatz geführt“, erklärt Niravta Patel vom Londoner Kaufhaus Selfridges. Der Verkauf von Lippenstiften der Marke Yves Saint Laurent stieg im vergangenen Jahr um 20 Prozent, bei Dior verzeichnete man immerhin 15 Prozent. „In diesem Frühjahr dreht sich alles um die richtige persönliche Farbe und um die wichtigsten Kosmetik-Trends. Welche Designerschuhe oder -kleidung man trägt ist nebensächlich. Das Alter ist dabei egal. Alle experimentieren mit ihren Lippen und Nägeln und sogar mit falschen Wimpern.“

Schon Kleopatra malte sich die Lippen an

Rund 80 Prozent der Britinnen tragen Lippenstift, 13 Prozent von ihnen ziehen sich öfters als acht Mal am Tag die Lippen nach. Doch genau so, wie die Rocksäume und die Absätze kürzer und länger werden, so war auch der Lippenstift schon immer mal in und mal out. Die alten Ägypterinnen verließen niemals das Haus ohne ihn. Kleopatra zerquetschte rote Käfer, Elisabeth I. verwendete Bienenwachs und Pflanzenextrakte. 1770 erklärte das englische Parlament Lippenstift für illegal. Frauen, die „Männer mit Hilfe von Kosmetik zur Ehe verführten“, konnten gemäß diesem Gesetz wegen Hexerei verurteilt werden.

Königin Viktoria empfand Lippenstift als „vulgär“. Doch bereits aus den Zwanzigern sind Benimmbücher überliefert, die den emanzipierten Frauen dieser Zeit beibrachten, dass es in Ordnung sei, den Lippenstift während des Mittagessens am Tisch nachzuziehen, nicht jedoch abends, wenn man beim Dinner sitzt. Gwyneth Paltrow soll einmal gesagt haben, Schönheit bedeute „sich in seiner eigenen Haut wohlzufühlen. Das oder ein knallroter Lippenstift.“

„Ein Lippenstift kann der beste Freund einer Frau sein und jedem Look Glamour verleihen“, so erklärt sich Paul Harrington, künstlerischer Leiter beim Kosmetikkonzern Bobbi Brown, den massiven Verkaufsanstieg, der dafür sorgte, dass seiner Firma über Weihnachten ihr Lippenstift in „Classic Red“ ausging. Jüngere Frauen, die früher vielleicht ein Lippgloss genommen hätten, entscheiden sich nun auch für dass volle Programm. Nach dem 11. September stiegen die Verkaufszahlen; Leonard Lauder, Vorstandsvorsitzender bei Estée Lauder, sprach damals von seiner „Lippenstift-Index“-Theorie, das Phänomen ließ sich bereits während der Großen Depression in den Dreißigern beobachten.

Die roten Lippen widersprechen den Ökonomen

Wer also denkt, dass es wirtschaftlich nun wieder aufwärts geht – das National Institute of Socio-Economic Research kündigte vergangene Woche an, die Rezession sei vorbei – der muss sich von den Lippen der Frauen auf der Straße vielleicht eines besseren belehren lassen.

Oder, um es mit den Worten der Schauspielerin und Feministin Carole Lombard zu sagen: „Ich habe nach den Regeln eines Mannes gelebt, die für eine Männerwelt gemacht wurden, aber gleichzeitig werde ich nicht vergessen, dass es die wichtigste Aufgabe einer Frau ist, einen Lippenstift in der richtigen Farbe auszuwählen.“

Jetzt schnell sein!

der Freitag digital im Probeabo - für kurze Zeit nur € 2 für 2 Monate!

Übersetzung: Christine Käppeler
Geschrieben von

Tracy McVeigh | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

The Guardian

Freitag-Abo mit dem neuen Roman von Jakob Augstein Jetzt Ihr handsigniertes Exemplar sichern

Print

Erhalten Sie die Printausgabe zum rabattierten Preis inkl. dem Roman „Die Farbe des Feuers“.

Zur Print-Aktion

Digital

Lesen Sie den digitalen Freitag zum Vorteilspreis und entdecken Sie „Die Farbe des Feuers“.

Zur Digital-Aktion

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen