Schlacht um Kingston

Jamaika In Jamaikas Hauptstadt ziehen ganze Stadtviertel in den Krieg, um einen verurteilten Drogenboss zu schützen. Für viele ist "Coke" mit seiner Gang eine Art Robin Hood

Kein Weg führt hinein und keiner heraus. Die Straße wird von umgekippten Autos, behelfsmäßigen Barrikaden aus Brettern und Steinen und einem erschöpften Soldaten, der im Regen steht, versperrt. Kommt einer in seine Nähe, wedelt er drohend mit dem Gewehr.

Aber wenigstens sind Teile des Viertels Tivoli Gardens seit Ende Mai wieder zugänglich, auch wenn die Spuren der schweren Kämpfe von Armee und Polizei mit den Drogenkartellen allgegenwärtig bleiben. Hier lag bis vor wenigen Tagen das Zentrum eines Kleinkrieges, der in Jamaikas Hauptstadt Kingston entbrannt war.
Gebäude sind von Kugeln und Handgranaten durchlöchert, Hausgängen von Blutspuren bedeckt. Im Großen und Ganzen harren nur noch Frauen und Kinder aus. Auch dort, wo es wieder sicher ist, das Haus zu verlassen, wagen sie sich nicht auf die Straße.

Auf dem Bustamente Highway wird eine Gruppe von patrouillierenden Soldaten von einigen Frauen verhöhnt und beschimpft. Paula Gray hält ihnen wild mit den Armen fuchtelnd vor, sie hätten ihren 15-jährigen Sohn Horrace vor drei Tagen abgeführt. Seither bleibe er verschwunden. “Ich weiß nicht, wo er ist. Ich hoffe, sie haben mit ihm nicht dasselbe getan, wie mit dem Mann von gegenüber. Sie marschierten in sein Haus und haben ihn erschossen. Aus nächster Nähe. Er war nicht bewaffnet.”

An dieser Stelle des Viertels werden Trümmer ausgebrannter Fahrzeuge und Barrikaden aus Autoreifen und Stacheldraht von der Armee an den Straßenrand geräumt. Doch nur wenige Blocks entfernt beginnt das nächste Sperrgebiet. Dort stehen die Barrikaden noch, hinter denen sich Soldaten und verschanzt haben und ihr Gewehr im Anschlag halten. Bislang sollen 500 Männer, vielleicht auch mehr, von Soldaten abgeführt worden sein. Die Dons, deren Banden in einigen Teilen Kingstons die Straßen fest im Griff hatte, wurden geschnappt oder haben sich ergeben.

Stacheldraht unter Strom

Der einzige, den die Regierung nicht fangen konnte, ist Coke, der mutmaßliche Don der Shower Posse, die so genannt wird, weil sie Feinde mit einem Kugelhagel in Schach zu halten pflegt. Coke wird abwechselnd als der eigentliche politische Machthaber im Land, als eine Art Messias oder Kopf eines kriminellen Imperiums dargestellt, dessen Fühler bis in die USA und nach Europa reichen. Im Volksmund wird er „der Präsident“ oder „Bossy“ genannt.

Als die Regierung ankündigte, sie wolle Coke an die USA ausliefern, bekam man einen Eindruck von der Reichweite seiner Macht: Ganze Viertel wurden mobilisiert. Cokes Anhänger errichteten in Null Komma nichts Barrikaden. Zwischen Stromleitungen wurde Stacheldraht gespannt. Dann demonstrierten die Banden ihre Verachtung für die Staatsgewalt durch Angriffe auf Polizeiwachen. Auf der Darling Street wurde eine jahrhundertealte Polizeiwache aus der britischen Kolonialzeit vollkommen zerstört, am helllichten Tag mit Brandbomben beworfen und geplündert.

In Kingston wurde der Notstand ausgerufen, die größte Mobilisierung von Sicherheitskräften in der Geschichte des Inselstaats begann. Die Polizei vermeldet inzwischen, die Ausrüstung, die sie seither beschlagnahmt habe, deute auf einen bewaffneten Aufstand hin: Munition, Kampfanzüge, kugelsichere Westen. Nur vom gefürchteten Präzisionsschussgewehr Grizzly Big Boar – eine Waffe, die von Scharfschützen der US-Armee verwendet wird, Panzerungen durchschießt und angeblich zur Ausrüstung von Cokes Sicherheitsleute gehört, wurde bislang kein Exemplar gefunden.
Ende Mai stand die Zahl der Todesopfer offiziell bei 44, doch wird sie noch steigen. Mit anderen Worten, es gibt viele Fragen, die Informationsminister Daryl Vaz beantworten müsste. Auf wie viele Bewaffnete stießen die Sicherheitskräfte? Gab es Kontakt zwischen Coke und der Regierung? Haben die Truppen sein Haus durchsucht? Und vor allem: Wer sind die Toten? Für Jamaikas Oberstaatsanwalt Earl Witter wirft die hohe Anzahl getöteter Zivilisten im Vergleich zur geringen Menge gefundener Waffen Fragen auf: “Die Sicherheitskräfte haben ihre eigene Erklärung. Sie scheinen das nicht besonders eigenartig zu finden – ich schon”. Die jamaikanische Presse berichtet über zwei aufgefundene Männer, deren Leichen darauf hindeuten, dass sie von Cokes Anhängern ermordet wurden, weil sie sich weigerten, für ihn zu kämpfen.

Tod in der Zelle

Cokes eigene Biografie ist von Gewalt geprägt. Zwei Brüder und eine Schwester wurden erschossen. Sein Vater Lester, der einst Anführer der Shower Posse war, starb 1992 durch einen Brand in seiner Gefängniszelle. Er wartete dort auf die Auslieferung an die USA, wo er wegen Drogenhandels und Mordes unter Anklage stand.

Der Abgeordnete Tom Tavares-Finson, der bis zum Auslieferungsbefehl Cokes Anwalt war, beschreibt seinen Klienten als „gewöhnlichen Jamaikaner, der seinen täglichen Geschäften nachgeht. Niemand hat jemals etwas davon gehört, dass er in irgendwelche kriminellen Vorgänge verwickelt gewesen wäre”, meinte er Ende 2009 gegenüber dem Jamaica Observer. “Er versucht nur seinen Kindern, seiner Familie und seiner Gemeinde durch seinen Einfluss ein besseres Leben zu bieten. Er nimmt das sehr ernst, und es ist sein Einfluss, der Veränderungen im Westen von Kingston voranbringt.” Es sei nicht Cokes Schuld, wenn die Leute ihn “zu einer mythischen Figur” verklärten. “Das ist nicht sein Werk. Wenn er machen könnte, was er will, dann wäre er nicht auf den Titelseiten der Zeitungen.”
Das mag stimmen. Anders als die eher prahlerischen Dons, wie der im Gefängnis sitzende Donald “Zekes” Phipps, der es liebte, für die Fernsehkameras zu posieren und mit Macht zu prahlen, ist Coke einer, der Scheinwerferlicht meidet. Selbst in den wilden Nachtclubs war er bekannt dafür, in einer Ecke zu sitzen (wenn auch inmitten von leichtbekleideten Frauen), während die anderen Dons sich auf der Tanzfläche produzierten.

Auch Cokes Anhängern konnte nicht entgehen, dass der gewaltige Reichtum, der es ihm ermöglichte, so viel Macht auszuüben, auf kriminellen Aktivitäten beruhte. Doch auf Jamaika hält man fast jeden Politiker für einen Betrüger. Aber Coke habe sich immerhin um sie gekümmert, sagen die Leute. Was mit Sicherheit stimmt. Coke schickt die Kinder der Armen in die Schule und kaufte ihren Familien etwas zu essen. Er blieb in den Augen der Armen auf eine Weise loyal, die sie bei Politikern vermissen.

„Es gibt hier keine Arbeit”, sagt Margaret. “Wir haben entweder nur Geld für Essen oder für Kleider. Wenn eines unserer Kinder krank wird, wer bezahlt das?” Bislang haben das Coke übernommen. Ihm ist es zu verdanken, wenn die Bewohner in dieser Gegend von Kingston – die als „Garnison“ bekannt ist – keine Mieten zahlen. Und keiner den Strom abgestellt bekommt, wenn er mit der Zahlung im Verzug ist. Die Bande hat in den Straßen, die sie kontrollierte, den Status Quo aufrecht erhalten. Bezeichnenderweise sind denn auch unter Cokes Anhängern viele Frauen, die ihre Familie in Armut aufziehen müssen. Ihnen ist es ziemlich egal, ob er sein Geld damit verdient, dass er den Amerikanern Stoff verkauft.

Escobar noch übertroffen

Mit dieser Strategie fahren Drogenbosse und bewaffnete Gruppen von Kolumbien bis Gaza gut. Pablo Escobar, der einst über das mächtige Medellin-Kartell herrschte, war für die Armen der Stadt eine Art Robin Hood. Er baute den Bedürftigen Straßen, Fußballfelder, Kirchen und gab ihnen Geld, bar auf die Hand. Als Gegenleistung schoben sie für ihn Wache. Wenn er jemanden brauchte, der für ihn Polizeibeamte aus dem Weg räumte, gab es keinen Mangel an Freiwilligen. Dadurch verwandelte sich Medellin zu der Stadt mit der höchsten Mordrate der Welt.

Doch Coke scheint Escobar noch zu übertreffen. Reverend Earlmont Williams beobachtete mit Entsetzen, wie die Frauen auf ihren Transparenten Coke mit Jesus gleichstellten. “Ganz offensichtlich gründet die Wahrnehmung, die viele Einwohner von ihrem Anführer haben, auf ihrem Verständnis des Lebens und der Mission Jesu”, schrieb er im Jamaica Observer. “Mich bestürzt, dass sie den Erlöser-Glauben umkehren. Anstatt, dass der Garnisons-Messias für sein Volk sterben soll, sind sie bereit für ihn zu sterben.”

Übersetzung: Christine Käppeler


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Geschrieben von

Chris McGreal | The Guardian

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