Einerseits gibt es Lipezk natürlich schon: Man findet die Region im Diercke-Weltatlas auf Seite 281, 375 Kilometer südöstlich von Moskau unweit der ukrainischen Grenze. Zugleich existiert Lipezk aber auch wieder nicht: In dem dünnen Atlas, den die meisten von uns im Kopf mit sich herumtragen, kommt der Verwaltungsbezirk Lipezk mit seinen 1,2 Millionen Einwohnern schlechterdings nicht vor. Niemand, den man kennt, macht dort Urlaub, in den Zeitungen wird Lipezk nicht erwähnt.
Im September, als Natasha Grand auf ihrem Rückweg aus Lipezk in Moskau Station machte, erzählte sie einem russischen Bekannten, wo sie gewesen war. „Ich weiß noch nicht einmal, wo Lipezk liegt“, antwortete der, nur halb im Scherz. Manche Russen verwechseln Lipezk mit Wizebsk, das in Weißrussland liegt. Und genau das ist der Grund, weshalb Natasha Grand nach Lipezk fährt: um Lipezk als Marke aufzubauen, um das Profil der Region zu schärfen und sie in unsere kognitive Landkarte einzupflanzen.
Natasha und ihr Mann Alex Grand sind die Gründer eines Londoner Unternehmens namens „Institute for Identity“ (Instid), das seine Dienste den Behörden von Städten, Regionen und ganzen Nationen anbietet. Instid entwickelt Strategien, um Orte zu vermarkten. Und auch wenn ein Teil ihrer Arbeit darin besteht, den Fremdenverkehr anzukurbeln – etwa indem sie einen Werbeslogan erfinden oder Logos für Touristikmaterialien –, geht es den Grands eigentlich um viel mehr. Sie sind davon überzeugt, die Identität eines Ortes herausarbeiten zu können – oder zumindest eine Identität: etwas, woran eine Regierung sich orientieren kann, um im Ansehen ihrer Nachbarn zu steigen, sinnvoll mit ihren Ressourcen zu wirtschaften und sich der Welt von ihrer besten Seite zu zeigen.
Im 21. Jahrhundert ist „Nation-Branding“ eine Dienstleistung mit reger Nachfrage geworden, und ihre Anbieter legen großen Wert darauf, dass das, was sie da tun, etwas anderes sei als plumpes Standortmarketing. Ein besonders talentierter Werbetexter hat Moses Israel schmackhaft gemacht, indem er es das „gelobte Land“ nannte; Erik der Rote gab einem großen Eisblock den Namen Grönland, grünes Land, in der Hoffnung, so mehr Siedler anlocken zu können; Milton Glaser druckte „I ❤ NY“ auf eine Milliarde T-Shirts. Doch das Ehepaar Grand sieht in seiner Arbeit mehr als nur das Kreieren von Slogans. Für sie handelt es sich eher um eine Art der Psychologie: um Länder-Coaching, Städte-Therapie. „Blicke nach innen und entdecke dich, finde deinen Platz in der Welt!“
Nationen sind immer Fiktion
Natasha und Alex Grand haben sich auf etwas spezialisiert, was man knifflige Kandidaten nennen könnte: Städte und Regionen in der ehemaligen Sowjetunion. Ihr Kunde in Lipezk, die Verwaltung für Tourismus und Kultur, sitzt im fünften Stock eines tristen Gebäudes in der Stadt Lipezk, dem Verwaltungszentrum der gleichnamigen Region. Leiter der Verwaltung ist Wadim Wolkow, ein Mann mit kantigem Gesicht und einem rechteckigen Oberkörper. Anfang des Jahres, als seine Mitarbeiter in der Tourismusbehörde eine Reihe repräsentativer Souvenirs zusammenstellen wollten, wurde ihnen klar, dass sie kein kohärentes Bild ihrer eigenen Region hatten. Lipezk brauche eine Richtung, ein geteiltes Ziel, erklärt Wolkow den Grands. Er wünschte sich, seine Region wäre mehr wie Woronesch – eine größere Stadt in einer Nachbarregion und die Art von Gegend, die die Menschen sofort wiedererkennen. Auf Englisch stellt Wolkow sich ein Gespräch eines Landsmanns im Ausland vor. „Woher kommen Sie?“ – „Aus Lipezk.“ – „Woher bitte?“ – „Eine Stadt in der Nähe von Woronesch.“ – „Ohhhhh, ich kenne Woronesch!“ Die Grands machen eifrig Notizen.
Die Frage, was eine Nation zur Nation macht, war immer schon schwierig, und zugleich unausweichlich. Jeder moderne Nationalstaat hat auch den Anschein eines nationalen Wesens hervorgebracht, einer Identität, die einzigartig erscheint, selbst wenn es sich nur um eine Mischung aus Wahrheit und Lügen, Auslassungen und Übertreibungen handelt. Doch seit den 1990ern hat die Heilslehre der Globalisierung an dieser Idee genagt, darauf bestehend, dass Länder bloß Verkaufsstände auf einem globalen Marktplatz seien, und nicht die romantische Verkörperung eines irreduziblen Volksgeistes. Man könne sie wie Unternehmen verstehen – und so sollten sie sich auch benehmen. In einer Zeit, in der Kapital und Menschen sich frei bewegen könnten, so das Postulat, müssten Länder, die als Standort attraktiv sein wollen, sich umso besser verkaufen. Die Identität eines Landes dient so – vielleicht zum ersten Mal in der Geschichte – als Anziehungspunkt für den Rest der Welt, statt die Nation von der Außenwelt abzugrenzen.
In den letzten Jahren haben die Folgen der Globalisierung den Glauben von Nationen daran erschüttert, wer sie eigentlich sind, und die Vorstellung durcheinandergebracht, was ein Nationalstaat sein sollte. Regionen und Länder – von Lipezk bis zu den USA – haben auf einmal das Gefühl, sie müssten ihre Identität einer Überprüfung unterziehen, und sie verändern. Und war das am Ende nicht auch die treibende Kraft hinter dem Brexit, die Wut darüber, dass das, was manche – zu Recht oder zu Unrecht – als genuin britische Identität begriffen, sich in den seichten Gewässern der Europäischen Union aufzulösen drohte?
Eine Folge dieser Identitätskrise besteht in der Zunahme eines Blut-und-Boden-Populismus, eine andere im Aufstieg des Nation-Brandings. Beide sind im Grunde Spiegelbilder: Ersterer versteht nationale Identität als etwas Unveränderliches und ihre Neuentdeckung als Präludium neuer Größe, Letzteres betrachtet sie als ein Produkt, das klar definiert und vermarktet werden will. Beide versuchen, wenn auch auf unterschiedliche Art und Weise, eine markantere Version dessen wiederzuerlangen oder zu kreieren, was das mutmaßliche Wesen eines Landes ausmacht.
In der Ex-UdSSR beraten Natasha und Alex Grand Regionen und Länder, die versuchen, sich von ihrer sowjetischen Vergangenheit abzusetzen, aber unsicher sind, wie sie sich für die Zukunft positionieren wollen. Deshalb, und weil die beiden aus Belarus und Russland stammen, haben sie Kampagnen für Moskau und Jerewan entworfen, für Baschkortostan und die Region Primorje. Lipezks Tourismuschef, Wadim Wolkow, war besonders davon angetan, was Instid für die Autonome Russische Republik Tatarstan geleistet hat. Etwas Ähnliches wollte er auch für Lipezk. Im September unternahm das Ehepaar Grand – zusammen mit einer Forschungsassistentin und einem Grafiker – eine erste Reise nach Lipezk, um den Charakter der Region zu ergründen und herauszufinden, wie sie ihn den Menschen vor Ort vermitteln könnten.
Der Begriff „nation brands“ tauchte zum ersten Mal 1998 in einem Artikel von Simon Anholt auf. Anholt hatte in der Werbung gearbeitet, und irgendwann begonnen, darüber nachzudenken, wie der Erfolg von Marken mit dem ihrer Ursprungsländer zusammenhängen könnte. Anholts erster Auftrag, die Marke eines Landes zu formen, kam von der kroatischen Regierung, als diese sich um die Aufnahme in die EU bewerben wollte. Damals machte man sich in Kroatien Sorgen, die Außenwelt würde das Land immer noch mit den Balkankriegen der 1990er in Verbindung bringen. Stattdessen wollte Kroatien sich jetzt als moderner demokratischer Staat mit mediterranem Flair einen Namen machen.
Im Verlauf der 2000er Jahre wuchs die Branche schnell. Wally Olins, ein Marketingexperte, der für VW und General Electric gearbeitet hatte, stieg Ende der 1990er ins „Place-Branding“ ein. Olins betrachtete die Schaffung einer nationalen Identität als eine Form von „Social Engineering“, bei der man dieselben Werkzeuge wie beim Firmenmarketing einsetzen könne: „Menschen sind Menschen, und das bedeutet, dass sie auf dieselbe Weise, mit denselben Techniken, motiviert und inspiriert werden können“, schrieb er 2002. Bald entstand eine Handvoll Firmen, die sich auf Nation-Branding spezialisierten, während andere – PR-Unternehmen, Marketing-Agenturen, Management-Berater – die Dienstleistung in ihr Angebot aufnahmen. Das Image eines Landes aufzupolieren, kann Aufträge von einer halben bis zu mehreren Millionen Dollar einbringen; Städte und Regionen zahlen entsprechend weniger.
„Land der Ideen“
Eine Zeit lang konnten Nationalstaaten gar nicht genug von dieser Art des Ländermarketings bekommen. Getreu dem neoliberalen Credo, dass sich Entwicklungsländer nur dem globalen Markt öffnen müssten, um Wachstum zu erzielen, entspannte sich ein Wettbewerb um ausländische Investitionen, in dem sich die Staaten entsprechend ins Zeug legten, als möglichst attraktive Standorte zu erscheinen. Um als stabil und wirtschaftlich erfolgreich wahrgenommen zu werden, schaltete die ehemalige Sowjetrepublik Georgien eine Kampagne, in der sie sich entlang der Geschichte ihrer Weinkultur oder ihrer schlanken Bürokratie mit Ländern wie Frankreich oder Australien verglich. „And the winner is …“, hieß es am Ende jedes Spots, „Georgia!“ Deutschland vermarktete sich mit der Behauptung, das „Land der Ideen“ zu sein, und Jamaika warb um potenzielle Investoren, die nach einem frechen und kreativen Standort suchen. Als Muammar al-Gaddafi 2004 die Beratungsfirma Monitor Group engagierte, um Libyens Image zu verbessern, kam diese zu dem Schluss, das größte Problem des Landes bestehe in einem „Mangel an positiven Public Relations“. In einer 200-seitigen Zukunftsvision erstellte Monitor einen Plan, wie man Libyen bis zum Jahr 2019 zu einer konkurrenzfähigen und anerkannten Führungsmacht entwickeln wolle. 2011 wurde Gaddafi gestürzt und von Rebellen erschossen – nur acht Jahre, bevor sein Imagewandel zu einem „konstruktiveren Weltbürger“ abgeschlossen sein sollte.
Lässt man kommerzielle Beweggründe beiseite, offenbart das Bedürfnis nach Standortmarketing eine tiefergehende Ratlosigkeit. Jedes Land, jede Region und jede Stadt ist heute ein Wettbewerber auf dem lärmenden Basar, den wir unter dem Namen „Weltmarkt“ kennen. Für manche Orte ist diese Rolle neu; für andere so alt, dass sie es nicht gewohnt sind, plötzlich mit Konkurrenz umgehen zu müssen. Um wahrgenommen zu werden, muss ein Ort unterscheidbar sein und einzigartig scheinen. Das ist alles andere als einfach, wenn zugleich eine homogene Kultur des gemeinsamen Weltmarktes alle Unterschiede einebnet, wenn der globale Kapitalismus seine Schneisen schlägt, und Immigration oder Emigration von Arbeitskräften den Charakter eines Ortes verändern können und dazu führen, dass sich seine gefühlte kollektive Identität verändert.
All das befördert ein Gefühl der Unsicherheit, das die verschiedenen Ausprägungen des Nationalismus auszunutzen versuchen. Die Wahlsiege von Demagogen, die Polarisierung einzelner Gesellschaften und die Sehnsucht, aus multilateralen Blöcken auszuscheren: Sie alle verbindet der Versuch, aus den neuen Unsicherheiten der Nationalstaaten Kapital zu schlagen.
Wer liebt schon Lipezk?
Natasha Grand hat ihr bisheriges Leben teils in Belarus, teils in Großbritannien verbracht. Sie wuchs inmitten historischer Turbulenzen in Minsk auf, war 13, als die Sowjetunion sich auflöste und Weißrussland unabhängig wurde. „Ich erinnere mich daran, wie aufgeregt meine Eltern waren“, sagt sie, „und an dieses intensive Gefühl, dass etwas Großes von historischen Ausmaßen geschieht.“
Doch die Dinge kamen anders. Bei den ersten Wahlen im Jahr 1994 wählte Weißrussland den früheren Apparatschik Alexander Lukaschenko zum Präsidenten, welcher es geschafft hat, bis heute an der Regierung zu bleiben. Dass die Menschen in Weißrussland vielleicht nicht wirklich bereit waren, in eine postsowjetische Zukunft aufzubrechen, wurde auch auf andere Weise deutlich. Nach der Unabhängigkeit hatte das Land das lange unterdrückte Weißrussisch zur offiziellen Sprache der Republik erklärt. Das aber war so ungewohnt geworden, dass eine Gegenreaktion einsetzte: In einem Referendum sprachen sich 87 Prozent der Wahlberechtigten dafür aus, dass Russisch dem Weißrussischen gleichberechtigt zur Seite gestellt werden solle; dasselbe galt für ein neues Staatswappen, welches dem der Sowjetrepublik Weißrussland nachempfunden war. Das Pahonia, ein altes weißrussisches Wappenmotiv mit einem Ritter auf einem Pferd, wurde nach vier Jahren als Emblem des Landes wieder verworfen. Zu dieser Zeit studierte Natasha Grand Internationale Beziehungen, ihre Universität befand sich direkt neben dem Regierungsgebäude. Eines Tages sah sie, wie die Wappen auf dem Giebel des Gebäudes ausgetauscht wurden – das Pahonia verschwand, ein neosowjetisches Symbol trat an seine Stelle. Grand und ihre Kommilitonen sahen schweigend zu. Eine ihrer Freundinnen weinte.
Diese Dilemmata der Identität hinterließen Spuren bei Grand. Nicht dass sich die Stimmung in der Bevölkerung von einem auf den anderen Tag geändert hätte, eher war ihr nicht klar gewesen, wie diese Stimmung überhaupt aussah. Als sie gerade an der London School of Economics ihre Dissertation schrieb, lernte sie ihren Mann Alex kennen, der in Moskau für einen Sportverband gearbeitet hatte, bevor er für ein Management-Studium nach Großbritannien kam. 2008 gründete das Paar Instid und nahm kurz darauf den ersten Auftrag an: Sie sollten Grands Heimatstadt Minsk eine neue Identität verpassen.
In Lipezk, an seinem ersten Tag dort, sah Alex Grand einen Mann in ehemals edlen, abgelaufenen Halbschuhen und einem schwarz-blauen Trainingsanzug auf den Stufen eines verlassenen Gebäudes sitzen. Der Mann fragte nach einer Zigarette. Alex hatte keine, erkundigte sich aber, was es in Lipezk denn zu sehen gebe. „Nichts“, antwortete ihm sein Gegenüber mürrisch. Die Stadt Lipezk, in der eine halbe Million Menschen zusammengedrängt inmitten einer unendlichen Weite von Ackerland leben, macht in der Tat einen eher trostlosen Eindruck. An den ungepflegten Wohnblocks aus der Zeit der Sowjetunion blättert der Putz ab; die neueren Wohntürme haben dünne Schiebefenster und niedrige Balkone, vollgepackt mit Klimaanlagen und Satellitenschüsseln. Für eine kleine Stadt fühlt sich das Zentrum von Lipezk erstaunlich weitläufig und leer an.
Direkt vor den Toren der Stadt verkündet eine Steinsäule das Datum ihrer Gründung: 1703, als Peter der Große befahl, eine Eisengießerei in der Nähe eines Erzlagers zu errichten. Der moderne Nachfahre dieser Gießerei ist Novolipetsk Steel, gegründet 1931. Mit 29.000 Arbeitern allein im Stammwerk in Lipezk ist der noch immer der größte Stahlproduzent ganz Russlands. Da es sonst nichts gibt, scheint das Stahlwerk die Region zusammenzuhalten.
Die regionale Verwaltungseinheit Lipezk wurde 1954 gegründet, als Teile von fünf Bezirken zu einem verschmolzen wurden. Den Behörden bereitete dieser vergleichsweise junge Flickenteppich Sorgen. „Sie können sich heute immer noch nicht mit jemandem unterhalten und dabei denken: Ah, der ist ein Lipezker!“, sagt Verwaltungschef Wadim Wolkow. Also brauche es eine neue, verbindende Identität.
Kurs zur Käseherstellung
Auf der Suche nach der Identität eines Ortes schlüpfen die Grands in verschiedene Rollen und Berufe. Leger gekleidet, sehen sie aus wie ungewöhnlich beflissene Touristen. Im Bezirk Lipezk besucht das Team ein halbes Dutzend Städte an ebenso vielen Tagen und sieht sich sowohl das Altbekannte – die himmelblaue Kathedrale mit der goldenen Kuppel in Sadonsk – als auch das Unbekannte an: In Tschaplygin besuchen sie einen Kurs zur Käseherstellung, in Jelez ein Museum im Haus des sowjetischen Komponisten Tichon Chrennikow und mitten im Nirgendwo ein kleines Falken-Reservat. Sie verpassen kein einziges Museum, essen gewissenhaft, wählen Restaurants und Gerichte mit regionalem Bezug aus. Sie fotografieren Statuen, Stadtplätze und Graffiti und sind stets bereit, aus allem, was sie sehen, kulturelle Bedeutung „herauszupressen“, was sie wie Semiotiker auf Urlaub erscheinen lässt.
Die Interviews, die die Grands führen, können mehrere Stunden dauern. Sie befragen Regierungsvertreter, Historiker, Museumskuratorinnen, Restauratoren, Fotografen und Künstlerinnen. An einem Nachmittag schauen sie in der Staatlichen Technischen Universität Lipezk vorbei, wo sich eine Klasse von 15 Studierenden über ihre Region unterhält. Die meisten äußern den Wunsch, wegzuziehen. Es gebe nur wenig, was man in Lipezk tun könne, erklären sie. Alex Grand stellt eine Reihe von Assoziationsfragen. „Sagen Sie mir, was Ihnen als Erstes in den Sinn kommt, wenn ich sage ‚Lipezk‘: Moskau? London? Putin?“ Die Grands verfügen über viele solcher Fragen, die sie wie Psychoanalytiker einsetzen. „Wenn Ihre Stadt ein Auto wäre, was für eine Art Auto wäre sie? Wäre sie ein Mann, welche Art von Beruf hätte er? Wie lautet Ihr Lieblingswitz über Lipezk?“
Die Gegend erweist sich als äußerst zäh. Nicht viele der Leute, die das Ehepaar Grand interviewt, haben Lust, über solche Fragen nachzudenken. Ein einheimischer Historiker gibt zu: „Lipezk hat nur ein sehr unbestimmtes Gesicht.“ Die alten Identitätsstifter – die Kirche und das Stahlwerk – hätten im Leben der Menschen langsam, aber sicher an Bedeutung verloren, aber nichts anderes sei an ihre Stelle getreten. Als die deutsche Rockband Scorpions 2008 auf einer Tournee in Lipezk Station machten, kamen kaum Leute, weil die meisten dachten, es könnte sich nur um eine Coverband handeln – die echten Scorpions würden doch niemals nach Lipezk kommen.
Von all ihren Projekten sind die Grands am stolzesten auf jenes in Tatarstan, das ihren Ruf unter den russischen Regionalverwaltungen begründet hat. Die Verwaltung von Tatarstan, einer Republik mit vier Millionen Einwohnern im Südwesten Russlands, war überzeugt davon, dass ihr Land nicht die Anerkennung erhalte, die es verdiene – weder in Moskau noch im Ausland. 2013 entwickelte sie einen Plan, um das Kulturerbe der Region zu bewerben. Als Instid engagiert wurde, wünschte sich die Regierung bloß ein dickes Buch mit Hochglanzfotos und Texten über die Kunstwerke in den Museen von Tatarstan. Den Grands war das nicht genug. Sie wärmten die Zeit der bulgarischen Könige wieder auf, die die Region zwischen dem 7. und dem 13. Jahrhundert regierten, und identifizierten eine Reihe von Haltungen und Werten, die sich ihrer Meinung nach in Tatarstan bis heute bewahrt hatten. Sie gelangten zu der Ansicht, dass Tatarstans Einwohner Perfektionisten seien, ehrgeizig und pragmatisch, die ihre handwerklichen Fertigkeiten fortwährend verbesserten, dass sie gegenüber ihrer Geschichte ein gewisses Gefühl des Verlustes empfanden und eher materialistisch als idealistisch orientiert waren.
Die Ergebnisse solcher Nachforschungen mögen willkürlich erscheinen, doch sie hätten, meint Alex Grand, einigen Initiativen der Regierung Tatarstans Struktur verliehen. Schulen und Universitäten arbeiteten die Stichwörter der Grands in ihre Lehrpläne ein; Architekten legten sie ihren Plänen zugrunde. Die Tourismusbranche, die zuvor gegenüber der Industrie vernachlässigt wurde, bekam nun größere Aufmerksamkeit, ein eigenes Ministerium und ein größeres Budget. Sogar ein Lkw-Hersteller machte Anleihen bei Instids Beschreibung tatarstanischer Robustheit, um seine Produkte zu vermarkten. Für Grand zeigt sich an Tatarstan, wie ihre Identitätsschärfung den Haushalt und die Prioritäten einer Regierung beeinflussen und das Bewusstsein einer Bevölkerung verändern kann.
Zentral für die Kampagne war Tatarstans fest verankerter Glaube an die Wirkungsmacht nationaler Identität. Die Tataren der Region, die ungefähr 55 Prozent der Bevölkerung ausmachen, sind Muslime; die Slawen, die 40 Prozent stellen, sind orthodoxe Christen. Die beiden Gruppen seien wie Öl und Wasser, sagte ein offizieller Vertreter gegenüber Alex Grand einmal – sie tolerierten einander, vermischten sich aber kaum. Und: In das Verhältnis hatte sich eine gewisse Befangenheit geschlichen. In dem Jahr, in dem die Kampagne begann, wurde in der Region eine Reihe von Brandanschlägen auf Kirchen verübt. Ein junger Imam räumte Instid gegenüber ein, er habe Angst vor einer Radikalisierung – Geistliche aus der Region würden in den Nahen Osten gehen und mit einer strengeren Auslegung des Islam zurückkehren.
Die Regierung Tatarstans wollte nicht nur der Außenwelt eine Identität präsentieren, sondern diese auch nach innen wirken lassen, um religiösen und ethnischen Brüchen entgegenzuwirken. Es handelte sich um die ambitionierteste Form der nationalen Mythenbildung, und zugleich um die riskanteste: die Menschen daran zu erinnern – oder ihnen vielleicht zum ersten Mal zu erklären –, was sie miteinander verband und warum sie zusammengehörten.
Eine zynische Lüge
Die Veränderungen der Identität eines Landes gehen langsamer vonstatten als die eines Produktes oder eines Unternehmens, und es ist daher noch zu früh, um zu beurteilen, ob derartige von oben verordnete Neuausrichtungen einer nationalen Identität auf sinnvolle Weise verfangen haben. Wenn etwas schiefläuft, zeigt sich das jedoch schnell. „Die meisten Nation-Branding-Strategien scheitern, und sie scheitern krachend“, sagt José Torres, der Direktor von Bloom Consulting, einer Agentur für Nation-Branding in Madrid. „Sie scheitern in erster Linie, weil die Regierungen nicht über die Mittel verfügen, sie sinnvoll umzusetzen.“ Zugleich liege ja immer im Bereich des Möglichen, dass die Bürger mit einer Kampagne nichts anfangen können oder sogar gegen sie aufbegehren.
Simon Anholt, der Pionier und Wegbereiter der Branche, übt heute scharfe Kritik an der Arbeit von PR-Firmen und Werbeagenturen, die keinen Unterschied zwischen einem Land und einem Unternehmen wie Coca-Cola machen. Hört man ihm zu, bekommt man den Eindruck, er bereue, den Begriff des „nation brand“ geprägt zu haben, weil er sieht, wie dieser zu „nation branding“ verkommt: zynischem Marketing, bar jeder wirklichen Veränderung. „Das Ärgerliche an der Lüge namens Nation-Branding“, so Anholt, „ist, dass sie so viele Länder, die sich das wirklich nicht leisten können, dazu bringt, gewaltige Summen für sinnlose Propaganda-Programme auszugeben, von denen einzig die PR-Agenturen profitieren.“
PR-Profit: Propaganda
Das Wort „Propaganda“ ist hier nicht fehl am Platz. Die Beschäftigung mit nationaler Identität war in der Vergangenheit oft ein Vorläufer von Phasen der Unterdrückung: Wenn eine Nation festlegt, wie jemand zu sein hat, um dazuzugehören, legt sie gleichzeitig auch fest, wer nicht dazugehört. „Vielfalt und Austausch sind das Lebenselixier von Freiheit. Gleichzeitig sind sie die Feinde des Brandings“, schrieb Naomi Klein 2002, nachdem die US-Regierung einen Berater engagiert hatte, um die Marke USA im Ausland aufzupolieren. „Anders als Markenprodukte ist Demokratie unübersichtlich und widerspenstig, wenn nicht gar offen rebellisch“, schrieb Klein weiter. Eine nationale Marke zu entwickeln und aufzuhübschen sei „nicht nur nutzlos, sondern sogar gefährlich“.
Die Vorstellung eines nationalen oder regionalen Charakters – dass etwa die Menschen in Lipezk und Woronesch sich wesentlich voneinander unterscheiden, obwohl die Grenzen, die sie trennen, erst wenige Jahrzehnte alt sind – ist problematisch. Doch Versuche von Machtinstitutionen – Kirchen, Königen, Regierungen –, einen solchen Charakter zu definieren und zu manipulieren, sind kaum neu. Eine Nation, sagte der Philosoph Ernest Renan 1882, sei ein „großer Zusammenhalt“, ihre Existenz „ein tägliches Plebiszit“. Sie müsse Dinge über sich selbst erinnern – und vergessen –, ein ebenso konstanter wie verbreiteter Vorgang.
Der Politikwissenschaftler Benedict Anderson betrachtet diese Konstruktion und Rekonstruktion von nationaler Identität als einen Akt der Imagination. Die herrschenden Eliten haben Nationen herbei-imaginiert, seit der Kapitalismus sich mit der Druckerpresse vermählt hat. Die Verbreitung von Identitätsvorstellungen war dabei genauso wichtig wie ihre Entstehung. Früher fand all das mit Hilfe von Zeitungen und Büchern statt, heute – in einer wesentlich höheren Geschwindigkeit – über Werbebanner, internationale Gipfeltreffen, Investment-Informationsveranstaltungen und Produktplatzierung in Filmen. Der Vorgang ist künstlich nur insofern, wie der Nationalstaat selbst künstlich ist. All dem liegt letztlich die politische Angst zugrunde, die Nation könnte als wichtigste Einheit der Weltpolitik ersetzt werden. Jene Bereitschaft also, Markenexperten zu engagieren, wäre dann eine Art Reaktion auf die drohende Bedeutungslosigkeit – ein Versuch von Nationen und Regionen, sich selbst neu zu definieren. Und ein Versuch, darauf zu beharren, dass sie noch immer unverzichtbar sind.
Nach der Hälfte ihres Aufenthaltes in Lipezk fuhr Natasha Grand in den Norden der Region, in ein Dorf, das früher Astapowo hieß. 1910 starb der Romancier Leo Tolstoi hier. Nach einem Ehekrach mit seiner Frau hatte er das gemeinsame Haus in der angrenzenden Region Tula verlasen und einen Zug bestiegen. Doch sein Abteil dritter Klasse war zugig und verraucht, Tolstoi wurde krank und musste schließlich in Astapowo Halt machen. Ein Arzt verordnete ihm im Haus des Bahnhofsvorstehers Bettruhe, wo sein Schüttelfrost sich zu einer Lungenentzündung auswuchs, an der er eine Woche später verstarb.
Die Bahnhofsuhr steht bis heute auf 6.05 Uhr, dem Zeitpunkt seines Todes. Im Haus des Stationsvorstehers hat man ein Museum eingerichtet, in dem Tolstois Totenbett so erhalten ist, wie es 1910 bestand: eine schmale Pritsche in der Ecke, an ihrer Fußseite ein Stuhl. Auf der Tapete hinter dem Bett lassen sich die Umrisse seines Kopfes erahnen, mit der knolligen Nase und dem ausgefransten Bart. Dabei hätte Tolstoi sich ja genauso gut wieder mit seiner Frau versöhnen oder einen anderen Zug nehmen können, er hätte auf seiner Reise erst später erkranken oder woanders aussteigen können. Dass er in Astapowo strandete und starb, war reiner Zufall, wie alle nationalen Ursprungserzählungen. Doch Astapowo stürzte sich auf diese Laune der Geschichte, und ließ sie nicht mehr los. 1932 änderte das Dorf seinen Namen. Auf der Landkarte heißt es heute Lew Tolstoi.
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