Als Takayo Minakami und ihre neunjährige Tochter Ghislaine von ihrer Reise nach Äthiopien zurückkamen, feuerten sie als Erstes das Kindermädchen. Dann erklärte Minakami ihrem Mann, sie bräuchten den teuren neuen Kleiderschrank nicht; das billigste Modell würde vollkommen genügen. Sie wollte keinen Luxus mehr in ihrem Leben haben. Und Ghislaine stritt sich nicht mehr so oft mit ihren jüngeren Brüdern, sondern umarmte sie oft ohne besonderen Grund. „Es sollte eine Erfahrung werden, die das Leben verändert. Aber es war sogar noch besser“, sagt ihre Mutter. Minakami, 41, und ihre Tochter hatten ein völlig anderes Leben am anderen Ende der Welt kennengelernt.
Sie waren Teil einer Gruppe von Frauen, die mit ihren Töchtern vor kurzem von Seattle nach Addis Abeba flogen, um an einer von einer Hilfsorganisation organisierten Pauschalreise teilzunehmen. Eine Woche lang schaute sich die Reisegruppe Sehenswürdigkeiten an und besuchte Märkte. Doch die meiste Zeit verbrachten sie damit, Dörfer zu besuchen. Sie trafen einige der ärmsten Menschen Äthiopiens, erfuhren etwas über ihr Leben und sahen sich – unter anderem – ihre sanitären Anlagen an.
Water 1st ist eine Nichtregierungsorganisation aus Seattle, spezialisiert auf Wasseranlagen. Sie gehört zu einer wachsenden Zahl von NGOs, die potenzielle Spender zu Pauschalreisen in Entwicklungsländer mitnimmt und ihnen die Arbeit vor Ort zeigt. Die „Wasser-Tour“-Broschüre für die Äthiopienreise versprach „ein einmaliges Erlebnis“. Die Hilfsorganisation kümmerte sich um Anreise, Übersetzer, Unterkunft, Verpflegung und den Kontakt zu Gemeinden und der lokalen Hilfsorganisation, mit der Water 1st zusammenarbeitet.
Von drei- auf fünfstellig
„So gut bekommen sie das wirkliche Leben in einem Land sonst nicht zu sehen“, sagt Kirk Anderson, einer der fünf Mitarbeiter der NGO Water 1st, die seit ihrer Gründung 2005 vier Millionen US-Dollar an Spenden für Projekte in afrikanischen Ländern eingeworben hat. Seine NGO versuche, die Reise so zu gestalten, „dass sie sich so viele Leute wie möglich leisten können“, betont Anderson. Ohne Flug kostet die Reise pro Teilnehmer 1.600 US-Dollar. Eine Gegenleistung wird nicht vertraglich verlangt. Das Konzept ist vielmehr: Überzeugungsarbeit. Einige Spender erhöhten nach einer Reise ihre Gaben von drei- auf fünfstellige Summen, sagt Anderson; andere würden zu lebenslangen Spendensammlern.
Was die Teilnehmer an der Äthiopienreise betrifft: Sie sagten, sie hätten eine „fantastische“ Zeit gehabt und viel gelernt. Die Kinder seien „wie Schwämme“ gewesen, erzählt eine Mutter. Sie hätten die Eindrücke einer Welt aufgesogen, in der Kinder lachen und sich umeinander kümmern, obwohl sie keine Schuhe haben und Fliegen über ihre Gesichter krabbeln.
Man kann das Ganze aber auch anders sehen – und die Reisegruppe weiß das: Es gibt den Vorwurf, hier würden Leute dafür zahlen, dass sie sich anderer Leute Armut anschauen – ein Urlaub quasi als Kompensation für das schlechte Gewissen, in einem Industrieland zu leben. Nur teilen die meisten aus der Gruppe die Kritik nicht. „Wir leben in einer kleinen Blase, wir sind sorgenfrei, wir haben schöne Häuser, Essen, sauberes Wasser“, sagt Susan Sercu, 39, die ihre zwölfjährige Tochter mit auf die Reise genommen hat. „Wir wollen, dass unsere Kinder empathisch und informiert sind. Ich habe kein schlechtes Gefühl wegen dem Geld, das ich ausgegeben habe, weil es lehrreich war und wir jetzt Sprecher sein können, die es hoffentlich allen weitersagen.“
Was die besuchten Äthiopier davon hielten? Kirk Anderson von Water 1st behauptet jedenfalls, sie hätten sich sehr gefreut, Westler zu treffen, die so weit gereist waren, um etwas über das Leben in Äthiopien zu erfahren.
Sind solche Reisen die Zukunft für Entwicklungshilfeorganisationen? Menschen zu zeigen und nicht nur zu erzählen, wie hart das Leben für die Ärmsten ist? Wird dies auch der Weg für den anspruchsvollen Spender, um zu entscheiden, ob eine Organisation seine Unterstützung verdient?
Einige Kinderhilfsorganisationen haben trotz der Zeit und Ressourcen, die das den lokalen Mitarbeitern abverlangt, Arrangements getroffen, damit einzelne Spender das von ihnen unterstützte Kind treffen können. Viele nehmen Großspender, Vorstandsmitglieder und Entscheidungsträger auch auf „Vertiefungsreisen“ mit. Andere bieten Arbeitsreisen für Freiwillige und Abenteuerferien zur Geldbeschaffung an.
Spendentourismus wächst
Im vergangenen Jahr wandte sich der US-Ableger des Kinderhilfswerks Plan International erstmals an eine spezialisierte Reiseagentur für eine Gruppenreise von Spendern nach Ghana. Die spezialisierte Agentur „Elevate Destinations“ sagt, ihr Geschäft mit dem Spendentourismus wachse schnell – allein für die Spender von Plan International USA organisiert sie in diesem Jahr Reisen in drei weitere Länder. Doch vor allem Nothilfespezialisten kritisieren das Konzept von Hilfsorganisationen, größeren Besuchergruppen regelmäßig ihre Arbeit zu zeigen. Vor zwei Jahren führte Ärzte ohne Grenzen Schweiz den Grundsatz ein, nicht mehr als zwei Spender mitzunehmen. Aber, sagt ihr Kommunikationschef Laurent Sauveur, „wir sind weit von jedem Konzept des humanitären Tourismus entfernt. Wir treten nicht als Reiseagentur auf“.
Während Nothilfeorganisationen aber auf die Mitleidswellen nach einer Katastrophe bauen können, realisieren Entwicklungshelfer, dass Spender zunehmend etwas zurückbekommen müssen, will man sie langfristig binden. „Dem Spender ein ‚Erlebnis’ zu bieten, das tritt immer mehr ins Blickfeld“, sagt Richard Turner der britischen NGO ActionAid, die Kinder unterstützt. Die jüngste Werbekampagne von ActionAid spiegelt das wider. Ein Spender sagt darin: „Ich habe nicht nur die Welt verändert. Ich habe mich selbst verändert. Welch ein Gefühl!“
Sophie Arie schreibt unter anderem für das Reiseressort des Guardian
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.