Als Frédéric Chaubin im Jahr 2003 über einen Markt in der georgischen Hauptstadt Tiflis streifte, entdeckte er ein altes Buch. Zwar konnte der französische Fotograph die kyrillischen Schriftzeichen nicht lesen, von den Bildern, die der Band enthielt, war er aber sofort fasziniert.
Es handelte sich um eine Chronik von siebzig Jahren post-revolutionärer sowjetischer Architektur, die eine außerordentliche Sammlung von Gebäuden der ungewöhnlichsten Stilrichtungen enthielt: Von den sowjetischen Schulen des Suprematismus (eine kontrollierte Explosion geometrischer Formen) und des Konstruktivismus (wilde Überhänge, provokante Winkel) gab es eine starke westliche Unterströmung in welcher von Alvar Aalto und Antoni Gaudí bis zu Oscar Niemeyer alles widerhallte. Durchzogen war dabei alles von einem Element sowjetischer Übersteigerung, ein Anklang von Sputnik, Raketen und fliegenden Untertassen.
Ein eigenes Machu Picchu
Chaubin hatte Blut geleckt und es begann eine sieben Jahre andauernde Odyssee auf der Suche nach einigen der ungewöhnlichsten architektonischen Kreationen der Sowjetära. Viele von diesen sind heute in ihrem Fortbestand bedroht. Jedes einzelne Gebäude habe eine ganz eigene Faszination ausgestrahlt, so Chaubin. „Es war so, als fände man ein bislang unbekanntes Monument – ein eigenes Machu Picchu.“ Das unglaubliche georgische Straßenministerium zum Beispiel, ein heroisches Arrangement mit Fenstern ausgestatteter Rechtecke, das in den 1970ern fertig gestellt wurde. Auf Grundlage eines Konzeptes, das die Raumstadt-Methode genannt wurde, legt das Gebäude ein Umweltbewusstsein an den Tag, das seiner Zeit weit voraus ist (insbesondere, was Verkehrsbehörden angeht). Das Ministerium nimmt nur wenig Grundfläche in Anspruch und gibt der Natur dadurch Raum, sich unter ihm auszubreiten. Oder die Abteilung für Umwelt des Polytechnischen Institutes von Minsk (LINK: Polytechnic Institute of Minsk ). Auf Chaubins Aufnahme, die in seinem Buch CCCP - Cosmic Communist Constructions Photographed zu sehen ist, welches die Ergebnisse seiner Odysee versammelt, erinnert es an eine riesige Fähre, die sich ihren Weg durch einen zugefrorenen belarussischen Fluss bahnt.
Des Weiteren wäre da das phantastische, am Meer gelegene Druschba-Sanatorium bei Yalta: Das aus einer mit Bäumen bewachsenen Böschung hervortretende Gebäude besteht aus mehreren Lagen steinerner „Zahnräder“, deren Aussparungen jeweils einen Wohnraum darstellen. „Der türkische Geheimdienst und das Pentagon hielten es irrtümlich für eine Raketenbasis“, sagt Chaubin, der freimütig einräumt, dass es sich bei seinem Buch um die Arbeit eines aufmerksamen Amateurs handelt und nicht um die eines Experten. Vielleicht sollten wir dafür sogar dankbar sein, denn man hat Mühe sich vorzustellen, dass ein Experte einen solchen Aufwand betrieben hätte wie Chaubin. Sein Buch enthält eine hinreißende Aufnahme des Feriendomizils des armenischen Präsidenten – ein moderner gläserner Turm auf einer Halbinsel, der über dem Sevan-See und den dahinterliegenden Bergen trohnt wie ein Wachturm. Für die Aufnahme, die auf meisterhafte Weise den Charakter der Unbezwingbarkeit einfängt, den das Dominzil ausstrahlt, musste Chaubin ein Boot mieten und sich so nah an das Gebäude heranpirschen, wie er sich traute. Er setzte sich dabei der Gefahr aus, die Aufmerksamkeit der gut bewaffneten Sicherheitsleute zu erregen.
Vorboten des Zusammenbruchs
Es mag an der Sprachbarriere gelegen haben, und daran, dass die Erbauer dieser Wunder nur selten gefeiert wurden und Besucher nicht wirklich ermuntert wurden, die Sowjetunion abseits der ausgetretenen Pfade zu bereisen - jedenfalls sind diese architektonischen Errungenschaften der Sowjetunion im Westen fast völlig unbemerkt geblieben. Zwar wurde über ihre Eröffnung berichtet, für gewöhnlich aber nur in einem staatlichen Architektur-Magazin oder in Büchern wie jenem aus der 1987 veröffentlichten Reihe zum 70. Jahrestag der Oktoberrevolution, in denen die Architektur aller 15 Sowjetrepubliken aus dieser Periode gefeiert wurde - und die Chaubin bei seinem Bummel über den Markt entdeckte.
Was Chaubin aber am meisten erstaunte, war, dass die faszinierendsten Gebäude von allen, die er gefunden hatte, in der Endphase der Sowjetunion entstanden waren. „Sie wurden alle in den letzten 15 Jahren der Sowjetunion erbaut. Es mag einen zunächst verwundern, dass so viele verschiedene Formen realisiert wurden, vor allem, wenn man bedenkt, dass die meisten Gebäude zu der Zeit immer noch mithilfe der Fertigbauweise errichtet wurden, die Krustschow Mitte der fünfziger Jahre festgelegt hatte: billiger Beton, glatte, modernistische Konturen und wenig Raum für künstlerische Imagination.“
Dies habe daran gelegen, so Chaubin, dass in den siebziger und achtziger Jahren viele neue, junge Talente aufgekommen seien, weil Designer nun von Moskau aus nicht mehr so stark reglementiert und durch Bestimmungen in ihrer Arbeit eingeschränkt worden seien. In dieser Hinsicht könnte man in den Gebäuden sogar so etwas erkennen, wie den Schwanengesang einer Supermacht, komponiert von Menschen, die sich, von den zentralistischen Gängelungen befreit, am Westen orientierten und von diesem inspirieren ließen. „Man kann in diesen Gebäuden den sich abzeichnenden Zusammenbruch der Sowjetunion erkennen, lange bevor das System 1991 kollabierte.“
Ein Kloster, ein Kraftwerk, ein gigantisches Labor?
In Russland beginnen die Universitäten nun über die Gebäude dieser Epoche zu arbeiten, von denen viele leer stehen und verfallen. Grundsätzlich haben sie alle ein Problem gemeinsam: Sie wurden als öffentliche Gebäude im großen Maßstab erbaut, um die örtliche Bevölkerung beeindrucken. Jetzt, wo der Staat nicht mehr allmächtig ist, ist diese Funktion überflüssig geworden. Doch unter all den wissenschaftlichen Akademien und Trainingszentren, Sanatorien, Schwimmanlagen und Pionierlagern finden sich auch ein paar Seltsamkeiten wie die „Hochzeitspaläste“.
Diese faszinierenden, an prominenten Orten erbauten Stätten hatten etwas kathedralenhaftes, sowohl hinsichtlich ihrer Intention, als auch in Bezug auf ihre Größe. Chaubin dachte sich ein Spiel aus: Er nahm seine Photographie des Hochzeitspalastes in der litauischen Hauptstadt Vilnius, zeigte sie mehreren Leuten und fragte sie, was das wohl sein könnte: Ein Kloster, ein Kraftwerk oder vielleicht sogar ein gigantisches Labor? Niemand erriet, dass es sich um ein Standesamt handelte, das so pompös gestaltet worden war, um die Leute davon abzubringen, in Kirchen zu heiraten.“
Chaubin hatte ein durchaus ernsthaftes Interesse, zu verstehen, wie diese Gebäude entstanden und wer sie entworfen hat. Es erwies sich aber als äußerst schwierig, wenn nicht gar unmöglich, ihre Architekten ausfindig zu machen. Sie waren Staatsangestellte, die für gewaltige staatliche Einrichtungen arbeiteten. Hätten sie solche Gebäude im Westen erbaut, wären sie vielleicht reiche Leute geworden, die in Penthouses leben. So aber lebten viele von ihnen in vollgepackten Einraumwohnungen in Wohnsiedlungen.
Einige der jüngsten der Architekten, die an diesen Projekten der späten Sowjetunion mitgearbeitet haben, sind nun in ihren Sechzigern, sind weitergezogen und aufgestiegen. Oleg Romanov – der 1985 an dem Entwurf eines Lagers für junge Straffällige im russischen Bogatyr mitgearbeitet hatte, dessen Zickzack-Stil im Westen unter dem Namen Dekonstruktivismus bekannt wurde – ist heute Vizepräsident der Architektenkammer von St. Petersburg. Er hat Proteste gegen den von den britischen Architekten RMJM entworfenen Gazprom-Turm organisiert, der die Skyline einer der prachtvollsten Städte der Welt zu zerstören droht.
Einer, der gemeinsam mit Romanov an dem Lager gearbeitet hatte, das von den späteren Insassen erbaut und von Chaubin an einem trostlosen Wintertag mit einer 90-Sekunden-Belichtung fotografiert wurde, war Mark Khidekel. 1994 wanderte Khidekel nach New York aus, um dort mit Philip Johnson zu arbeiten, der Personifikation dekadenten, bürgerlich-kapitalistischen Designs. Und es stellte sich heraus, dass George Chakhava nicht nur der Chefarchitekt des großartigen georgischen Straßenministeriums war, sondern auch Minister für Autobahnbau, der sich bei dem von den Arbeiten El Lissitzkys, einem der Führer der suprematistischen Bewegung, inspirierten Design freie Hand ließ. Das Ergebnis war ein hoch über den Wald erhobenes Ministerium, beinahe eine eigene Stadt, komplett mit sich am Himmel kreuzender Straßen und Gebäuden, welches und Natur und Avantgarde-Architektur in besten Einklang zueinander brachte.
Werden diese Perlen jenseits der Seiten von Chaubins Buch überleben? Skrupellose Grundstücksentwicklung dürfte die meisten von ihnen hinwegfegen und an ihrer Stelle fantasielose Hotels, Casinos und Villen für die Reichen entstehen lassen. Immerhin wurde Chakhavas Straßenministerium 2007 - dem Todesjahr des Architekten - zum Nationaldenkmal ernannt. Seitdem gab es Pläne, die georgische Nationalbank dort unterzubringen. Doch nicht jeder, der in der Nähe des Gebäudes lebt, mag es auch. Viele sehen in ihm ein Symbol der schlechten alten Zeit. Dies trifft auf viele der Gebäude zu, die Chaubin fotografiert hat, auch wenn dieser glaubt, sie repräsentierten eher das Ende der UdSSR als deren Fortbestand.
„Ich hege keine nostalgischen Gefühle für die Sowjetunion“, sagt er. „Aber in diesen befremdlichen und wunderbaren Bauten erblickte ich die Fassade einer Kultur, die mich fasziniert hat.“
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