„Sie schneiden super ab“

Im Gespräch Unser IQ ist in den letzten 100 Jahren stark gestiegen. Warum, erklärt der Psychologe James Flynn
Was haben Hund und Hase gemeinsam? Wie Menschen auf diese Frage antworten, spielt eine Rolle für die Berechnung ihres IQs
Was haben Hund und Hase gemeinsam? Wie Menschen auf diese Frage antworten, spielt eine Rolle für die Berechnung ihres IQs

Foto: Christopher Furlong / Getty Images

James Flynn hat an der Universität von Chicago Mathematik und Physik studiert, bevor er sich der politischen Philosophie zugewandt hat. Heute lehrt der 78-Jährige als Professor für Politische Studien an der Universität von Otago in Neuseeland. Der Emeritus ist der Entdecker des „Flynn-Effekt“: dem Phänomen, dass der Intelligenzquotient im vergangenen Jahrhundert von einer Generation zur nächsten signifikant gestiegen ist.

Ian Tucker: Was misst der IQ eigentlich?

James Flynn: Das hängt davon ab, wofür er verwendet wird. Manchmal dient ein IQ-Test geradezu einem guten Zweck: Ein Schüler ist schlecht im Unterricht. Sie glauben aber, dass er eigentlich mehr kann und geben ihm einen IQ-Test – und das Ergebnis haut alle von den Socken! Auf diese Weise kann man den IQ-Test zur Diagnose von individuellen Lernproblemen verwenden. Einige Universitäten führen ihn aber auch im Rahmen von Eignungsprüfungen durch.

In Ihrem Buch Are We Getting Smarter? schreiben Sie darüber, dass die IQs von Frauen in der jüngsten Vergangenheit besonders gestiegen seien.

Frauen liegen heute mit Männern gleichauf – allerdings nur in Ländern, in denen sie gleichberechtigt sind. Besonders interessant ist etwa, dass der IQ von Frauen an Universitäten ungefähr zwei, vielleicht drei Punkte unter dem der Männer liegt. Viele Wissenschaftler behaupten dann, daraus würde hervorgehen, dass Frauen weniger klug seien.

Doch was glauben Sie, woran das wohl liegt?

Es hängt damit zusammen, dass ein Mädchen, das eine weiterführende Schule besucht und einen IQ von Hundert hat, bessere Noten bekommt als der typische Junge. Das bedeutet, dass das Mädchen mit so einem IQ wahrscheinlich studieren wird, der ähnlich intelligente Junge aber nicht. Die in der Stichprobe enthaltenen Männer an der Uni stellen also eher eine Elite dar. Sie haben eine höhere Schwelle überwinden müssen. Daran zeigt sich einer der verstörendsten Aspekte des britischen Bildungssystems: Die Statistiken der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) zeigen, dass am Ende der weiterführenden Schule nur das obere Drittel der Jungen im Lesen so gut ist wie die obere Hälfte der Mädchen. In den USA ist nur das obere Viertel der Jungen im Verfassen von Texten so gut wie die oberen fünfzig Prozent der Mädchen. Wenn ich heute einen, sagen wir 20 Jahre alten IQ-Test machen würde, hätte ich dann Probleme mit den Fragen?

Nein, Sie würden super abschneiden, weil die Leute, die die frühen Tests erstellt haben, ihrer Zeit voraus waren. Das waren hochprofessionelle Leute, die im wissenschaftlichen Ethos geschult wurden und nicht typisch für ihre Zeit waren. Eine Frage, die Sie richtig verstehen würden, eine intelligente Person aus dem Jahr 1900 aber eventuell nicht, wäre: „Was haben Hunde und Hasen gemeinsam?“

Es sind beides Säugetiere.

Richtig. Damals hätte man gesagt: „Mit Hunden jagt man Hasen.“ Er hätte die Frage falsch verstanden. Damals, als eine formale Ausbildung noch nicht so üblich war, ging man viel mehr vom praktischen Nutzen aus. Wir heute hingegen sind in einer wissenschaftlichen Welt groß geworden und wissen, dass es erst einmal notwendig ist, Dinge zu klassifizieren, um sie zu verstehen. Für uns sind ein Hund und ein Hase einfach Säugetiere. Es interessiert uns nicht, ob es sich bei dem Hund um einen Beagle handelt und ob die sich gut für die Hasenjagd eignen. Deshalb ist der Anstieg des IQs im Laufe der Zeit so faszinierend. Man muss ihn nur entsprechend interpretieren.

Diese Beobachtungen zeigen also, dass der Intelligenzquotient eher von der Umwelt beeinflusst wird als von den Genen?

Auf der individuellen Ebene sind die Gene ebenso wichtig wie für andere Eigenschaften wie etwa die Körpergröße. Etwas ganz anderes ist es allerdings, anhand des IQs Vergleiche zwischen Gruppen anzustellen und dann aus dem niedrigeren IQ einer Gruppe auf deren mutmaßliche genetische Unterlegenheit zu schließen.

Es gibt sechs Schwellenländer, für die uns gute Daten über den IQ der Bevölkerung zur Verfügung stehen. In drei davon steigt der IQ schneller als bei uns Europäern: in der Türkei, in Brasilien und in Kenia. Meine Prognose ist, dass alle drei die gleichen IQ-Werte erreichen werden wie wir.

Bei den anderen drei Schwellenländern, zu denen wir Daten haben, sind das Problem nicht die Gene, sondern die Umstände. Im Sudan herrscht immer wieder Bürgerkrieg. In Saudi Arabien sitzt ein großer Teil der Bevölkerung verwöhnt auf den Ölquellen herum. Und in der Dominikanischen Republik wird die Infrastruktur alle zehn Jahre von Hurrikans, Tsunamis und Tornados ausradiert. Ein niedriger IQ in diesen Ländern hat nichts mit den Genen zu tun. Würde die Infrastruktur Großbritanniens alle zehn Jahre zerstört, würden wir auch nicht so gut abschneiden.

Was meinen Sie eigentlich, wenn Sie von „Intelligenzabgabe“ schreiben?

Man hat immer angenommen, dass der Verstand kluger Leute ab dem 65. Lebensjahr weniger stark abnimmt. Ich habe herausgefunden, dass das zwar auf die verbalen Fähigkeiten zutrifft, aber nicht auf die analytischen, die dann umso schneller nachlassen, je schlauer man ist. Das wirft eine interessante Frage auf: Ist das analytisch gute Gehirn etwas, das wie ein Hochleistungssportwagen im hohen Alter mehr zur Instandhaltung braucht, als der Körper zur Verfügung stellen kann? Oder liegt es daran, dass wir unsere analytischen Fähigkeiten hauptsächlich bei der Arbeit einsetzen? Hat, wer klug ist, einen kognitiv anspruchsvollen Job – und beginnt in der Rente zu verkümmern?

Wie kann man diesem kognitiven Abbau ab dem 65. Lebensjahr entgegenwirken? Soll man Kreuzworträtsel machen? Joggen? Oder etwa noch eine neue Sprache lernen?

Denksport tut in jedem Alter gut. Selbst wenn das Hirn abbaut, tut es das langsamer, wenn es benutzt wird. Genau so, wie ich heute zwar nicht mehr so schnell meine zehn Kilometer laufen kann wie in meiner Jugend. Aber jemand, der in wirklich schlechter Form ist, wird es dennoch schwer haben, gegen mich 78-Jährigen anzukommen.

Verraten Sie mir Ihre Zeit auf zehn Kilometer?

Als ich jung war, waren es 32 Minuten – und der Weltrekord damals lag irgendwo bei 29 Minuten. Mit 66 bin ich die Strecke immer noch in 45,5 Minuten gelaufen. Seit ich die Siebzig erreicht habe, schaffe ich es aber kaum noch unter fünfzig Minuten.

Warum laufen Sie – von den offenkundigen physischen Vorteilen einmal abgesehen?

Es steht außer Frage, dass eine gute Blutversorgung auf die in den Frontallappen des Gehirns beheimatete Intelligenz förderlich wirkt und dass die Blutversorgung des Gehirns wiederum abhängig ist von der Stabilität des gesamten Kreislaufes. Das ist zwar nicht der Grund, warum ich laufe. Aber ich bin mir sicher, dass ich von dem beschriebenen Nutzen profitiere.

Die OECD hat in einer wunderbaren Studie Tests zu Gedächtnisleistungen durchgeführt. Schade, dass sie keine analytischen Fähigkeiten getestet haben... Auf jeden Fall haben die Forscher die Länder aufgeteilt in solche wie Frankreich, wo achtzig Prozent der Bevölkerung zwischen 55 und 65 in Rente gehen, und solche wie Schweden oder die Schweiz, wo in diesem Alter achtzig Prozent der Leute noch arbeiten. Der Verlust an Gedächtniskraft in dieser Altersgruppe war in Frankreich doppelt so hoch. Das sagt uns, dass das Gedächtnis besser in Schuss bleibt, wenn man sein Gehirn bei der Arbeit in Übung hält.

Sie haben in diesem Jahr vier Bücher geschrieben. Auch eins über den Klimawandel.

Ein kleines Büchlein. Der Titel ist Climate Change and the Environment (Klimawandel und die Umwelt). Derzeit suche ich noch einen Verlag.

Ich komme darin zu dem Schluss, dass die langfristig aussichtsreichste Hoffnung auf saubere Energie, die wir zur Eindämmung des von Menschen verursachten Klimawandels dringend benötigen, vermutlich die Laserfusion bietet. Dabei wird schwerer Wasserstoff beschossen und eine Interaktion in Gang gebracht, bei der mehr Energie erzeugt wird, als hineingegeben wurde. Die Forschung dazu ist aber noch um die siebzig Jahre davon entfernt, sich durchsetzen zu können. Die Zeit bis dahin müssen wir wohl mit einer Notlösung überbrücken.

James Flynn, geboren 1934, wurde durch seine Untersuchungen im Bereich der Intelligenzforschung weltweit bekannt. Zuletzt erschien: How to improve your mind: 20 keys to unlock the modern world

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Übersetzung: Zilla Hofman
Geschrieben von

Ian Tucker | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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