Jeder weiß, dass man sich mitten in einer riesigen Menschenmenge ziemlich allein fühlen kann. Wir sind uns physisch nahe, ohne dass uns etwas miteinander verbindet. Wir können miteinander reden, uns anlächeln und aufeinander reagieren und sind dabei innerlich ganz woanders. Einsamkeit kann eine überwältigende und niederschmetternde Erfahrung sein, ob isoliert oder im Kreise anderer.
Ein von der britischen Mental Health Foundation (MHF) veröffentlichter Bericht kommt nun zu der Erkenntnis, unsere moderne Marktwirtschaft befördere diese Vereinsamung und habe mithin das Ausmaß menschlicher Isolation erhöht. Als vereinzelte Agenten, die auf den verschiedenen Märkten um Arbeitsplätze, Waren und Dienstleistungen konkurrieren, hätten
ätten wir den Wert von Freundschaften vergessen.Wer würde nun bestreiten, dass Freundschaften und ein intaktes soziales Umfeld als wichtiger Puffer gegen den kapitalistischen Konkurrenzdruck fungieren? Ärzte, Philosophen und Soziologen weisen seit mehr als 150 Jahren auf die entmenschlichende Wirkung der profitorientierten Produktionswelt hin. Alles, was dazu im Bericht der MHF steht, ist im Grunde schon verhandelt worden. Und auch darüber, wie soziale und emotionale Isolation den Menschen sowohl körperlich wie auch geistig krank machen, ist schon alles gesagt. Was also soll nun anders sein?Einsamkeit als ChemieunfallDie Antwort lautet: Etwas ganz Entscheidendes. Einsamkeit, so der Bericht, sei deshalb schlecht für uns, weil sie uns daran hindert „unsere Angewohnheiten und unser Verhalten“ zu kontrollieren. Gene könnten dabei eine Rolle spielen, die Neigung zur Vereinsamung möglicherweise vererbbar sein. Teenager seien oft einsam, weil ihre Gehirne sich noch nicht vollständig entwickelt hätten, wodurch sie nicht in der Lage seien, soziale Signale richtig zu deuten. Studien über Krebspatienten, die in dem Bericht zitiert werden, belegen, dass bei Patienten, die keine engen Freunde haben, die Wahrscheinlichkeit, dass sie sterben, wesentlich höher liegt als bei solchen mit vielen Freunden. Es „lohne“ sich also eindeutig, in seine sozialen Beziehungen „zu investieren“. Liebe und Freundschaften sind gut für uns, weil sie unser Immunsystem und unsere Herz-Kreislauf-Funktionen stärken. Persönliche Gespräche sind gut, weil bei ihnen „chemische Prozesse“ wie die Produktion von Oxytocin stimuliert werden. Leute mit einem großen Freundeskreis könnten aus diesem „gesundheitliche Vorteile ziehen“, heißt es im Bericht.Also, nichts wie runter in die Kneipe oder ab ins Internet! Wollen wir doch mal sehen, um wie viele Tage wir unsere Leben verlängern können! Oder eben auch nicht. Denn wie wir wissen, bringt das Internet die Menschen einerseits zwar zusammen, isoliert sie aber gleichzeitig auch stärker voneinander. Es sorgt dafür, dass wir weniger Zeit mit unserer Familie verbringen und trägt dadurch ein Stück weit zu unserer Vereinsamung bei. Gleichzeitig lässt es uns an neuen Gemeinschaften teilhaben. Es gibt Menschen, die über das Netz zusammenkommen, andere hingegen benutzen den Bildschirm, um den persönlichen Kontakt zu vermeiden.Der Unterschied zu älteren Studien auf diesem Gebiet ist einfach festzumachen. Die klassischen Arbeiten über die Gesellschaft und Einsamkeit gehen von einer Opposition zwischen Markt und dem menschlichen Geist aus und argumentieren, der Kapitalismus zerstöre unser Innerstes und die Bande, die uns verbinden. Nun sind das Menschliche und die zwischenmenschlichen Beziehungen selbst zur Ware geworden, die uns unsere Gesundheit länger erhält. Uns wird geraten, in unsere Beziehungen „zu investieren“, als handele es sich um Aktien an der Börse.Aber warum sollten wir denn überhaupt länger leben wollen? Die Pionierarbeiten über Einsamkeit und Gesundheit vom Beginn des 20. Jahrhunderts wie diejenigen von Helen Flanders Dunbar sprechen von „sinnvollem Leben“, nicht nur von Leben an sich. Heute hingegen besteht das Lebensziel nur noch darin, länger zu leben. Wir sollten Brokkoli mampfen, um das Krebsrisiko zu senken, Granatapfelsirup in uns hinein schütten, um Herzinfarkten vorzubeugen und ins Fitness-Studio rennen, um unseren Allgemeinzustand zu verbessern. Es wird uns geraten, unsere ganze Zeit darauf zu verwenden, am Ende mehr Zeit zu haben.Freunde als AltersvorsorgeEinige Philosophen waren der Ansicht, man könne in der Einsamkeit die Erfahrung der eigenen Sterblichkeit machen und müsse sie daher eher suchen, als sie zu meiden. Der Bericht, der die heutige Einsamkeit auf einen ungezügelten Individualismus zurückführt, ist daher ein Beispiel für das, was er zu kritisieren glaubt: Wir brauchen Freunde, um nicht einsam zu sein. Warum? Damit wir länger leben können und mehr von der Ware bekommen, die Leben heißt.Des Weiteren unterstellt der Bericht, die soziale Isolation zu überwinden sei allein eine Frage der persönlichen Willkür. Knüpfe ein paar Freundschaften, geh öfter unter Menschen! Das menschliche Leben wird zunehmend als ein Set erlernbarer Fähigkeiten betrachtet, so dass der Eindruck entsteht, man müsse sich nur ordentlich Mühe geben, dann werde man auch neue Freundschaften knüpfen. Aber um Beziehungen aufzubauen genügt es nicht einfach, den inneren Schweinehund zu überwinden wie beim Joggen. Auch besteht eine Beziehung aus mehr als Kommunikation. Die bloße Tatsache, dass wir mehr Zeit am Telefon oder am Computer verbringen, bedeutet nicht, dass wir wirklich mit Menschen in Beziehung stehen und wissen, wie sie sich fühlen.Del Loewenthal, Professor für Psychotherapie an der Roehampton University, warnt auch davor, Einsamkeit zu pathologisieren: „Es ist ein Fehler, Einsamkeit zu einer Krankheit zu machen. Es ist die individuelle Bedeutung des einzelnen, auf die es ankommt. Nur im Gespräch und durch aufrichtiges, menschliches Engagement kann man den Zustand eines einsamen Menschen nachvollziehen. Untersuchungen haben gezeigt, dass manche Menschen mit dem Alleinsein vollkommen zufrieden sein können, so lange sie sich ihrer Rolle im Leben sicher sind. Auf die Frage, was ihnen im Leben am wichtigsten sei, antworteten viele ältere Menschen, es komme gar nicht so sehr darauf an, bei ihrer Familie zu sein. Zu wissen, dass ihr Leben einen Wert habe, sei ihnen wichtiger. In dem Kinofilm Castaway spielt Tom Hanks einen Fedex-Mitarbeiter, der mitsamt einem Paket auf einer einsamen Insel strandet. Völlig allein auf der Welt malt er ein Gesicht auf einen Basketball, der zu seinem Gesprächspartner wird. Nach der Rettung will er das Paket ausliefern, erkennt aber, dass nicht der Ball, sondern das Paket sein wahrer Helfer in der Not gewesen ist. Es hat ihm eine Identität, eine soziale Rolle gegeben, die er verliert, wenn er es zustellt. Den symbolischen Ort in einer Gemeinschaft zu verlieren kann verheerende Auswirkungen haben und aus einer erträglichen Isolation einen Alptraum der Einsamkeit machen.Viele der gemeinnützigen Organisationen, die in dem Bericht vorkommen, leisten hier hervorragende Arbeit für die Betreuung älterer Menschen. Solche Netzwerke sind natürlich unbezahlbar und müssen, wo immer es geht, gefördert werden. Die Gefahr besteht eben darin, dass diejenigen, die sich gegen Vereinzelung und Vereinsamung engagieren wollen, auf eben jenen Diskurs hereinfallen, der Beziehungen als Ware betrachtet. Anderen zu helfen bedarf keiner pseudowissenschaftlichen Legitimation, und es kann nicht das einzige Ziel im Leben sein, so lange wie möglich zu existieren. Freundschaften sind keine Pflaster, die man einem Menschen einfach aufkleben könnte und können auch nicht zu Waren degradiert werden. Eben darin besteht die größte Hoffnung.
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