Whistleblower Wikileaks muss sich ändern, wenn es seinen Idealen treu bleiben will. Das Beste wäre, wenn die Aktivisten sich jetzt in den Dienst ihrer Nachfolger stellen würden
Nun, da sich Staub zu legen beginnt, den die amerikanischen Botschaftsdepeschen aufgewirbelt haben, findet Wikileaks sich an einem Scheideweg wieder. Um ihren Krieg gegen die Geheimhaltungspolitik von Regierungen wirksam weiterführen zu können, wird die Organisation fundamentale Änderungen an ihrer Arbeitsweise vornehmen müssen – wobei keinesfalls garantiert ist, dass das Verlangen nach einem neuen, mainstreamigeren Wikileaks groß sein wird.
Die zweite Option bestünde darin, von der Arbeit in Sachen Transparenzförderung abzuschwenken, sie an wendigere und dezentralisiertere Wikileaks-Klone zu delegieren und sich auf ein Problem zu konzentrieren, das wahrscheinlich entscheidend für den Erfolg der aufkeimenden globalen Transparenzbewegung sein wir
g sein wird: Nur indem man die Veröffentlichung unanfällig für die Launen zwischengeschalteter Wirtschaftsunternehmen wie Amazon oder Paypal und darüber hinaus robuster gegen Cyberattacken und politischen oder juristischen Druck macht, kann diese Bewegung erfolgreich sein. Anders gesagt, besteht Julian Assanges andere Möglichkeit darin, sich für die Redefreiheit einzusetzen und zwar mit dem ausdrücklichem Ziel, eine technische Infrastruktur zu schaffen, die es der nächsten Generation von Wikileaks-Klonen ermöglicht, unzensierbar zu bleiben.Warum kann Wikileaks nicht einfach so weitermachen wie bisher? Wenn überhaupt etwas, haben die US-Botschaftsdepeschen gezeigt, dass der Erfolg einer Wikileaks-Kampagne stark davon abhängt, wer die durchgestochenen Dokumente zur Analyse und Veröffentlichung erhält.Wikileaks braucht die Medien...Nichts davon kann derzeit von Wikileaks selbst geleistet werden, weshalb Wikileaks sich mit Medienpartnern wie dem Guardian oder dem Spiegel zusammentun und sich deren Journalisten ausleihen muss, um sich diese im Grunde als „Datenanalysten“ (die das Material sichten, um das Wichtige vom Unwichtigen zu trennen) und „beratende Koordinatoren" (die Artikel über Themen schreiben, die Wikileaks für wichtig erachtet – auch wenn die Organisation tatsächlich wenig Einfluss darauf hat, was am Ende geschrieben wird) dienstbar zu machen.Mit weiterem Wachstum wird WikiLeaks in sogar noch größere Abhängigkeit von seinen Partnern geraten. Da es zu einer leicht erkennbaren globalen Marke geworden ist, hat es das Potenzial weitere Leaks anzuziehen – verfügt aber nicht in ebensolchem Maße über die Möglichkeit, diese sinnvoll zu verarbeiten oder gar mögliche Fälschungen zu erkennen. Dabei wird gerade Letzteres angesichts der länger werden Feindesliste von Wikileaks immer häufiger vorkommen. Computerfreaks sind nicht immer auch gewandte Datenanalysten.Des Weiteren besteht eine der größten Herausforderungen, denen Wikileaks gegenübersteht, zwischen Dokumenten zu unterscheiden: Die Datenspeicherung mag günstiger werden und es werden vielleicht immer mehr Dokumente weitergereicht werden, doch die vergangenen Monate haben gezeigt, dass Wikileaks seine Sache weitaus besser macht, wenn weniger, nicht mehr Daten zur Verfügung stehen. Während also jeder Dateien auf der Seite hochladen kann, bleiben diese wirkungslos, bis jemand mit Kenntnis (und einem Gehalt) sie sich anschaut – und besser noch ein oder zwei Wochen darauf verwendet, die darin auftauchenden Personen zu recherchieren.So gesehen verkörpert Wikileaks - zumindest in seiner aktuellen Form - eine Ideologie, die nur als Anti-Web 2.0 bezeichnet werden kann. Profis werden höherwertig eingestuft als Laien und das „Jeder kann mitarbeiten“-Ethos von Wikipedia ausdrücklich abgelehnt. Die Aktivisten glauben, das Warten auf diesen mystischen „Jedermann“ sei wie das Warten auf Godot. Und das aus gutem Grund: Anders als Wikipedia kann Wikileaks für die beteiligten Prozesse nicht auf Crowdsourcing setzen, alle durchgestochenen Dokumente online stellen und Hilfe von vollkommen Fremden erbitten – diese könnten immerhin eine eigene politische Agenda verfolgen (eine Tatsache, derer man Dank der Verbindung zu Ismael Shamir, der sich seine Position als „Wikileaks-Freelancer“ erfolgreich zu Nutze gemacht hat, um sich mit den großen Tieren in Moskau und Minsk zu treffen, allmählich gewahr wird.)... aber die Medien brauchen Wikileaks nichtDoch während Wikileaks dringend auf seine Medienpartner angewiesen ist, sind diese weniger eindeutig auf Wikileaks angewiesen. Der TV-Sender Al Jazeera hat nicht lange gebraucht, um ein ambitionierte "Transparenz-Tool" im eigenen Internetauftritt zu integrieren. Es erlaubt jedem, durchgestochenes Material direkt - und vor allem: sicher - bei Al Jazeera hochzuladen. Dies kostet nicht viel und kann, wie die Veröffentlichung der Palästina-Papiere gezeigt hat, ebenso viel Brisanz entwickeln, wie die von Wikileaks selbst veröffentlichten Dokumente. Welche Zukunft gibt es für Wikileaks, wenn andere Nachrichtenorganisationen ähnliche Anwendungen auf ihren Internetseiten aufbauen?Natürlich kann Wikileaks auch den Alleingang proben, einen Trupp eigener Datenanalysten anheuern, dazu eigene Reporter, sich so zu einer Non-Profit-Nachrichtenorganisation wandeln und es mit Guardian, Al Jazeera und Co. aufnehmen. Theoretisch könnte dies ein kluger strategischer Zug sein, der Assange wahrscheinlich „domestizieren“ würde. Der Betrieb einer solchen NGO würde zu viele langweilige Meetings mit potenziellen Finanziers (von denen viele sich bereits von der Organisation entfremdet sehen) und einen Neun-bis-Fünf-Büroalltag verlangen - das genaue Gegenteil des glamourösen Nomadenlebens, für das der Wikileaks-Gründer berühmt geworden ist.Durch die Umwandlung in eine gewöhnliche NGO könnte Wikileaks weiterhin einige Exklusivmeldungen landen, doch seine wirkliche Stärke liegt an anderer Stelle: Man hat inzwischen wie kein anderer die Unterstützung tausender Computergeeks auf der ganzen Welt gewonnen - es wäre dumm, daraus kein Kapital zu schlagen. Den größten Beitrag können diese Geeks allerdings leisten, wenn sie sich nicht allgemein für Transparenz, sondern für die Redefreiheit einsetzen.Der beste Weg: Klon dichWährend es also der verheißungsvollste Weg wäre, tausend Wikileaks-Klone aufleben zu lassen – wobei lokale Gegenstücke in Russland, Bulgarien oder Aserbaidschan entstehen könnten, statt nur auf den Seiten globaler Medienunternehmen – darf nicht vergessen werden, dass diese Klone nur dann effektiv sein werden, wenn es ihnen gelingt, dem immensen Druck standzuhalten, den Organisationen und Einzelpersonen ausüben werden, die über das Veröffentlichte gar nicht glücklich sind.Bei Wikileaks weiß man aus erster Hand um dieses Problem, war man doch sowohl Cyberattacken als auch politischem Druck ausgesetzt. Darum kann nur sichergestellt werden, dass diese Klone ihre Aufgabe erfüllen, indem ihnen eine Plattform geboten wird, die dem Zorn von Politikern, Unternehmen und Lohnhackern standhält. Wikileaks war relativ erfolgreich bei der Abwehr solcher Angriffe – aber auch nur, weil man sich weltweit einen Namen gemacht hatte, der einigen Schutz garantierte. Die Klone hingegen genießen diesen nicht.Informationen im Netz gegen Zensur resistent zu machen, war WikiLeaks immer ein Anliegen, wenn auch ein zweitrangiges. Angesichts des hohen Ansehens, das man bei den Geeks genießt - unter denen sich viele Programmierer befinden, die bereit sind, umsonst zu arbeiten um die Seite online zu halten – sollte Assange es zu seinem vorrangigen Ziel machen.Die knappste Ressource: WiderstandskraftDiese Aufgabe erscheint nach dem Kappen aller Internetverbindungen in Ägypten in der vergangenen Woche umso größer und lohnender. Auf diesem Gebiet kann die Wikileaks-Community relativ schnell Erfolge erzielen, da es sich bei einer Vielzahl der momentanen Initiativen um Technikprojekte handelt, die nur ein paar neuer Programmierer bedürfen - und derer werden sich viele auf die Gelegenheit stürzen, sobald Assange seinen Segen erteilt hat.Würde eine solche Neuausrichtung die ursprüngliche Wikileaks-Mission zugrunde richten? Die Veröffentlichung der Palästinapapiere lässt davon ausgehen, dass weiterhin Geheiminformationen weitergegeben werden – ob mit oder ohne Wikileaks. Bislang steht das Spielfeld Akteuren mit großem Namen offen, die sich Unterstützung durch Anwälte oder Nationalstaaten leisten können. Welches allerdings wird die Plattform sein, auf der durchgestochene Dokumente über lokale Korruption in Aserbaidschan oder der Mongolei Veröffentlichung finden?Für die Großen geht es dabei um zu wenig – und die regionalen Kleinen, deren Position sich viel besser eignet, derartige Dokumente zu untersuchen und zu verarbeiten, überleben deren Veröffentlichung unter Umständen nicht, da sie durch Cyberattacken oder andere Formen der juristischen und technologischen Schikane zum Kentern gebracht werden. Einen Weg zu finden, solchen lokalen Stimmen Gehör zu verschaffen, könnte der größte Beitrag der Wikileaks-Aktivisten im weltweiten Kampf für Transparenz sein.
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