Stern der Labour-Partei

Nachruf Jo Cox arbeitete für die Hilfsorganisation Oxfam, zog später ins Parlament ein und scheute dort keine Konflikte
Ausgabe 25/2016

Jedes Jahr im Juni luden Jo Cox und ihr Ehemann Brendan rund 100 Gäste und deren Familien in ihr Cottage auf dem Land ein, um dort die Sommersonnenwende zu feiern. Es war schon eine Tradition. Dieses Jahr sollte die Feier am vergangenen Wochenende stattfinden, nur wenige Tage vor Jos Geburtstag. Doch dazu kam es nicht mehr.

Für ihn und die beiden gemeinsamen Kinder stehe nun „ein neues Kapitel bevor, das schwieriger, schmerzvoller, freudloser und weniger von Liebe erfüllt sein“ werde, sagte Brendan Cox nach dem tödlichen Attentat auf seine Frau, das vermutlich mit ihrer Brexit-Ablehnung zu tun hatte.

Jo Cox galt als ein aufgehender Stern der Labour-Partei und genoss hohes Ansehen als eine der vielversprechendsten Abgeordneten, die 2015 neu ins britische Unterhaus eingezogen waren. An diesem Mittwoch (22. Juni) wäre sie 42 Jahre alt geworden.

Aufgewachsen ist sie in einer kleinen Stadt in West Yorkshire. Ihre Mutter Jean war Schulsekretärin, ihr Vater Gordon arbeitete in Leeds in einer Fabrik, die Zahnpasta und Haarspray herstellte. Sie besuchte das örtliche Gymnasium und gewann ein Stipendium für einen Studienplatz in Cambridge. Vor kurzem gestand sie in einem Interview mit der Yorkshire Post, früher „nie wirklich politisch oder besonders links“ gewesen zu sein. „Das kam irgendwie erst in Cambridge. Dort wurde mir klar, dass es darauf ankommt, wo man geboren wurde, wie man redet und wen man kennt. Ich habe nicht den richtigen Ton getroffen oder die richtigen Leute gekannt. Den Sommer zwischen Schule und Universität verbrachte ich damit, in der Fabrik, in der mein Vater arbeitete, Zahnpasta zu verpacken, während alle anderen, mit denen ich dann in Cambridge studierte, sich auch mal ein Jahr freinehmen konnten.“

„Eine der Besten der Besten“

Später arbeitete Cox als Hilfsarbeiterin in Entwicklungsländern und ging dann zur NGO Oxfam. Justin Forsyth, der ihr dort den ersten großen Job gab, beschrieb sie als „eine der Besten der Besten“. Sie werde „in der Welt der Entwicklungs- und humanitären Hilfe von jedem vermisst werden“. Cox hat auch als Beraterin von Sarah Brown gearbeitet, der Frau des ehemaligen Labour-Premiers Gordon Brown. Sie unterstützte Kampagnen zur Förderung der Gesundheit von Frauen und Kindern. Cox war zudem eine engagierte Feministin und Vorsitzende des Frauennetzwerks der Labour-Partei. Mit Fortbildungsangeboten und Lobbyarbeit wollte sie dafür sorgen, dass mehr Frauen ins Parlament kommen.

Ihr Ehemann Brendan beriet Gordon Brown zu dessen Regierungszeiten in Fragen der Entwicklungshilfe und beendete erst vor kurzem seine Arbeit bei der Hilfsorganisation Save the Children. Jo und Brendan Cox haben zwei kleine Kinder, einen Jungen und ein Mädchen, Cuillin und Lejla. Wenn die Familie zusammen in London war, wohnten die vier in einem Boot auf der Themse und führten nach Ansicht mancher ihrer Freunde einen durchaus „exzentrischen“ Lebensstil. Andere beschreiben sie als „Hippies im Herzen“.

Freunde erzählen auch, das Timing der Parlamentswahl im vergangenen Jahr sei alles andere als perfekt für das Paar gewesen, aber als der Sitz für den Wahlkreis Batley and Spen, wo Jo Cox aufwuchs, frei wurde, habe sie sich diese Gelegenheit nicht entgehen lassen können. Während sie Wahlkampf machte, halfen ihre Eltern, sich um die Kinder zu kümmern.

Keine Angst vor der Obrigkeit

Im Parlament hat sich Cox einen Namen als streitbare Aktivistin gemacht, die keine Angst hatte, sich mit der Führung ihrer eigenen Partei anzulegen. Sie leitete die Allparteiengruppe zu Syrien und schrieb zusammen mit dem ehemaligen Entwicklungshilfeminister der konservativen Tories, Andrew Mitchell, einen Artikel, in dem sie sich für einen Militäreinsatz Großbritanniens stark machte, obwohl ihr Parteivorsitzender, Jeremy Corbyn, ein solches Eingreifen strikt ablehnte. „Es ist nichts Moralisches daran, sich rauszuhalten, wenn Zivilisten ermordet und verletzt werden. Dafür gab es weder in Bosnien eine Entschuldigung noch in Ruanda, und es gibt auch jetzt keine“, argumentierten Cox und Mitchell. Bei der Abstimmung im britischen Unterhaus enthielt sie sich dann der Stimme.

Sehr engagiert hat sich Cox für den Verbleib Großbritanniens in der EU eingesetzt. Und sie hat gleich in ihrer Antrittsrede im britischen Unterhaus die positiven Seiten der Einwanderung betont: „Unsere Gemeinden haben von der Zuwanderung nachhaltig profitiert, sei es von der Einwanderung irischer Katholiken oder von Muslimen aus Gujarat in Indien, aus Pakistan oder Kaschmir.“ Zuletzt unterstützte sie die Initiative ihrer Partei für die Aufnahme von mehr Kindern, die ohne Begleitung nach Europa geflüchtet sind. Sie warb auch im Parlament um Unterstützung dafür.

Bevor im vergangenen September der Labour-Vorsitzende neu gewählt wurde, hatte sich Cox noch für die Kandidatur Jeremy Corbyns starkgemacht. Letztlich stimmte sie dann aber für die gemäßigte Kandidatin Liz Kendall. Cox’ Fraktionskollegin Alison McGovern sagt jetzt über sie: „Jo brachte ihr Engagement und ihre Leidenschaft für ihre Heimatstadt und die Dinge, für die sie schon ihr ganzes Leben lang gekämpft hatte, mit ins Parlament.“ Ihre detaillierten, kenntnisreichen Fragen im Abgeordnetenhaus hätten gezeigt, dass sie ihre Expertise – vor allem in Fragen der Entwicklungshilfe – dafür einsetzte, die Regierung zur Verantwortung zu rufen. „Sie war eine großartige und kluge Frau, die die Möglichkeiten des Parlaments nutzte, um sich für diejenigen in der Welt einzusetzen, die unserer Hilfe am meisten bedürfen.“

Heather Stewart ist Redakteurin beim Guardian

Übersetzung: Holger Hutt

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Heather Stewart | The Guardian

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