"Tote überall"

Griechenland Nach dem Inferno ist Mati ein lebloser Ort. Die Bewohner berichten vom Wind, den Flammen und den Wellen, die das beliebte Seebad in kürzester Zeit völlig verwüstet haben
Erst nach Stunden ließ sich das Feuer aufhalten
Erst nach Stunden ließ sich das Feuer aufhalten

Foto: Valerie Gache/AFP/Getty Images

Ein Großteil des Seebades Mati, das im Zentrum der schlimmsten Waldbrände in Griechenland seit über zehn Jahren liegt, existiert nicht mehr. Das Inferno lässt einen leblosen Ort zurück, seine Straßen haben sich in Teppiche aus Asche verwandelt, die Gebäude sind geschwärzt, die Autos in Kadaver aus Stahl verwandelt, von denen sich einige übereinander geschoben haben. Zeugnisse des Schreckens, der Anfang der Woche über die Gemeinde kam. Orkanböen haben die Flammen so stark angefacht, dass diese haushoch aufragten und diese Gemeinde regelrecht verschlangen.

Klang des Windes

Und dann sind da die Toten. Derzeit wird deren Zahl offiziell mit 74 angegeben. Rettungskräfte gehen von Haus zu Haus und von Wagen zu Wagen, um nach Leichen zu suchen. Bestimmt sind es noch mehr. Viele hatten geglaubt, das Meer könne sie vor Flammen und Rauch retten – für viele brachte es stattdessen den Tod – ihre verkohlten Körper wurden aus dem Wasser gezogen oder am Strand gefunden.

Nikos Stavrinidis, einer von über 700 Überlebenden, die von einer Flotte aus Schiffen der Küstenwache, Fischer- und privaten Booten gerettet wurden, berichtet, wie der Wind die Flammen so sehr angefacht und die See derart aufgepeitscht hat, dass diejenigen, die ins Wasser geflüchtet waren, als es keinen anderen Weg mehr gab, die Orientierung verloren.

„Es ist schrecklich zu sehen, wie der Mensch neben dir ertrinkt und du kannst ihm nicht helfen“, sagt er, und beschreibt, wie eine Gruppe von Freunden zwei Stunden darum kämpfte, sich über Wasser zu halten, bevor ein ägyptisches Fischerboot sie rettete. Bevor sich die Katastrophe ereignete, war es der Klang des Windes – lauter als ein Dröhnen –, der die Menschen alarmierte. „Es ging alles so schnell. Zuerst war das Feuer noch weit weg, dann erreichten uns erste Funken, und plötzlich war es überall um uns herum. Der Wind war unbeschreiblich. Es war unglaublich“, sagt Stavrinidis.

Während Premier Alexis Tsipras eine dreitägige Staatstrauer verhängt hat und Löschflugzeuge über den Ort ziehen, hängt in Mati Unglauben in der Luft. Die Bewohner der Stadt sitzen vor den Gebäuden, viele in Shorts und mit Asche bedeckten T-Shirts, halten die Köpfe in den Händen und starren ziellos in die Ferne.

Kein Zugang zum Strand

„Niemand hat wirklich realisiert, was hier passiert ist, sie sind alle in einem Schockzustand“, sagt Aris Bouranis, der Ortsvorsteher der Gemeinde, der gerade mit seinem Pickup auf Matis Hauptstraße, Poseidonos, angehalten hat. „Tote, Tote, überall liegen Tote.“

Am frühen Morgen werden die Überreste von 26 Männern, Frauen und Kindern auf einem offenen Grundstück in der Nähe von Poseidonos gefunden, fast alle von ihnen scheinen sich zu umarmen, unter ihnen Mütter, die ihre Kinder schützend in den Armen hielten – ein letzter Akt, bevor die Flammen sie umschlossen. Die Rettungsarbeiter, die die Spuren rekonstruieren, glauben, dass die meisten hierher kamen, weil der Ort so nah am Wasser liegt, bevor sie im Rauch und Durcheinander feststellen mussten, dass es von den Klippen keinen Zugang zum darunterliegenden Strand gibt.

„Es ist eine absolute Katastrophe“, seufzt Tesse Pappa, einer von zahllosen Freiwilligen, die mit dem Auto in den Badeort geeilt sind, um Medikamente, Wasser und Nahrungsmittel zu bringen. „Wir haben den ganzen Tag nur Tragödien gesehen, überall Trauer, Katastrophen und Verluste.“

Unter denen, die das Gefühl haben, dem Tod ein Schnippchen geschlagen zu haben, ist der pensionierte Hochsee-Kapitän Cleanthis Rorris. Der 81-jährige ehemalige Seemann lebt schon fast sein halbes Leben in Mati. Im Garten des zweistöckigen Hauses, das er seinen Kindern vermacht hat, hat er sich eine Atelierwohnung gebaut – „mein Königreich“.

In wenigen Stunden hat sich mit Ausnahme des Studios das ganze Anwesen in einen Haufen Asche verwandelt – das Atelier blieb als einziges intakt. „Als die Flammen anfingen, über die Straße zu schlagen, rannte ich so schnell zu meinem Wagen, dass ich dabei meine Schuhe verloren habe“, erinnert er sich, während er vor den verkohlten Resten seines Hauses in der Stefanou-Straße steht.

Ein aufrechter Mann, der selbst in dieser dunklen Stunden Optimismus ausstrahlt. Ist er nicht wütend, wie heimtückisch und bösartig die Natur sein kann? „Ich habe den ganzen Tag über die Elemente nachgedacht. Ich habe die Hälfte meines Leben auf dem Meer verbracht, den Rest hier auf diesem Stück Land, und nun, mit diesem schrecklichen Feuer, wird mir klar, dass ich wieder zum Ausgangspunkt zurückgekehrt bin“, sagt er. „Ich habe alle Elemente erfahren, und ich habe Glück. Ich lebe noch.“

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Übersetzung: Holger Hutt
Geschrieben von

Helena Smith | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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