Junge Länder, so sagt man in Budapest, neigen zu den für Jugendliche typischen Komplexen: Ichbezogenheit, Überempfindlichkeit und ständiges Beleidigt-Sein, wo gar keine Beleidigungen beabsichtigt waren. Warum sonst sollte die Slowakei schließlich so wütend auf ein Gesetz reagiert haben, das unlängst von der neuen ungarischen Regierung unter Premier Orban verabschiedet wurde? Es ermöglicht den ungefähr 2,5 Millionen in den Nachbarländern Slowakei, Rumänien, Serbien und Ukraine lebenden Ungarn-Stämmigen den Weg, die ungarische Staatsbürgerschaft zu erlangen. Deren Vorfahren hatten sich durch den am 4. Juni 1920 unterzeichneten Vertrag von Trianon außerhalb der Grenzen des um zwei Drittel reduzierten ungarischen Staatsgebiets wiedergefunden.
Munterer Schlagabtausch
Viele Magyaren sehen immer noch auf ihre slowakischen Nachbarn im Norden herab, betrachten sie als Hinterwäldler und machen sich über den jungen slowakischen Staat lustig. Da das Gebiet der erst 1993 durch die Trennungh von Tschechien unabhängig gewordenen Slowakischen Republik bis 1918 Jahrunderte lang unter ungarischer Herrschaft gestanden hatte – und nie zur Blüte gelangte – , leben heute noch ungefähr 500.000 ethnische Ungarn in der Slowakei, ungefähr zehn Prozent der Gesamtbevölkerung. Für den populistischen slowakischen Premier Robert Fico stellt das Ungarn-Bashing somit ein nützliches Mittel zum Stimmenfang für die Wahlen am diesem Wochenende dar. „Erwartet man von uns, dass wir ruhig daneben stehen, wenn jemand auf slowakischem Territorium eine Enklave für seine Bürger schafft?“, fragte er und warnte vor einer „braunen Seuche“.
Dabei ist auch in der Slowakei die extreme Rechte an der Macht, genauer: die Nationalpartei, die offen gegen die Minderheit der Roma hetzt und bisher Koalitionär in der Regierung Fico war. Bratislava verabschiedete umgehend ein Gesetz, nach dem jeder Slowake, der die ungarische Staatsangehörigkeit beantragt, dies unverzüglich den Behörden zu melden hat und wahrscheinlich mit dem Entzug seines slowakischen Passes rechnen muss. Dass die Bürger der modernen europäischen Demokratien komplexere Identitäten aufweisen, die sich nicht allein an ethnischen Kriterien festmachen lassen, ficht ihn offensichtlich nicht an.
Das seit 1. September 2009 geltende repressive slowakische Sprachen-Gesetz, das den Gebrauch der Sprachen der Minderheiten, von denen die Ungarn die größte bilden, in der Öffentlichkeit – auf Straßenschildern, bei Bekanntmachungen und Restaurantnamen – untersagt, hat sicherlich seinen Teil dazu beigetragen, dass der ungarische Doppelpass so schnell in Gesetzesform gegossen wurde. Der Unterschied besteht laut offizieller Lesart in Bratislava darin, dass das Sprachen-Gesetz nur Slowaken betreffe, während das Budapester Gesetz über die doppelte Staatsbürgerschaft in innere Angelegenheiten der Slowakei eingreife. Ungarns Außenminister János Martonyi weist diese Behauptung zurück. Das Gesetz garantiere nicht automatisch, dass alle Auslands-Ungarn ungarische Pässe erhielten. Vielmehr gebe es ihnen die Möglichkeit, die ungarische Staatsangehörigkeit individuell zu beantragen.
Bemerkenswert ist, dass die ungarisch-slowakischen Beziehungen viel schlechter sind als die zwischen Ungarn und Rumänien. Obwohl das historische ungarische Kernland Transsilvanien heute unter Bukarester Verwaltung steht, haben sich die Beziehungen zwischen den beiden Ländern zuletzt merklich verbessert. Dass die Rumänen nicht allzu viel Aufhebens wegen des ungarischen Gesetzes machen, könnte aber auch schlicht damit zusammenhängen, dass sie selbst stillschweigend Zehntausende von Ausweisen an Angehörige der rumänischen Minderheit in Moldawien ausgegeben haben, das nicht einmal zur EU gehört.
Auf der Erfolgswoge ihres Staatsangehörigkeitsdekrets verabschiedete die ungarische Regierung gleich noch ein weiteres Gesetz, das den 4. Juni zum Tag der nationalen Einheit erhebt. Viele Budapester fragen sich, warum die regierende Fidesz-Partei sich als erstes mit derartigen Dingen befasst hat, da doch die ökonomische Lage des Landes kontinuierlich schlechter wird. Die Arbeitslosenrate liegt bei 11,8 Prozent, die Inflation bei 5,7 und der Wechselkurs des Forint fällt unablässig, nachdem sich die Fidesz-Spitze in unangemessener Weise dahingehend geäußert hatte, Ungarn könne zum nächsten Griechenland werden. Obwohl Fidesz in Sachen Doppelpass behauptet, man löse nur ein gegebenes Wahlversprechen ein, sollte oberste Priorität einer Regierung doch sein, sich um die Interessen ihrer aktuellen Bürger zu kümmern, nicht um diejenigen, die eines Tages möglicherweise dazu zählen könnten. Jetzt, da das Passgesetz verabschiedet ist, sollte die Regierung sich endlich um die Wirtschaft kümmern.
Übersetzung: Holger Hutt
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