Unterm Strich glücklich

Maurice Sendak Am Dienstag ist der Kinderbuchautor und Illustrator Maurice Sendak mit 83 Jahren gestorben. Guardian-Autorin Emma Brockes hatte ihn vergangenes Jahr noch einmal getroffen

Hier ihr Porträt, das im Oktober 2011 im Guardian erschienen ist:

Maurice Sendak sieht aus wie eine seiner eigenen Figuren: wachsame Augen, spitz zulaufende Augenbrauen, das sonderbare Haarbüschel auf dem Kopf. Sein Ruf, bisweilen sehr aufbrausend sein zu können, lässt einen wie ein Kind in einem Märchen auf Zehenspitzen durch sein herrliches Haus in Connecticut gehen. Hier lebt Sendak seit vierzig Jahren – bis vor kurzem mit seinem Partner Eugene, der 2007 gestorben ist; jetzt allein, zusammen mit seinem Hund Herman (nach Melville), einem großen Schäferhund, der uns bellend begrüßt. „Er ist Deutscher“, sagt Sendak und steht vom Tisch auf, wo er gerade am Puzzle eines Monsters aus seinem berühmtesten Buch Wo die wilden Kerle wohnen saß. „Er weiß nicht, dass ich Jude bin“, fügt er mit gedämpfter Stimme hinzu.

Auch mit 83 kann Sendak sich noch über alles mögliche aufregen, allein in den ersten zehn Minuten unseres Treffens wettert er gegen Ebooks („Ich hasse die Dinger.“), New York („Dort wird man nur herumgeschubst.“), die amerikanische Rechte („diese republikanischen Deppen“) und Rupert Murdoch („Er steht dafür, wie sehr alles auf den Hund gekommen ist.“) Er schüttelt den Kopf. „Ich kann nicht glauben, dass ich zu einem typischen alten Mann geworden bin. Ich kann es einfach nicht fassen.“ Er lächelt. „Vor ein paar Minuten war ich noch jung.“


Dieser Unschuldsblödsinn

Für die Millionen seiner Leserinnen wird er natürlich immer jung bleiben. Sie werden ihn ihm immer den Max aus Wo die wilden Kerle wohnen sehen, der vor seiner wütenden Mutter wegläuft und in seine Fantasie flüchtet. Auch hier gibt es Monster, aber Max stellt sich ihnen und kehrt dann zurück, um sich mit seiner Mutter zu versöhnen und zu Abend zu essen. Sendaks eigenes Exil dauerte da schon länger. Die Monster aus Wilde Kerle waren von seiner eigenen Verwandtschaft inspiriert. Als er klein war, waren sie in der Wohnung seiner Eltern in Brooklyn zu Besuch und kniffen ihn in die Wangen, bis sie rot waren. Rückblickend sieht er, wie verzweifelt sie alle waren, diese ersten Einwanderer aus Polen, die kein Englisch sprachen, ungebildet waren und deren Familien zuhause – obwohl sie das 1930 noch nicht wussten – die Vernichtung in den Lagern bevorstand. Damals erschienen sie ihm nur grotesk, seine Eltern inbegriffen.

Wäre er aus einer glücklichen Familie gekommen, so Sendak, wäre er nie Künstler geworden – zumindest nicht der, der er heute ist. Seine Bilderbücher sprechen von den Schrecken der Kindheit – wie schlimm und einsam sie sein kann. Der Held seines jüngsten Buches, Bumble-Ardy, ist ein kleines, von seinen Eltern vernachlässigtes Schwein, das diese dann auf der ersten Seite gleich verliert und zu einer Tante in Pflege kommt. Als Bumble neun wird, feiert es seine erste Geburtstagsparty. Und so wie in den meisten von Sendaks Geschichten geht die Sache schief: Ältere Schweine entern die Party und zerlegen in einer Art schweinischer Burleske die Einrichtung. Obwohl das Buch versöhnlich endet und Tante und Neffe sich am Schluss in die Arme nehmen, bleibt die Unsicherheit um Bumble bestehen. „Ich weigere mich, Kinder anzulügen“, sagt Sendak. „Ich weigere mich, auf diesen Unschulds-Blödsinn einzugehen.“

Sendaks Mutter wurde mit 16 allein aus Polen in die USA geschickt. Alles, was sie hatte, war der Name eines Mannes, bei dem sie ein Zimmer mieten konnte. Man schickte sie weg, erzählt ihr Sohn, weil sie mit allen im Dorf etwas hatte und ständig Ärger machte. Sein Vater war Sohn eines Rabbiners. „Er war sehr angesehen, gutaussehend und unbekümmert. Er ist ihr hierher gefolgt und hat sich mit Gelegenheitsjobs durchgeschlagen. Zuhause saß seine Familie Shiv'a für ihn, denn für sie war es entsetzlich, dass der Sohn eines Rabbis einem Mädchen bis nach New York hinterherrennt. Sendak ist immer noch benommen, wenn er daran denkt, wie unwahrscheinlich es war, dass seine Eltern überlebten. Jahrelang sah er sich ihre Fotoalben an und dachte über alle diese Menschen nach, ihre Familien. „Der Gedanke, dass ich sie nie kennenlernen würde, war schrecklich. Wer waren diese Leute? – Tote.“


Das Trauma der Eltern

"Ich erzähle Ihnen jetzt eine wahre Geschichte: Mein Vater gehörte einem jüdischen Club an. Am Tag meiner Bar Mitzwa erfuhr er über diesen Club, dass er keine Familie mehr hatte. Alle waren weg. Er legte sich auf's Bett. Ich kann mich noch so lebhaft daran erinnern. Meine Mutter sagte zu mir: 'Papa kann nicht kommen.' Es war aber eine große Feier für mich vorbereitet. Also erwiderte ich: 'Warum kann Papa nicht zu meiner Bar Mitzwa kommen?' und schrie ihn an: 'Du musst aufstehen! Du musst aufstehen!' Und natürlich tat er das dann auch. Alles, woran ich mich danach noch erinnere, ist, dass ich ihn angesehen habe, als die Gäste For He's a Jolly Good Fellow anstimmten. Sein Gesicht war kreidebleich und ich wusste, dass ich seinen Schmerz unnötig vergrößert hatte.“

Seine Eltern waren traumatisiert. Man kann verstehen, dass sie eine große Wut in sich trugen und „nicht richtig tickten“. In solchen Feuern wurde Sendaks Talent geschmiedet. „Und dann wirst du erwachsen und machst Kinderbücher.“ Er ist immer noch wütend. Aber seit dem Tod seines Partners Eugene sei es nur noch ein Nachhall des früheren Zorns. Mit Eugene, einem Psychoanalytiker, war er 50 Jahre lang zusammen. Seine Eltern wussten nichts von ihrer Beziehung, zumindest offiziell nicht. „Natürlich wussten sie es. Insbesondere mein Vater. Meine Mutter war so sonderbar, sie lebte in einer anderen Welt und ich kann nicht sagen, was genau sie ahnte. Aber geredet wurde nicht darüber. Wenn ich etwas gesagt hätte, hätten sie mich weggejagt. Und dennoch trafen sie ihn und respektierten ihn. Sonderbar.“

Kann es da verwundern, dass er sich in seinen Arbeiten stets gegen Euphemismen, Weißwäscherei und immer für die ungeschminkte Wahrheit entschieden hat? Eine Cousine war die erste, die ihn dazu ermunterte, über den Tellerrand seines engen Brooklyner Lebens hinauszublicken. Sie war Kommunistin und sie sollten sie eigentlich meiden. Aber er und seine Schwester stahlen sich aus dem Haus, um diese Frau zu treffen. Sie erkannte sein zeichnerisches Talent. Die Schule hatte er immer gehasst und zum Entsetzen seiner Eltern ließ er die Universität links liegen und wurde lieber Illustrator. Sein erster Auftrag bestand in der Illustration eines Physik-Lehrbuches, das Atomics for the Millions hieß. Seitdem hat er über 100 Bücher illustriert, und über 20 davon selbst geschrieben. Das 1963 veröffentlichte Wo die wilden Kerle... hat sich zwar über 17 Millionen Mal verkauft, ist aber nicht sein Lieblingsbuch. Diese Ehre kommt Outside Over There zu, in dem es um Geschwister geht. Geschwister mochte er schon immer.


'Warum waren wir so grausam?'

Der Begriff „Kinderbuchillustrator“ gefällt ihm nicht. Er hat das Gefühl, er schmälere sein Talent. „Ich muss meine Rolle akzeptieren. Ich werde mich nie umbringen wie Vincent Van Gogh. Ich werde auch nie so herrliche Seerosen malen wie Monet. Ich kann das nicht. Mir kommt die idiotische Rolle zu, Kinderbücher zu machen.“ Er und Eugene haben nie darüber nachgedacht, selbst Kinder zu haben. Er ist sich sicher, dass er das nicht gekonnt hätte. Seinem Bruder ging es ebenso: Nach ihrer Kindheit waren sie zu gestört. „Sie führten ein Leben ohne Hoffnung“, sagt er über seine Eltern. „Eigentlich hätten sie verrückt werden müssen. Und wir – machten uns lustig über sie. „Als mein Bruder starb, sah er mich an – seine Augen waren voller Tränen – und sagte: 'Warum waren wir so grausam zu Mama?' Und ich antwortete ihm 'Lass das. Wir waren Kinder, wir haben nicht verstanden. Wir wussten nicht, dass sie verrückt war.'“

Aber zumindest einen Augenblick der Versöhnung und des Verstehens gab es. Sie machten sich nie viel aus seinen Bildern. Bis auf das eine Mal, als er gefragt wurde, Geschichten von Isaac Bashevis Singer zu illustrieren, der 1978 den Literaturnobelpreis erhalten hatte. Um die Geschichten zu illustrieren, griff er auf die Fotoalben seiner Eltern zurück. „Ich blätterte durch das Album und wählte einige der Verwandten meiner Mutter und einige der Verwandten meines Vaters aus und zeichnete sie sehr genau nach. Und sie weinten. Und ich weinte.“


Sterben wie William Blake

Auch er sei verrückt, sagt er. „Ich bin total verrückt, das weiß ich. Ich sage das nicht aus Koketterie. Das ist, was meine Arbeit gut macht. Und ich weiß, dass meine Arbeit gut ist. Sie gefällt nicht jedem, aber ich mache sie auch nicht für jeden. Oder für irgendjemanden. Ich mache sie, weil ich sie nicht nicht machen kann.“ Ganz so verrückt können Sie nicht gewesen sein, sage ich: Sie haben es geschafft, ein halbes Jahrhundert mit einem Menschen zusammen zu sein. „Ja! Und es ging ihm gut dabei. Er liebte Musik und Literatur. Er hat nie geraucht und starb an Lungenkrebs – völlig absurd. Ich hatte diese Freundschaft für eine sehr, sehr lange Zeit.“.

Nach Eugenes Tod dauerte es nicht lange, und Sendak bekam Probleme mit dem Herzen. Er sei in Trauer versunken, sagt er. Es vergeht keine Woche, in der nicht ein weiterer Freund stirbt. „Ich vermisse sie einfach schrecklich. Es macht keinen Spaß, einsam zu sein.“ Aber er hat noch seinen Hund. Er legt gerne die Arme um seinen großen Kopf und tätschelt ihn – und Lynn, die nach ihm sieht.

Trotz seines Gejammers sei er unterm Strich ein glücklicher Kerl. Er arbeitet an einem Buch über Nasen, hört Schubert und seinen Helden Mozart. Dann gibt es da ein paar AutorInnen, die er noch einmal lesen möchte, bevor er stirbt: Samuel Palmer, Proust, George Eliot.

Und dann packt es ihn wieder: Salman Rushdie hat ihn einmal in der New York Times schrecklich verrissen. „Dieses saftlose Arschloch. Er war unausstehlich. Niemand weiß, dass ich es war, der den Ayatollah angerufen hat.“ Roald Dahl: „Die Grausamkeit in seinen Bücher ist abstoßend. Der Typ macht mir Angst. Ich weiß, dass er sehr beliebt ist, aber was finden die Leute an dem Typen. Er ist tot, das ist das einzig Angenehme an ihm.“ Stephen King: „Bullshit.“ Gwyneth Paltrow: "Kann ich nicht leiden.“

Sendak ist auf der Suche nach einem „yummy death“ – einem „leckeren Tod“. William Blake hat den Maßstab gesetzt, indem er im letzten Augenblick von seinem Totenbett aufsprang und zu singen anfing. „Ein glücklicher Tod ist möglich“, sagt er und hebt die Augenbrauen. „Wenn man William Blake ist und völlig verrückt.“

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Übersetzung: Holger Hutt
Geschrieben von

Emma Brockes | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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