Vergessen zum Essen

Hirndiabetes Ist Alzheimer eine neue Form von Zuckerkrankheit? Forscher finden immer neue Hinweise darauf. Es wird Zeit, vorzusorgen
Vergessen zum Essen

Illustration: APFEL ZET

Wenn man die Themen Übergewicht und Fettleibigkeit anspricht, lernt man die Menschen oft von ihrer schlechtesten Seite kennen. Viele jedenfalls, die darüber im Netz diskutieren, haben an dem Problem offenkundig Freude. Überwiegt bei Alkoholismus und Drogensucht noch das Mitgefühl, wird die Debatte über Dicke von Spott und Schuldzuweisungen beherrscht – obwohl vieles darauf hindeutet, dass es sich auch beim übermäßigen Essen um eine Sucht handelt. Die enge Verbindung zwischen falscher Ernährung und Armut ermöglicht wohl, das Thema als Chiffre für etwas zu verwenden, das gesellschaftlich sonst nicht akzeptiert und deshalb schwer auszusprechen ist.

Dabei geht das Problem uns alle an. Obwohl der Einzelne eine falsche Ernährung vermeiden kann, müssen die steigenden Kosten durch ernährungsbedingte Krankheiten immer noch von uns allen getragen werden. Und diese Kosten – gemessen auch in menschlichem Leid, abgesehen vom Geld – fallen womöglich viel höher aus, als wir es uns bisher vorstellen wollten. Es gibt Hinweise darauf, dass es sich auch bei Alzheimer in erster Linie um ein ernährungsbedingtes Stoffwechselleiden handelt. Einige Wissenschaftler sprechen sogar von „Typ 3 Diabetes“, einer dritten Form der Zuckerkrankheit also, von welcher man bislang nur zwei – Typ 1 und 2 – kannte.

Der britische New Scientist berichtete darüber im September in seiner Titelgeschichte. Seither habe ich viel Zeit in der Bibliothek verbracht und versucht herauszufinden, wie belastbar das Ganze ist. Ich habe Dutzende von Papern zu dem Thema gelesen und meine kognitiven Fähigkeiten bei dem Versuch mehr oder weniger ausgereizt, die Chemie des Gehirns zu verstehen. Mein Fazit: Obwohl diese Hypothese noch lange nicht bewiesen ist, erscheinen mir die Belege, die bislang zusammengetragen worden sind, doch ziemlich überzeugend.

Weltweit leiden etwa 35 Millionen Menschen an Alzheimer. Aktuelle Prognosen, die der Alterung unserer Gesellschaften Rechnung tragen, sagen bis zum Jahr 2050 100 Millionen Betroffene voraus. Wenn es stimmt, dass diese verheerende Krankheit durch eine gestörte Reaktion des Gehirns auf das Stoffwechselhormon Insulin verursacht wird, kann die Zahl erheblich höher ausfallen: In den Vereinigten Staaten hat sich der Bevölkerungsanteil mit Typ-2-Diabetes, der ebenfalls von einem gestörten Insulinhaushalt verursacht wird, binnen 30 Jahren fast verdreifacht.

Ständiges Überangebot

Das Hormon Insulin sorgt dafür, dass Leber, Muskeln und andere Gewebe Zucker aus dem Blut aufnehmen. Diabetes äußert sich durch einen stark erhöhten Blutzucker. Er entsteht bei Typ-1-Diabetikern dadurch, dass die Bauchspeicheldrüse zu wenig Insulin produziert, um den Zucker aus dem Blut zu ziehen. Der überwältigende Teil der Diabetiker leidet aber inzwischen unter Typ 2: Diese Menschen werden unempfindlich für das vorhandene Insulin, ausgelöst durch ein ständiges Überangebot an Zucker, das wiederum ein ständiges Überangebot an Insulin erzeugt. Irgendwann hören die Zellen auf zu reagieren. Und wie Forscher jetzt glauben, reagieren auch die Nervenzellen im Gehirn nicht mehr und gehen zugrunde, obwohl Insulin auch dort eine Reihe wichtiger Funktionen ausübt. Es vermittelt Signale zwischen Nervenzellen und beeinflusst deren Größe, Funktionalität – und ihr Überleben.

Für einen Zusammenhang zwischen Alzheimer und Typ-2-Diabetes gibt es dabei schon längst Belege: Typ-2-Diabetiker haben im Vergleich zum Rest der Bevölkerung ein bis zu dreimal so hohes Risiko, an dieser schweren Form der Demenz zu erkranken. Es gibt auch Zusammenhänge zwischen Alzheimer und Fettleibigkeit und zwischen Alzheimer und dem Metabolischen Syndrom (einem Komplex zum Teil ernährungsbedingter Erkrankungen).

Konkret stellten Wissenschaftler vor sieben Jahren zum ersten Mal die Vermutung auf, dass Alzheimer eine weitere Form des Diabetes sein könne. Die Forscher hatten die Gehirne von 54 Leichen untersucht. 28 von ihnen stammten von Alzheimer-Patienten. Es zeigte sich, dass die Menge von Insulin und den zugehörigen Rezeptoren in den Gehirnen der Alzheimer-Patienten im Vergleich zu Gesunden deutlich verändert waren, und zwar besonders stark in den Regionen des Gehirns, die heftig von der Krankheit betroffen waren.

Die Arbeit führte die Forscher zu dem Schluss, dass Insulinresistenz nicht nur im Körper, sondern auch im Gehirn bedeutende Folgen haben kann, und seither durchgeführte Versuche scheinen das nur zu bestätigen. Allein in diesem Jahr sind mehrere Arbeiten und Kommentare in angesehenen Fachzeitschriften erschienen, die recht deutlich darauf hinweisen, dass die Gehirne von Alzheimerpatienten zuckerkrank sind. Studien zeigen, dass bestimmte Anti-Diabetika bei Alzheimer therapeutische Wirkung entfalten könnten. Und Experten beginnen allmählich, sich ein Bild von den entsprechenden Mechanismen zu machen, aber das ist ein hochkomplexes Unterfangen – neben anderen Einflüssen spielen Entzündungen, durch Oxidation verursachter Stress und zwei bestimmte veränderte Eiweiße eine Rolle.

Es muss also noch viel Forschungsarbeit geleistet werden. Bestätigen sich die gegenwärtigen Annahmen aber, handelt es sich bei Alzheimer um eine weitere katastrophale Folgeerscheinung der Junkfood-Industrie – und zwar um die bislang schlimmste. Wie bei allen anderen Krisen scheinen unsere Regierungen unfähig, darauf zu reagieren. In Großbritannien, wie in vielen anderen Ländern auch, beschränkt sich die Antwort auf die vielfältigen Katastrophen, die durch übermäßigen Zucker- und Fettkonsum verursacht werden, im Wesentlichen darin, an die Industrie und an die Verbraucher zu appellieren und ihnen die Verantwortung für eine „richtige Ernährung“ zu übertragen – eine Strategie, die nur funktionieren würde, wenn die Industrie freiwillig damit aufhörte, nach Profit zu streben.

Kein Sättigungssignal

Stattdessen stopft diese Industrie ihre Produkte weiter mit Fett, Salz, Zucker und Maissirup voll und manipuliert unsere Nahrung auf diese Weise so, dass unsere Gehirne kein Sättigungssignal mehr kennen. Diese Industrie darf Erwachsene und Kinder auch mit Werbung bombardieren und das einzig verfügbare System zur Information über den Salz-, Fett- und Zuckergehalt von Lebensmitteln – die sogenannte Lebensmittelampel – dazu missbrauchen, die Konsumenten für den Verzehr dieser billigen Produkte verantwortlich zu machen. Das ist Klassenkampf – ein Krieg der Manager in Regierung und Industrie gegen die Armen.

Es lässt sich daher zwar nicht mit Gewissheit sagen, dass das schlechte Essen unserer Zeit einer der Hauptgründe für Alzheimer ist. Aber wenn es jemals einen Anlass für die Anwendung des Vorsorgeprinzips gab, dann jetzt. Wir verlieren nichts, wenn wir weniger Abfall essen. Um eine mögliche Alzheimer-Epidemie zu vermeiden, muss man deshalb zum einen dem Spott gegenüber Menschen mit Ernährungsproblemen und Übergewicht die Stirn bieten. Vor allem aber muss man sich gegen all jene wehren, die ihre industriell vergifteten Nahrungsprodukte ohne Skrupel unter die Leute bringen.

George Monbiot ist politischer Aktivist und Autor einer Kolumne im britischen Guardian

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Übersetzung: Holger Hutt, Bearbeitung: Kathrin Zinkant
Geschrieben von

George Monbiot | The Guardian

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