Verloren im All

Weltraumforschung Der jüngste Orion-Testflug soll den Weg für bemannte Missionen weisen. Wissenschaftler halten das für längst überholt
Ausgabe 51/2014
Ist die Ära der Astronauten bald vorbei?
Ist die Ära der Astronauten bald vorbei?

Montage: der Freitag; Fotos: NASA

Amerikas erster Schritt zur Rückeroberung des Weltraums war ein voller Erfolg: Am 5. Dezember 2014 umrundete eine unbemannte Version des Raumschiffs Orion MPCV zweimal die Erde, stieg in eine Höhe von 5.800 Kilometern auf und wasserte punktgenau im Pazifischen Ozean. Feierlich kündigte die NASA daraufhin eine ganze Orion-Flotte an, mithilfe derer Männer und Frauen zukünftig zum Mond, zum Mars und noch weiter hinaus ins All befördert werden sollen.

Viele Wissenschaftler jubelten. Viele Jahre, nachdem das letzte Space Shuttle abgewrackt wurde, können sie es kaum erwarten, dass die USA endlich wieder Astronauten aussenden. Manche sind aber auch weniger glücklich über den Testflug. Sie halten die bemannte Raumfahrt für überteuert, nutzlos und sogar schädlich für die Wissenschaft. „Lange Zeit dachte ich, Präsident Obama wäre so vernünftig, die USA von ihrem Faible für Menschen im All abzubringen“, sagt der Physik-Nobelpreisträger Steven Weinberg. „Leider hat der Orion-Flug diese Hoffnung zunichtegemacht.“

Kritiker wie Weinberg verweisen gerne auf die europäische Rosetta-Philae-Mission, mit der im November erstmals die Landung auf einem Kometen gelang. In solchen Robotersonden liege die eigentliche Zukunft für die Erforschung des Sonnensystems, sagen sie. Menschen an Bord seien bloß lästig und kostspielig.

Diese beiden Lager – bemannt versus unbemannt – stehen für zwei ganz unterschiedliche Ansätze in der Weltraumforschung. Es ist interessant, ihre Positionen einmal näher zu betrachten. Ian Crawford, Astronomieprofessor am Birkbeck College in London, ist beispielsweise überzeugt, dass Roboter zwar hochkomplexe Aufgaben bewältigen können, die Forschung jedoch auch in Zukunft auf die Hilfe und Umsetzung von Menschen nicht ganz verzichten können wird. „Wir haben viel von den Apollo-Missionen gelernt, aber gelandet sind sie alle in der Nähe des Mondäquators und alle auf der Vorderseite“, sagt Crawford. „Gesteinsproben konnten sie dort nur von der Oberfläche nehmen. Auf der Rückseite des Mondes aber gibt es eine Region, wo Meteoriteneinschläge Gestein aus großer Tiefe freigelegt haben. Könnten wir diese Gebiete auch erforschen und von dort ebenfalls Proben zur Erde bringen, so würden wir mit großer Sicherheit ganz neu verstehen lernen, wie sich unser Planet und sein Trabant einst gebildet haben.“

Auf Titan und auf Enceladus

Crawford stellt sich eine Handvoll Forschungsstationen auf dem Mond vor, nach dem Vorbild der Antarktis. Von diesen Stationen aus würden Astronauten den Himmelskörper erkunden und ihre Proben sammeln. „Auch bei solchen Missionen kämen Robotersonden zum Einsatz, aber sie wären dabei weiterhin auch menschlicher Führung und Intuition unterstellt. Menschen und Roboter würden also zusammenarbeiten.“ Und nach dem Mond, fügt er hinzu, könnten auch der Mars und vielleicht die Asteroiden auf ähnliche Weise erforscht werden.

Andere Wissenschaftler halten solchen Enthusiasmus für verfehlt. So argumentiert Martin Rees, britischer Hofastronom, der Aufwand für die bemannte Raumfahrt sei angesichts der Fortschritte in der Robotertechnik kaum mehr zu rechtfertigen: „Die großen Durchbrüche bei der Erforschung des Sonnensystems verdanken wir schon heute den unbemannten Sonden. Gute Beispiele dafür sind zwei Entdeckungen auf Saturnmonden – die riesigen Kohlenwasserstoffseen auf Titan und der unterirdische Ozean auf Enceladus.“

Zwar könne es weiterhin auch bemannte Raumflüge geben, ohne dass die Wissenschaft Schaden nehmen müsse – jedoch nur, wenn man sie Privatunternehmern wie Elon Musk überlasse, dessen „SpaceX“-Raketen in den vergangenen Jahren Nutzlasten zur Raumstation ISS geflogen haben. „Die Zukunft der planetaren Forschung sind aber die unbemannten Sonden, die sich überall im Sonnensystem ausbreiten können“, sagt Rees. „Es ist auch denkbar, dass Roboter auf Asteroiden Bergbau betreiben und im All oder auf dem Mond große Bauwerke errichten.“

Kosmo-, Astro-, Taikonauten

Über die bemannte Raumfahrt Als erster Mensch im Weltraum umflog der russische Kosmonaut Juri Gagarin am 12. April 1961 mit dem Raumschiff Wostok 1 die Erde auf einer Umlaufbahn. Auf seine Mission folgte eine Reihe von Raumflügen der Sowjetunion und der USA in immer größeren Kapseln, bis hin zu den Mondlandungen des Apollo-Programms zwischen 1969 und 1972. Die zwölf Apollo-Astronauten auf dem Mond sind bis heute die einzigen Menschen, die einen außerirdischen Himmelskörper betreten haben.

Weil das Interesse nachließ, brachen die USA das Programm ab und strebten den Bau einer Flotte von Space Shuttles an. Sie sollten Nutzlasten in den Orbit befördern und im wöchentlichen Rhythmus starten, so der ehrgeizige Plan der NASA. Das erste Shuttle, die Columbia, flog am 12. April 1981. 30 Jahre später wurde die Flotte nach nur 135 Flügen und zwei Unfallkatastrophen stillgelegt, bei denen die Shuttles Challenger und Columbia in Flammen aufgingen und ihre Besatzungen ums Leben kamen.

Russlands Sojus-Kapsel ist das einzige Raumfahrzeug, das Menschen zur ISS fliegen kann. Zugleich verfolgt China als dritter Staat der Welt ein eigenes Programm zur bemannten Raumfahrt. Dessen vorläufiger Höhepunkt ist der Flug des Taikonauten Yang Liwei, der 2003 in der Kapsel Shenzhou 5 die Erde 14 Mal umrundete.

Nobelpreisträger Weinberg wird beim Stichwort ISS erst recht ungehalten. Er nennt die von der NASA als multidisziplinäres Laboratorium angepriesene Raumstation einen „orbitalen Rohrkrepierer“. Keinerlei wichtige Forschung sei dort bisher geleistet worden, außer einem einzigen Experiment mit kosmischer Strahlung, das man aber ebenso gut auf einem Satelliten ohne Besatzung hätte ausführen können. Überhaupt habe die bemannte Raumfahrt mit ihren milliardenschweren Programmen nur kümmerliche Forschungsresultate erbracht. Und dabei verdränge sie noch die echte Wissenschaft.

Weinberg erinnert daran, wie US-Präsident George W. Bush im Jahr 2004 neue Pläne für bemannte Raumflüge der NASA verkündete, die weiter als bisher, zum Mars, führen sollten. Wenige Tage später gab die NASA drastische Kürzungen bekannt – mit der Begründung, es diene „nicht eindeutig den Zielen des Präsidenten in der Weltraumforschung“. Zugunsten der bemannten Raumfahrt wurden also die Mittel für wissenschaftliche Forschung zusammengestrichen.

Dieser Haltung fiel auch der amerikanischen Teilchenbeschleuniger SSC (Superconducting Super Collider) zum Opfer. In ihm sollten subatomare Partikel mit gewaltiger Energie gegeneinanderprallen und neue Erkenntnisse zum Aufbau der Materie liefern. Doch der 12 Milliarden Dollar teure Bau in Texas wurde 1993 abgebrochen, weil der Kongress befand, dass die USA nicht zugleich den SSC entwickeln und Hauptfinanzier für die Internationale Raumstation sein könnten. So erhielt – vorwiegend aus politischen Gründen – die Raumstation den Vorzug. Und die Europäer konnte im CERN bei Genf in aller Ruhe ihren eigenen Beschleuniger bauen, wo Forscher dann 2013 das Higgs-Boson nachwiesen und wo sie sich demnächst auf die Suche nach der geheimnisvollen dunklen Materie begeben wollen.

Die USA haben nun stattdessen ihren „orbitalen Rohrkrepierer“, für Weinberg die Frucht einer tragischen Fehlentscheidung: „Das einzige Gebiet, auf dem die ISS echten technologischen Fortschritt gebracht hat, ist, wie man Menschen im Weltraum am Leben erhält; ein sinnloser Zirkelschluss, wenn man einmal eingesehen hat, dass es nichts bringt, Menschen in den Weltraum zu schicken.“

Sind wissenschaftliche Forschung und bemannte Raumfahrt also unvereinbar? Nein, sagt Astronom Crawford. Vor allem sei die Effizienz von Robotern ein Mythos, bei vielen Tätigkeiten im Weltraum bleibe der Mensch unersetzlich: „Schauen Sie sich Philae an, den Lander von Rosetta. Er prallte zu hart auf den Kometen 67P auf und konnte dann nur noch wenige Tage lang arbeiten – in denen er zum Glück sehr wichtige Daten lieferte. Wäre es aber eine größere Mission gewesen, mit Astronauten an Bord, so hätte ein erfahrener Pilot auch auf diesem schwierigen Gelände eine sanfte Landung hinbekommen. Man hätte Messinstrumente auf dem Kometen hinterlassen und Proben von Gestein, Staub und Eis zurück zur Erde gebracht, wo sie dann in aller Ruhe in Labors hätten untersucht werden können. So sehen die Vorteile der bemannten Raumfahrt aus.“

Wie unterschiedlich die Forschungserträge bemannter und unbemannter Raumflüge seien, veranschaulicht Crawford, indem er die Mission Apollo 17 – geflogen 1972 von den Astronauten Gene Cernan und Harrison Schmitt – mit den Expeditionen des Marsrovers Opportunity vergleicht, der 2004 auf dem roten Planeten abgesetzt wurde: „Appollo 17 war drei Tage auf dem Mond, und in dieser Zeit unternahmen die Astronauten Forschungsgänge von insgesamt 31 Kilometern Länge. Sie bohrten auch ein drei Meter tiefes Loch in die Mondoberfläche, installierten eine ganze Reihe von Messinstrumenten und brachten einen 76 Kilo schweren Gesteinsbrocken zur Erde. Opportunity brauchte zehn Jahre, um 31 Kilometer zurückzulegen. Er bringt keine Proben zur Erde, bohrt keine Löcher und liefert nur dürftige Daten.“

Das Ertragsgefälle lasse sich auch an der Zahl der wissenschaftlichen Veröffentlichungen zum Apollo-Programm bemessen. Sie übersteigt die Menge an Publikationen zu sämtlichen unbemannten Mond- und Marsmissionen bei weitem. „Das wissenschaftliche Vermächtnis der Apollo-Flüge ist mit Abstand das größte aus allen Weltraummissionen“, sagt Crawford.

Allerdings hatte dieses Vermächtnis auch seinen Preis. Das Apollo-Programm der 1960er und 70er Jahre verschlang 25 Milliarden Dollar – mehr als 100 Milliarden Dollar nach heutigem Wert. Daraus lässt sich schließen, dass bemannte Missionen über hundertmal so teuer kalkuliert werden müssen wie unbemannte.

Hubble gegen Armstrong

In der Frühzeit der Raumfahrt gab es kaum Alternativen zum Einsatz von Astronauten. Doch seither hat die Robotertechnik große Fortschritte gemacht. Marsrover können auf steinigem Gelände navigieren und Bodenproben untersuchen – mit Technologie aus dem 20. Jahrhundert. „Die Rosetta-Mission wurde in den 1990ern entwickelt, als Handys noch so groß wie Ziegelsteine waren“, argumentiert Hofastronom Rees. „Heute sind sie viel kompakter und haben viel mehr Funktionen.“

Auch Befürworter der bemannten Raumfahrt, wie der Astrophysiker Martin Barstow von der Universität Leicester, räumen ein, dass Flüge mit Menschen an Bord weit teurer sind als unbemannte. Zugleich seien sie aber auch ungleich effektiver: „Zum Beispiel auf dem Mars. Wir könnten Roboter dazu bringen, etwas von der Oberfläche zu schaben und Proben zur Ende zu senden. Aber wenn wir die wenigen Orte finden wollen, an denen es noch primitives Leben geben könnte, müssen wir Menschen hinschicken. Für solche Aufgaben ist menschliche Intuition unerlässlich.“

Auch auf die inspirierende Wirkung bemannter Raumflüge verweisen die Verfechter immer wieder. In den 60ern konnten die Pioniertaten von Juri Gagarin oder Neil Armstrong zahlreiche junge Leute für Technik begeistern und zu wissenschaftlichen Karrieren anregen. Aber ist das immer noch so? Wenn in einem Klassenraum von 2014 Weltraumbilder aushängen, dann eher die atemberaubenden Fotos, die das Hubble-Teleskop von Sternen und Galaxien gemacht hat, als Bilder von Astronauten. „Was heute interessiert, sind die unbemannten Missionen“, sagt Rees. „Astronauten bringen es nur noch in die Nachrichten, wenn auf der Raumstation die Toilette verstopft ist.“ Ob die bemannte Weltraumfahrt eine Zukunft hat, steht also auch nach dem Orion-Testflug in den Sternen.

Robin McKie leitet das Wissenschaftsressort des Observer und ist Autor zahlreicher Bücher
Übersetzung: Michael Ebmeyer

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Geschrieben von

Robin McKie | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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