Bevor die Polizei das Gelände stürmte, sah man zwischen den Zelten und angenehm schattigen Bäumen des Istanbuler Gezi- Parks immer wieder das Porträt eines Mannes im europäischen Anzug. Egal, wohin man blickte, man begegnete dem festen Blick Mustafa Kemal Atatürks, des Gründers der türkischen Republik. Bilder des ersten Präsidenten hingen an Ästen, standen auf Teetischen und rahmten gar ein großes Transparent, das den türkischen Premier Tayyip Erdogan in Hitler-Montur zeigte.
„Wir lieben Ataturk aufrichtig. Er hat unser Land verändert. Er hat es zu einer modernen Republik gemacht“, so Murat Bakirdoven, ein 24-jähriger Biologie-Student, der mehr als eine Woche im Park campierte. Eine andere Fotografie, die Atat
e andere Fotografie, die Atatürk in einem Straßenanzug mit einer Zigarette in der Hand und auf einem Lederstuhl sitzend abbildete, gab es auch zu sehen. Bakirdoven: „Erdogan will, dass wir ihn vergessen. Aber wir versuchen, eine Atatürk-Renaissance ins Leben zu rufen.“ Fernsehzeit für PinguineFür die Bewegung, die sich von den autoritären Gebaren und Polizeirepressionen der Regierung nicht beeindrucken lässt, gilt Atatürk als Held. Der vor 75 Jahren Verstorbene ist als Symbol einer stark studentisch geprägten Anti-Erdogan-Bewegung zu neuem Leben erwacht. Das zweite Motiv ist übrigens ein Pinguin und bezieht sich auf die staatlichen Medien, die tagelang nichts über die Proteste berichtet haben. CNN Turk strahlte stattdessen eine Dokumentation über die Antarktis aus. Der Symbolismus trifft den Kern dessen, worum es bei diesem in seiner Form beispiellosen Aufruhr geht: die Identität der Türkei als moderner Staat und die Frage, ob dieses Land der fortschrittliche, säkulare europäische Nationalstaat sein sollte, den Atatürk ursprünglich aus den Trümmern des Osmanischen Reiches formen wollte. Oder ob es ein dezidiert religiöses Land, die islamische Version einer christlichen geprägten Demokratie, geben soll. Die Demonstranten wollen das erste; Erdogan und seine regierende Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP), die ihre Wurzeln im politischen Islam hat, offenbar Letzteres.Der Widerstand ist erbost über Erdogans Versuche, der gesamten Bevölkerung die islamischen Werte aufzuzwingen. Im Mai hat die Regierung ein neues Gesetz verabschiedet, das den Verkauf von Alkohol zwischen zehn Uhr abends und sechs Uhr morgens verbietet und in der Nachbarschaft von Schulen und Moscheen gänzlich für unzulässig erklärt. Vor zwei Jahren stellte sie den Zugriff auf pornografische Internetseiten unter Strafe und nahm zeitweilig YouTube vom Netz. Erdogan hat sich zudem gegen die Rechte Homosexueller ausgesprochen. Ingenieur der Gesellschaft„Dadurch baute sich ein gewaltiger Druck auf“, meint Bakirdoven. Viele vermuten auch eine schleichende Kampagne, um Atatürks Ansehen zu untergraben. Traditionell feiern junge Türken am 19. Mai den Atatürk-Tag, indem sie in den Stadien des ganzen Landes tanzen und singen. 2012 äußerte sich Erdogan abfällig über die Zeremonie. Niemand wolle sehen, wie Mädchen in kurzen Röckchen herumhüpfen. In der Vorwoche verteidigte er dann das neue Alkoholgesetz, indem er Atatürk und dessen engsten Vertrauten, Ismet Inönü, ein Paar von „Säufern“ nannte.All dies hat die gebildete, türkische Mittelschicht wachgerüttelt, sich für den Erhalt ihrer persönlichen Freiheiten einzusetzen. Deshalb wurde – was als kleiner Protest begann – innerhalb von zwei Wochen zu einer landesweiten Revolte. Drei Menschen sind ums Leben gekommen, 4.000 wurden verletzt und 400 verhaftet. Die Demonstrationen haben sich auf über 70 Städte ausgeweitet, einschließlich der Hauptstadt Ankara und der widerspenstigen westlichen Stadt Izmir.Erdogans Reaktion auf die Krise war typisch für ihn. Er bezeichnete die Demonstranten als „Vandalen“ und den Kurznachrichtendienst Twitter als „Fluch“. Schließlich bezichtigte er die EU der Doppelmoral, nachdem die das brutale Vorgehen der türkischen Polizei mit Wasserwerfern und Tränengas gegen friedliche Demonstranten verurteilt hatte. Des weiteren hat er versucht, die Unruhen finsteren ausländischen Mächten und heimischen Terroristen in die Schuhe zu schieben. Experten halten Erdogans neo-islamistisches Projekt für gescheitert. „Es wird ihm nie gelingen, die Zivilgesellschaft unter seine Kontrolle zu bringen“, meint Cengiz Aktar, Professor für Politikwissenschaften an der Istanbuler Bahcesehir-Universität. „Bis zu einem gewissen Maße handelt es sich um eine Re-Islamisierung. Erdogan ist ein frommer Moslem. Noch mehr als das ist er ein Ingenieur der Gesellschaft. Er hat eine sehr hohe Meinung von seinen eigenen Werten – von islamischen Werten.“ Aktar glaubt, Erdogan habe sich entschlossen, die Reformen Atatürks rückgängig zu machen, nachdem er 2011 mit einer breiten Mehrheit die Parlamentswahl gewonnen hat – sein dritter Wahlsieg. „Der politische Islam war immer der Auffassung, zum Teil auch zu recht, dass Muslime – besonders Sunniten – in diesem Land die Mehrheit stellen. Die Macht des Kemalismus delegitimierte sie. Das ist das grundlegende Paradigma. Erdogan und seine Anhänger haben angefangen, das in Frage zu stellen.“ Sommer der LiebeAm umstrittensten ist Erdogans Plan, den Gezi Park zu roden und die osmanische Militärkaserne wieder aufzubauen, die einst dort stand. Sie war der Schauplatz, an dem 1909 der osmanische Sultan Abdul Hamid II. versuchte, die liberalen Reformen zu stoppen, die schließlich zu Atatürks moderner Republik führten. Also wäre der Wiederaufbau ein ausgesprochen symbolischer Akt. Des weiteren hat der türkische Premier Istanbuls „dritte Brücke“, die einmal Europa mit Asien verbinden soll, nach einem osmanischen Despoten benannt, der im 16. Jahrhundert Zehntausende von Aleviten, Kurden und Turkmenen abschlachten ließ.Für Kritiker sind diese Entscheidungen Teil einer sinistren Politik, die sich nach einer Kitsch-Version der prä-atatürkischen Vergangenheit sehnt. Murat Bakirdoven zufolge gibt es indes nur wenig Gründe, nostalgisch zu sein. „Das Osmanische Reich war religiös, sehr streng und wurde nach dem islamischen Recht regiert. Frauen hatten keine Rechte und durften nicht wählen.“ Atatürk hingegen trennte Staat und Religion und gab den türkischen Frauen noch vor der Schweiz und Deutschland das Stimmrecht. „Atatürk war kein Diktator. Er glaubte an das Gesetz.“Seit den jüngsten Polizeiaktionen dürfte es mit Istanbuls Sommer der Liebe vorbei sein. Am Anfang skandierten Gruppen von Studenten noch: „Wir sind die Soldaten Atatürks“. Sie ließen dann davon ab, nachdem sich feministische Demonstranten gegen militaristische Untertöne ausgesprochen hatten. Bakirdoven sagt: „Zunächst haben wir gesungen: 'Erdogan ist ein Hurensohn'. Aber als die Polizei uns mit Tränengas eingedeckt hat, öffnete uns eines der Bordelle auf dem Taksim die Türen. Die Frauen gaben uns Zuflucht und haben uns mit Zitronen behandelt. Wir singen jetzt mehr über sie.“