Die arabische Welt ist von einer tiefen Freude ergriffen. Das ist überall zu spüren. Die Araber freuen sich nicht allein darüber, dass eine lange unterdrückte Bevölkerung versucht, sich ihre Freiheit zu erkämpfen. In einer Diktatur zu leben, bedeutet nicht einfach nur, den Mund zu halten und alles hinnehmen zu müssen. Es ist eine sich tagtäglich wiederholende Erniedrigung und Demütigung des menschlichen Geistes: Jedes Mal, wenn man seine Stimme senkt, weil man einen Politiker erwähnt; jedes Mal, wenn man die allgegenwärtige Korruption als natürliche und unabänderliche Sache abtut; jedes Mal, wenn man sich den Vorschriften beugt in einem Land, in dem Beziehungen systematisch über das Gesetz triumphieren; jedes Mal, wenn man ans Auswandern denkt, einfach nur, um Mittelmäßigkeit und Stillstand zu entkommen. Immer verliert man ein kleines Stück seiner Würde.
Lebensversicherung der Etablierten
Die Tunesier haben jahrelang so gelebt, weil sie das Regime Ben Alis fürchteten. Jetzt hat es sich als verfault und hohl erwiesen. Dieses kleine, gut ausgebildete Volk von zehn Millionen Menschen, hat eine echte Chance auf einen Durchbruch, für den es in dieser Region bislang kein Vorbild gibt. Tunesien könnte sich zu einer wahrhaften Demokratie entwickeln. Wenn es diesen Durchbruch gibt, dann trotz der Unterstützung des tunesischen Regimes durch den Westen. Ein solcher Wandel brauchte weder Palastverschwörungen noch militärisches Abenteurertum.
Was sich in Tunesien jetzt abspielt, könnte andere in der Region inspirieren und ihnen den Glauben daran (zurück-)geben, dass Veränderung möglich ist. Zugleich erinnert viele schon das eigentlich geringe Ausmaß an Ausschreitungen und Plünderung an das Chaos, das im Irak nach der Invasion von 2003 ausbrach. Die arabischen Regimes haben ihre Diktaturen seit jeher mit dem Hinweis zu rechtfertigen versucht, die Alternative bestehe entweder in Anarchie oder religiösem Fundamentalismus. Sie haben systematisch ein politisches Vakuum geschaffen und dafür gesorgt, dass die Gesellschaften von sozio-ökonomischen, ethnischen und konfessionellen Spannungen zerrissen werden.
Viele arabische Staatschefs haben zusammen mit einem Teil der Bevölkerung eine Lage geschaffen, in der ein Aufstand, wie wir ihn gerade in Tunesien erleben, gewaltige Kräfte der Zerstörung freisetzen kann. Darin besteht ihre Lebensversicherung – eine Sprengladung, die sie vorausschauend für einen Fall wie diesen deponiert haben. Sie haben bis heute überlebt, da sie auf jene Angst setzen konnten, die sie geschürt haben.
Warnung an die Eliten
Wenn einige Tunesier aus Wut über die Privilegien ihrer Elite Autohäuser in den besseren Bezirken von Tunis in Brand gesteckt haben, was würde dann in Kairo geschehen, einer der am dichtesten besiedelten Städte der Welt, wo über die Hälfte der Bevölkerung in Slums und wirtschaftlichem Elend lebt? Oder in Algerien, wo die Wunde des Bürgerkrieges der frühen neunziger Jahre noch nicht verheilt ist? Oder in gescheiterten Staaten wie dem Jemen? Der Gewaltausbruch im Irak ist im arabischen Gedächtnis noch zu frisch und ein wirkungsvolles Werkzeug in den Händen der Regimes, um Menschen den Glauben einzuimpfen, die einzige Alternative zur Diktatur bestehe im Pandämonium.
Die tunesische Revolution muss friedlich bleiben und einen wirklichen Einschnitt markieren, um anstecken zu können. Sie muss die richtige Balance finden, diejenigen zu betrafen, die Ben Ali gestützt haben, und gleichzeitig denjenigen vergeben, die aus verschiedenen Gründen in dessen System mitgemacht haben. Sie muss zeigen, dass Stabilität und Demokratie auf arabischem Boden nicht unvereinbar sind. Sie muss die Argumente untermauern, die von Leuten wie dem ägyptischen Oppositionspolitiker und Nobelpreisträger Mohammed El Baradei geäußert werden. Der meinte: „Die Ereignisse in Tunesien sollten der politischen Elite Ägyptens und den westlichen Staaten, die Diktaturen unterstützen, klarmachen, dass Unterdrückung nicht gleichbedeutend mit Stabilität ist. Es geht fehl, wer glaubt, die Existenz autoritärer Regimes sei das beste Mittel, um für Ruhe zu sorgen.“ Auch die Bürger des bevölkerungsreichsten arabischen Landes sehnten sich verzweifelt nach gesellschaftlichem Wandel. Ohne drastische Verbesserungen sei eine „Explosion nach tunesischem Vorbild“, so El Baradei, in Ägypten unvermeidlich. „Die Regierung muss der Bevölkerung die Botschaft vermitteln: 'Ja, wir verstehen euch', aber wenn sich nichts bewegt, müssen natürlich auch wir über andere Möglichkeiten nachdenken, die auch Demonstrationen und Generalstreiks beinhalten. Wenn man sich aber dem friedlichen Wandel verschließt, darf man sich nicht wundern, wenn es Szenen, die wir in Tunesien gesehen haben, überall in der Region gibt.“
Es bleibt abzuwarten, ob das tunesische Beispiel zu sozialen Aufständen in anderen Ländern der Region führt. Es dürfte aber in jedem Fall eine laute und klare Botschaft an die politisch großenteils teilnahmslosen arabischen Eliten aussenden: Wenn ihr nicht damit anfangt, auf friedlichen Wandel zu drängen, wird das, was in Tunesien passiert, auch in eurem Land geschehen. Das Ergebnis könnte aber weitaus hässlicher ausfallen.
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