Sicher wollte er ein Blutbad unter seinen Anhängern verhindern, höchstwahrscheinlich aber hat Mir Hossein Mussawi mit seiner unentschlossenen Haltung der Oppositionsbewegung den Todesstoß versetzt. Wie ein Demonstrant, der vor dem Angriff eines Schlagstock bewehrten Polizisten flieht, verbrachte Irans unentschlossener Radikaler und Präsidentenbewerber das vergangene Wochenende damit, sich wegzuducken. Er versuchte einen Spagat – einerseits wollte er den Aufstand verstetigen, gleichzeitig aber ein Blutbad verhindern.
Mussawis Dilemma liegt offen zutage. Ayatollah Ali Chamenei gab ihm zu verstehen, man wisse, wem es anzulasten sei, sollten die „illegalen Versammlungen“ weitergehen. Gleichzeitig blicken Millionen Iraner zu Mussawi auf und suchen in ihm ein
in ihm einen Anführer, der nicht nur gegen den Wahlbetrug, sondern das islamische Establishment selbst aufbegehrt.„Bereit für das Martyrium“Doch bei den jüngsten Demonstrationen war Mussawi kaum zu sehen. Es heißt, er habe bei einem öffentlichen Auftritt in Jehun, im Süden Teherans, vor einigen Sympathisanten erklärt, er sei „bereit für das Martyrium“. Falls er verhaftet werde, sollte es einen Aufruf zum Generalstreik geben.So harsch das auch immer klingt – die Kommunikation mit dem Regime will Mussawi nicht abreißen lassen und schreibt einen halb versöhnlerischen und halb trotzigen Offenen Brief an den Wächterrat, weil der gerade Wahlen und Auszählung überprüft. „Wir sind nicht gegen das islamische System und seine Gesetze, sondern gegen Lügen und Normabweichungen und wollen das System lediglich reformieren“, heißt es darin. Daher müssten friedliche Proteste erlaubt sein. Ja, sogar angeregt werden: „Die Islamische Revolution sollte so sein, wie sie war und wie sie sein sollte.“So verständlich Mussawis ambivalentes Verhalten sein mag, so hat es doch unvermeidlich Konsequenzen für die Bewegung, die er anführt. Durch sein Handeln – oder eben Nichthandeln – nach der Rede von Revolutionsführer Chamenei hat er möglicherweise das Leben Tausender idealistischer Iraner gerettet – nur tat er dies auf Kosten der Sache, der sich die Bewegung verschrieben hat.Wer seine Loyalität gegenüber der Islamischen Revolution von 1979 versichert, hält sich die Tür für ein wie auch immer geartetes Arrangement mit Chamenei und Ahmadinedschad offen. Das könnte viele Anhänger enttäuschen und daran erinnern: Auch dieser Präsidentschaftskandidat ist ein Produkt des islamischen postrevolutionären Establishments von 1979, ein ehemaliger Premierminister, ein einstiger Protegé von Ayatollah Chomeini. Das sind kaum die Referenzen eines Mannes, der neue Wege geht. Und überhaupt – werden nicht viele Iraner, die auf einen entschlossenen Führer hoffen, daran denken, dass auch Mussawi vom System ausgewählt, von moderaten Konservativen wie Ex-Präsident Ali Hashemi Rafsandschani unterstützt und vom Wächterrat für geeignet befunden wurde? Anders als der viel geschmähte Ex-Präsident Chatami gilt Mussawi bei den Mullahs als akzeptables Gesicht einer zerfahrenen Reformbewegung. Das islamische System lässt Außenseiter nicht zu. Wirkliche personelle Alternativen sind kaum gefragt, sondern lediglich Variationen eines 30-jährigen theokratischen Dogmas. Und natürlich ging man im Klerus davon aus, dass Mussawi am 12. Juni verlieren würde.Rafsandschanis CoupAuch andere Gegner der Achse Chamenei-Ahmadinedschad lassen die Demonstranten offenbar im Stich. Präsidentschaftskandidat Mehdi Karroubi sagte gerade erst kurzfristig seine Teilnahme an einer Kundgebung ab. Ali Laridschani, Parlamentspräsident und vehementer Kritiker der Regierung, machte kehrt und stimmte in die Angriffe des obersten religiösen Führers ein, der die ausländische Einmischung in die inneren Angelegenheiten des Iran geißelte.Noch aussagekräftiger ist vielleicht, dass Ali Rafsandschani, der Strippenzieher im Hintergrund, weiter schweigt, nachdem er Chameneis Predigt beim Freitagsgebet boykottiert hat. Da mehrere Mitglieder seiner Familie verhaftet wurden, habe er sich zu dieser Geste der Verweigerung entschlossen, wird in Teheran vermutet. Gewiss, das ist durchaus denkbar, aber vielleicht weiß Rafsandschani auch, dass sein von langer Hand geplanter und aus eigener Brieftasche bezahlter Coup gescheitert ist.Alles in allem drängt sich der Eindruck auf, dass der entscheidende Moment einer möglichen Wende im Iran am Wochenende gekommen war, den Demonstranten dann aber in einer Wolke aus Tränengas und Terror, Angst und Unentschlossenheit ihrer politischen Führer sofort wieder aus den Händen glitt. Vielleicht ist noch nicht alles verloren. Auf jeden Fall wird der zögerliche Radikale Mussawi als derjenige in Erinnerung bleiben, der es beinahe geschafft hätte.