Warten auf die letzte Fähre

Astrophysik Ein Teilchendetektor mit dem Energiebedarf eines Föns soll die hartnäckigsten Rätsel unseres Universums lösen

Wir befinden uns in einem fensterlosen, hermetisch abgedichteten Raum im Kellergeschoss des Cern. Dutzende von Forschern scharen sich um einen riesigen, trommelförmigen Apparat. Sie sehen lustig aus, jeder trägt die typischen Reinraum-Klamotten: Nylonmantel, Badelatschen und ein Haarnetz. Einige halten sich an ihren Klemmbrettern fest. Andere starren auf Computer, die über einen Kabelsalat mit der 10-Tonnen-schweren Maschine im Zentrum des Raums verbunden sind. Ingesamt haben mehr als 500 Wissenschaftler aus 56 Einrichtungen in Europa, China und Taiwan unter diesen Bedingungen hier gearbeitet um ihre kostenlose Expertise zum Bau des Alpha Magnetic Spectrometer (AMS) beizusteuern. Das AMS ist eines der komplexesten und umstrittensten Instrumente, die je zu astronomischen Forschungszwecken gebaut wurden.

Mittendrin im Getümmel steuert Nobelpreisträger Sam Ting unbeeindruckt und nahezu telepathisch das Geschehen. Der Physiker redet wenig und lächelt nie. „Viel Spaß!“ ist das einzige, was er zu mir sagt, als ich mich der Gruppe seiner Assistenten anschließe. Später erfahre ich: Für den 74-Jährigen war das schon eine ausgesprochen überschwängliche Begrüßung. Dass Ting so mundfaul ist, steht in krassem Gegensatz zu seinem Ehrgeiz. 15 Jahre lang hat er geschuftet um ein Instrument zu bauen, das aller Wahrscheinlichkeit nach mit der letzten Space Shuttle-Mission zur ISS geflogen wird. Dort soll es drei Jahre lang den Himmel beobachten, um sich den Schlüsselfragen des Universums zu nähern: Woher kommt die kosmische Strahlung? Könnte es auf der anderen Seite des Universums eine Galaxie aus Antimaterie geben? Und wie verhält es sich mit der wahren Beschaffenheit der dunklen Materie?

Unter Wissenschaftlern gilt das AMS als ein Meisterwerk der Weltraumtechnik. Es passt problemlos in die Raumfähre, und doch macht es sich dieselbe Technologie zunutze, die auch gigantische Teilchenbeschleuniger wie den Large Hadron Collider (LHC) antreiben. Dazu gehört zum Beispiel ein supraleitender Magnet, dessen Ströme auf Minus 270 Grad heruntergekühlt werden. „Im Prinzip ist das AMS ein Universal-Teilchendetektor, der ins Weltall verlagert wird“, erklärt Ting.

Dieses hohe wissenschaftliche Niveau ist umso bemerkenswerter, als dass das AMS das einzige Instrument auf der ISS sein wird, mit dem man ernstzunehmende Forschung betreiben kann. Die Raumstation ist wiederholt dafür kritisiert worden, dass ihre wissenschaftlichen Ambitionen nicht solide genug seien. Die Experimente beschränken sich auf ziemlich triviale Forschungsarbeiten an Stoffen und biologische Experimente in der Schwerelosigkeit. 2002 wurde die Station in einem Bericht der amerikanischen National Academy of Sciences als Geldverschwendung bezeichnet, die „niemals den Status eines Labors von Weltrang erreichen würde“.

Interstellare Besucher

Ausgenommen von dieser Kritik ist allein das AMS. Seine Reichweite und seine Bauart sind wegweisend. Es wird die Partikel kosmischer Strahlung untersuchen, die mit jenen Teilchen vergleichbar sind, die der LHC, der bislang größte Teilchenbeschleuniger, erzeugt. Dennoch benötigt das AMS nur 2,5 Kilowatt Energie – weniger als ein Handfön. Erzeugt wird die Energie durch Solarzellen.

„Offiziell kostet das AMS 300 Millionen Dollar“, erzählt Professor Martin Pohl von der Universität Genf, der Teamleiter des Projekts. „Rechnet man die Arbeitszeit der Wissenschaftler und die Kosten für den Raketenstart dazu, dann stehen auf dem Preisschild schon mehr als 1,5 Milliarden Dollar. Das AMS ist aber auch eine ganz besondere Maschine.“

Doch die Maschine ist nicht unumstritten. Der Weg zur Raumstation wurde ihm lange Zeit durch politische Ränkespiele verstellt. Die amerikanische Luft- und Raumfahrtbehörde NASA weigerte sich unter ihrem vorherigen Leiter Michael Griffin kategorisch, das Gerät ins All zu fliegen. Teilchenphysik sei dort fehl am Platz, wurde verfügt, und so hatte es viele Jahre lang den Anschein, als werde das AMS, trotz seines hohen Preises, in einem Abstellraum der Nasa verrotten.

Doch die Rätsel bleiben: 1912 entdeckte der österreichische Physiker Victor Hess auf seinen Ballonfahrten, dass Atome aus Stickstoff, Sauerstoff und anderen Gasen in um so größerer Zahl ionisiert wurden, je höher er aufstieg. Er stellte fest, dass eine Form von Strahlung auf die Erde niederströmte und Elektronen von Atomen dieser Gase in der oberen Atmosphäre abspaltete.

Später gab man den mysteriösen interstellaren Besuchern den Namen „kosmische Strahlung“. Heute wissen wir, dass es sich dabei nicht wirklich um Strahlen handelt. Es sind subatomare Teilchen – größtenteils Protonen und Alphateilchen – die mit ungeheurer Energie auf unseren Planeten herunterströmen. Teilweise reisen sie beinahe mit Lichtgeschwindigkeit. Die Quelle dieser Partikelströme bleibt ein Rätsel, obwohl die Wissenschaftler ihre Theorien haben. „Die leichteren Partikel der kosmischen Strahlung sind vermutlich Überbleibsel des Urknalls“, meint Professor Pohl. „Die schwereren wurden vermutlich durch Supernova-Explosionen ins All geblasen. Eine der wichtigsten Aufgaben des AMS wird es sein, dieses Rätsel zu lösen.“

Das Gerät ist eine große Röhre, die von einem kräftigen supraleitenden Magneten umhüllt ist. Das gewaltige Magnetfeld, das es erzeugt, wird die Bahn der Teilchen krümmen, wenn sie durch den Tunnel fliegen. Unterdessen werden Apparate, die denen im LHC ähnlich sind, die Ladung, Masse, Geschwindigkeit und Energie der Teilchen messen.

Anti-Mensch trifft Anti-Sessel

„Im Grunde werden wir es auf den äußeren Weltraum richten und abwarten, was so durchkommt“, erklärt Chris Tutt, der zu den Leitern des Projekts aus den USA zählt. Dies ist einer der Knackpunkte, denn die Wissenschaftler erwarten, dass nicht nur kosmische Strahlung durch das AMS fliegen wird. Sie haben eine ganze Wunschliste an anderen Dingen zusammengestellt, von denen sie sich erhoffen, dass sie in seinen Detektoren auftauchen werden, darunter auch die rätselhafteste aller Substanzen, die Antimaterie.

Manche Theorien gehen davon aus, dass durch den Urknall zu gleichen Teilen Materie und Antimaterie entstanden ist. In diesem Fall sollte es im Universum eine große Anzahl von Galaxien aus Antimaterie geben. Und in diesen wiederum sollte es Sterne aus Antimaterie mit zugehörigen Planeten aus Antimaterie geben. Wenn wir diese Idee eines spiegelbildlichen Universums auf die Spitze treiben, dann ist vorstellbar, dass es auf diesen Antimaterie-Planeten Antimaterie-Menschen gibt, die in Antihäusern leben und auf Antisesseln sitzen, die mit Antisesselschonern bezogen sind. Unglücklicherweise sind die Forscher trotz erheblicher Bemühungen bislang auf kein einziges Antimaterie-Atom gestoßen. Die Stippvisite einer frühen Version des AMS zur Raumstation hatte 1998 keinen Hinweis auf die Existenz von Antimaterie erbracht. Später schickten Russen und Italiener PAMELA (Payload for Antimatter Exploration and Light Nuclei Astrophysics) ins All – ebenfalls ohne Erfolg.

Die Experimente stützen sich nun auf die Annahme, dass kosmische Strahlung aus Antimaterie, die von einer Antimaterie-Quelle ins All ausströmt, ebenso nachgewiesen werden kann, wie es bei Sternen aus normaler Materie und kosmischer Strahlung aus normalen Teilchen der Fall ist. Die Flugbahn eines Anti-Teilchens, das in den AMS-Tunnel gerät, wird in die entgegengesetzte Richtung eines normalen Teilchens gekrümmt, weil es eine andere elektrische Ladung hat. So sollen die Detektoren des AMS ihre Existenz nachweisen.

„Das AMS wurde so konstruiert, dass es den Unterschied zwischen positiv und negativ geladener kosmischer Strahlung erkennt“, erklärt Pohl. „Sollten wir also viele Antimaterie-Teilchen einfangen, dann bedeutet das, dass wir uns ganz in der Nähe einer größeren Ansammlung von Antimaterie befinden. Es könnte sogar bedeuten, dass wir in der Nähe eines Antimaterie-Sterns sind. Stellen Sie sich das nur mal vor!“

Entdeckt es neue Teilchen?

Was die Realität betrifft, so ist Pohl sich allerdings ziemlich sicher, dass auf den Detektoren des AMS wohl eher keine Antimaterie eines nahen Sterns erscheinen wird. Im besten Fall wird er ein oder zwei schwere Antimaterie-Ionen einfangen, die uns von einer Antimaterie-Galaxie am anderen Ende des Universums entgegengeschleudert wurden. „Wir haben auf der Expedition 1998 herausgefunden, dass es in unserer Galaxie keine Anzeichen für die Existenz des Zeugs gibt – noch nicht mal in Reichweite der Cluster-Satelliten. Ich glaube nicht, dass wir auf Antimaterie stoßen werden.“

In gewisser Weise sei das aber sogar eine weit faszinierendere Aussicht: Die Antimaterie müsse irgendwann in den vergangenen 13 Milliarden Jahren verschwunden sein. „Aber wir haben keine Ahnung, wie das geschehen konnte. Insofern ist es weit faszinierender, keine Antimaterie zu finden, als doch. Daraus, dass wir etwas nicht beobachten können, werden wir mehr lernen können, als wenn es möglich wäre, es zu beobachten.“

Wenn man sich für den Aufbau des Universums interessiert, klingt das verführerisch. Die Frage nach der Existenz der Antimaterie ist dabei nicht der einzige Streitpunkt, zu dessen Lösung das AMS beitragen könnte. Er könnte auch dunkle Materie aufspüren. Astronomen sind davon überzeugt, dass bislang unentdeckte Teilchen existieren, die das Universum durchdringen und den Galaxien dadurch zusätzliche Masse bescheren. Einige dieser seltsamen kleinen Einheiten könnten von den Geräten des AMS erfasst werden und ein ganz neues Kapitel in der Geschichte der physikalischen Kosmologie aufschlagen.

Die Erwartungen an das AMS sind ohne Zweifel hoch, das macht den Kampf um seinen Flug zur Raumstation umso bemerkenswerter. Am Ende bot Ting der unnachgiebigen NASA die Stirn und umgarnte den US-Kongress mit der Unterstützung von Nobelpreisträgern wie Steven Weinberg. „Ting ist vielleicht kein Mann der vielen Worte, doch wenn er etwas möchte, dann kann er sehr überzeugend sein“, sagt Steve Myers, Direktor für die Teilchenbeschleuniger am Cern.

Weinberg seinerseits äußerte sich unmissverständlich. Sollte die ISS jemals einen bedeutsamen wissenschaftlichen Beitrag leisten, dann wären es die Ergebnisse des AMS. Das Gerät könne womöglich weltbewegende Entdeckungen machen. Vor einer Anhörung bekam Nasachef Griffin 2008 den Kopf gewaschen. „Es ist beinahe so, als würden wir uns ins eigene Fleisch schneiden“, erklärte ein bestürzter Bill Nelson, Senator der Demokraten aus Florida. Ein Jahr später wurde Griffin durch den aktuellen Nasa-Chef Charles Bolden ersetzt. „Fünf Tage später diskutierten wir wieder über den Termin für den Start mit der Raumfähre“, erzählt Pohl.

Schließlich verabschiedete der Kongress einen Beschluss um sicherzustellen, dass das AMS zur Raumstation fliegen kann, bevor die amerikanische Raumflotte Ende des Jahres eingemottet wird. Im Moment ist dieser Flug für Juli angesetzt, wenn die Endeavour zur ISS startet, doch Pohl hat bereits gewarnt, das AMS werde kaum vor Jahresende bereit sein, so dass das Gerät vermutlich erst mit dem allerletzten Flug ins All kann.

Wenn alles klappt, dann wird das AMS der Raumstation ein spektakuläres Finale bescheren. Es wird der erste komplexe Detektor sein, der außerhalb der Erdatmosphäre stationiert ist und es den Wissenschaftlern ermöglicht, energiereiche Teilchen in All zu untersuchen. Alles Mögliche könnte auf seinen Sensoren auftauchen. Oder, um es mit den Worten Sam Tings zu sagen: „Wir werden ganz neue Gebiete erforschen. Die Wahrscheinlichkeit, dass wir etwas entdecken, ist überdurchschnittlich hoch.“

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Übersetzung: Christine Käppeler
Geschrieben von

Robin McKie | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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