Warum Israel nach rechts rückt

Nahost In Israel wächst das Misstrauen gegenüber der Außenwelt. Dadurch gerät es in immer stärkere Isolation. Spiegelt sich hierin das Gefühl existenzieller Bedrohung?

Israel ist in den vergangenen Jahren in eine immer stärkere Isolation geraten – ein Prozess, der sich seit dem Amtsantritt Benjamin Netanjahus 2009 noch beschleunigt hat. Die internationale Gemeinschaft wird immer mit der gleichen Taktik hingehalten: Wann immer er nach der israelischen Siedlungspolitik gefragt wird, lenkt er die Aufmerksamkeit auf die nukleare Bedrohung durch den Iran. Die Welt befinde sich in einer mit dem Jahr 1938 vergleichbaren Situation, auf die sie so reagiere wie seinerzeit Neville Chamberlain, als dieser mit Zugeständnissen an Hitler den Frieden zu wahren versuchte. Die Welt nimmt Netanjahu diese Rhetorik nicht ab, seine Politik der Verzögerung des Friedensprozesses wird als zynische List wahrgenommen, um Israels „wahre“ Absicht zu verschleiern, die besetzten Gebiete für immer zu behalten.

Diese Erklärung berücksichtigt allerdings nicht, dass Nethanjahus Rhetorik einen paradoxen Gemütszustand der israelischen Wähler widerspiegelt. Umfragen zeigen, dass eine gleich bleibende Mehrheit von 70 Prozent der Israelis die Zwei-Staaten-Lösung befürwortet. Wie geht dies damit zusammen, dass die Wähler in den vergangenen zehn Jahren in Bezug auf ihre Wahlentscheidung immer weiter nach rechts gerückt sind? Warum genießt Netanjahu in Israel eine solch große Popularität? Und warum ist das Land heute unwilliger denn je, den Kritikern der israelischen Politik Gehör zu schenken?

Diese Entwicklung kann mit einer universellen Tendenz der menschlichen Psyche erklärt werden, die Existenzpsychologen in den vergangenen zwanzig Jahren entdeckt haben. Menschen neigen dazu, existenzielle Bedrohungen psychisch dadurch abzuwehren, dass sie sich hinter ihren jeweiligen Weltanschauungen verschanzen. Weltanschauungen beinhalten identitätskonstituierende Narrative der eigenen Rechtschaffenheit. Bei Bedrohung von außen verfestigen sie sich immer mehr und führen zu wachsendem Misstrauen, Hass und negativen Vorurteilen gegen äußere Gruppen. Kritik an der In-Group und ihren Weltanschauungen wird kategorisch zurückgewiesen.


Nach dieser Theorie ist der Rechtsruck der israelischen Gesellschaft auf ein Gefühl existentieller Bedrohung zurückzuführen. Für manche außenstehenden Beobachter mag dies absurd erscheinen, ist Israel doch die militärisch mit Abstand stärkste Macht in der Region, die mutmaßlich sogar Atomwaffen besitzt, während die Palästinenser nicht einmal über ein stehendes Herr verfügen. Trotzdem zeigen alle Umfragen, dass die Menschen große Angst um die Überlebensfähigkeit ihres Landes haben.

Diese Angst lässt sich zum Teil sehr konkret erklären: Tatsächlich sind in den vergangenen Jahren zwei reale Bedrohungen erwachsen: Die erste besteht in der Möglichkeit, dass der Iran in den Besitz von Atomwaffen gelangen könnte – für die meisten Israelis eine katastrophale Vorstellung. Die zweite ergibt sich daraus, dass Gruppen wie Hisbollah und Hamas von terroristischen Selbstmordanschlägen zu Raketenangriffen übergegangen sind. Zum ersten Mal seit 1973 sieht sich das Land Bedrohungen seiner Sicherheit ausgesetzt, auf die es keine eindeutige Antwort zu geben weiß. Infolgedessen fuhr man 2006 und zwischen den Jahren 2008/9 massive Angriffe auf Libanon bzw. Gaza-Streifen, weil man dachte, die von dort erfolgenden Raketenangriffe mit massiver Zerstörung bestrafen zu müssen. Diese Kriege führten Israel in eine internationale Isolation, wie sie das Land noch nie erlebt hatte.

Die israelischen Wähler reagierten auf diese Ereignisse gemäß der Vorhersagen der Existenzpsychologen: Während der Operation "Gegossenes Blei" akzeptierte die israelische Öffentlichkeit keine Kritik der massiven Zerstörungen in Gaza, bewegte sich bei den Wahlen 2009 stark nach rechts und verdammte die Linke zu politischer Bedeutungslosigkeit.

Dies machte im Ergebnis den Teufelskreis komplett. Die israelischen Wähler wenden sich Politikern zu, die ihre Ängste ansprechen, gleichzeitig aber auch bekräftigen. Die internationale Meinung wird immer negativer, was die israelische Isolation weiter vergrößert. Dies lässt wiederum die Ängste wachsen.

Risiko Friedensprozess

Der beste Weg, die Bedrohung durch Hamas und Hisbollah zu verringern und den Einfluss des Iran im Nahen Osten zurückzudrängen, bestünde für Israel darin, auf die Friedensinitiative der Arabischen Liga einzugehen. Gelänge Israel eine Normalisierung seiner Beziehungen zu allen arabischen und den meisten islamischen Staaten, insbesondere zu Syrien, würde dies Hamas und Hisbollah so weit isolieren, dass sie der Gewalt abschwören und Israel anerkennen müssten. Um diesen Weg einzuschlagen, wäre Israel gezwungen, ein gewisses Risiko in Bezug auf eine positive Dynamik des Friedensprozesses einzugehen. Aber genau dazu ist Israel seit dem Trauma der zweiten Intifada und der Bombardierung der südlichen Landesteile nicht in der Lage. Die Israelis ziehen gegenwärtig die internationale Isolation, so schmerzhaft sie auch sein mag, dem Vertrauen in die arabischen Friedenspartner um ihrer eigenen Sicherheit willen vor.

Gibt es Möglichkeiten, Israel dieses wachsende Misstrauen gegenüber der Außenwelt zu nehmen? Die Experimentelle Existenzpsychologie schlägt zwei Möglichkeiten vor: Eine besteht, recht nahe liegend, darin, die tatsächliche oder empfundene tödliche Bedrohung abzubauen, die zweite in der Verringerung des Gefühls der Isolation. Beide Punkte wurden zuletzt von der Obama-Regierung angegangen. Zum einen will sie die sicherheitspolitische Zusammenarbeit mit Israel ausbauen und die Militärhilfen erhöhen, insbesondere um die Fertigstellung des Iron-Dome-Raketenabwehr-Systems zum Schutz vor den Kurzstreckenraketen von Hamas und Hisbollah zu gewährleisten.

Obama hat seinen Kurs auch insofern geändert, als dass er Benjamin Netanjahu bei dessen Besuch in Washington einen herzlichen Empfang bereitete, nachdem er ihm über ein Jahr lang die kalte Schulter gezeigt hatte. Die meisten Kommentatoren sehen hierin aber keinen Wechsel seiner grundsätzlichen Politik: Obama ist nach wie vor fest entschlossen, die Vision einer Zwei-Staaten-Lösung zu realisieren, scheint aber zu dem Schluss gekommen zu sein, dass es hierfür effektiver ist, Israel die Hand zu reichen, als es zu isolieren.

Die große Frage ist indessen, ob dies Netanjahus Sicherheitskonzept, wonach Israel die Kontrolle über bestimmte Gebiete in der West Bank behalten muss, um künftige Angriffe aus dem Osten wirksam beantworten zu können, in irgendeiner Weise beeinflussen kann. Da dies den territorialen Zusammenhang des künftigen palästinensischen Staates zerstören würde, ist es für die Palästinenser und die internationale Gemeinschaft nicht akzeptabel.

Niemand weiß, welche langfristige Strategie Netanjahu genau verfolgt und manchmal zweifle ich daran, dass er selbst es weiß. Aber es gibt einen guten Indikator dafür, wie er zu einer Kursänderung steht: Die Spannungen zwischen ihm und seinem rechtsextremen Außenminister Avigdor Lieberman haben in letzter Zeit zugenommen. Sollte Netanjahu eines Tages den Koalitionspartner wechseln und Liebermans auf Konfrontation ausgerichtete Yisrael Beiteinu Partei gegen die gemäßigte Kadima Zipi Livnis austauschen, wäre dies ein starkes Indiz dafür, dass er sich auf einen echten Fortschritt mit den Palästinensern zubewegt.

Carlo Strenger ist Philosoph, Psychologe und Existenz-Psychoanalytiker und lehrt am psychologischen Institut der Universität of Tel Aviv. Er arbeitet unter anderem zu Fragen der Gruppenidentität und dem Nahostkonflikt. Im Journal of Applied Psychoanalytic Studies veröffentlichte er 2009 den Aufsatz "The Psychodynamics of Self-Righteousness and its Impact in the Middle East".

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Übersetzung: Holger Hutt
Geschrieben von

Carlo Strenger | The Guardian

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