Wenn der britische Premierminister in zwei Wochen zum Gipfel nach Brüssel fliegt, will er bei der Debatte über das EU-Budget der kommenden sieben Jahre hart bleiben. Einfrieren statt aufstocken, heißt die Devise. Zuhause hat ihn gerade eine Mehrheit aus konservativen Rebellen und der Labour-Opposition überstimmt und sogar für eine Kürzung plädiert. Sie argumentieren, der EU-Haushalt bestehe aus aufgeblähten Einzelposten, die nationale oder branchenspezifische Sonderinteressen bedienen und nie ernsthaft überprüft werden. Verglichen damit wirkt das britische Verteidigungsministerium wie ein Hort des Sparwillens und der Effizienz.
David Cameron ist gefangen zwischen der Aussichtslosigkeit seines Vorschlages – ein Budgetplus sei als Inflationsausgleich hinnehmbar –, und den EU-skeptischen Fantasien seiner Gegner. Was die Debatte zusätzlich anheizt: Dänemark, Schweden und Österreich wollen es den Briten gleichtun und fordern ebenfalls Sonderkonditionen. Der EU-Gipfel am 22. und 23. November dürfte chaotisch werden. Anders als in den USA, in denen die Politik blockiert ist, wenn der Kongress einen Haushalt blockiert, kann die EU weiter so viel ausgeben, wie sie möchte, bis es irgendwann zu einer „Einigung“ kommt.
Historiker werden sich einmal mit der Frage zu befassen haben, wann eigentlich das EU-Integrationswerk unwiderruflich implodiert ist und nur das Kern-Paradox übrig blieb: das Unvermögen, einer supranationalen Union die Verantwortung für untergeordnete nationale Entitäten zu übertragen. In Großbritannien gilt dieses Dilemma seit langem als unlösbar. Doch statt sich deshalb von Europa abzuwenden, wird eine Politik verfolgt, in der sich dieses Paradox spiegelt. Das hat zu großen Spannungen geführt und letzten Endes Regierungschefs wie Margaret Thatcher und John Major den Job gekostet. Politiker aller Parteien sind mal in diese, mal in jene Richtung abgebogen. So hat die euroskeptische Thatcher 1973 ein Pro-Europa-T-Shirt übergestreift und erklärt: „Frankreich und Deutschland legen ihre politischen Differenzen beiseite und arbeiten für ein vereintes Europa. Wenn Frankreich das kann, können wir das auch.“ Während der eigentlich europhile Tony Blair zehn Jahre später verkündete: „Nur damit es zu keinen weiteren Missverständnissen kommt – ich bin für ein Ausscheiden aus der europäischen Wirtschaftsunion.“
Eine fragile Balance
Ende des vergangenen Jahrzehnts schien das Paradox beinahe aufgelöst. Ein mit Schulden finanzierter Wohlstand hielt die Volkswirtschaften Europas in einer fragilen Balance. Die Skepsis gegenüber dem Lissabon-Vertrag (2007) – sie war nicht nur in Großbritannien, sondern besonders in Frankreich, Irland und Dänemark zu spüren – hatte zunächst eine stärkere Integration der EU verhindert und Übertreibungen in Frage gestellt. Brüssel sollte nicht länger Gurken messen und sich als Glühbirnen-Technokratie empfehlen. Dann kam die Finanzkrise, trieb die Zinsbelastung exorbitant in die Höhe und führte zu einer lähmenden Abhängigkeit der armen Euro-Staaten von den reichen. Es entstand ein elitärer Kreis von EU-Mitgliedern, die eine stärkere Integration wollen, von einem auf Austerität bedachten Deutschland geführt werden und nach einer paneuropäischen Kommandowirtschaft streben. EU-Kommissare sollen die nationalen Haushalte überwachen. Ein autoritäres Projekt von solchen Ausmaßen hat es in Westeuropa seit 1945 nicht mehr gegeben. Es steht zur Debatte, weil deutsche Banker und Export-Unternehmen extrem viel verlieren würden, sollte die Währungsgemeinschaft das tun, wozu ihr alle Ökonomen raten, nämlich den schwächeren Volkswirtschaften erlauben, den Euro aufzugeben und wieder eine nationale Währung zu haben, um diese abwerten zu können.
Es gibt kaum ein besseres Vehikel als das geltende Austeritäts-Dogma, um Europa gegen eine Politische Union aufzubringen. Das ist in den Straßen von Madrid, Athen und Lissabon bereits zu spüren. Eine solche Union mag der einzige Ausweg aus der Schuldenkrise sein, aber sie wird in einem Augenblick erwogen, in dem sie weniger vorstellbar erscheint als je zuvor.
Doch ein Referendum
Die Abstimmung im Unterhaus war reines Theater. Für Cameron ist sie nicht bindend. Doch sie entfaltet eine psychotische Wirkung. Sie verbietet Britanniens Premier jede Konzession beim Zwei-Milliarden Pfund-Rabatt der Briten in Sachen EU-Haushalt und zwingt ihn bei EU-Rettungspaketen und Bankenregulierungen zu noch größerer Kompromisslosigkeit. Obwohl er kein Referendum über die EU abgehalten hat, muss sich Cameron nun so verhalten, als hätten die Briten abgestimmt und die EU-Gegner gewonnen.
In Europa ziehen Zustände herauf, die an die Situation vor dem Ersten Weltkrieg erinnern: Wechselnde Allianzen und Koalitionen, unterschwellige Ängste und unruhige Peripherien mit einem Pulverfass aus nationalen Konflikten. Abermals sind alle Augen auf ein nach Vorherrschaft strebendes Deutschland gerichtet, das mit seiner Realpolitik ein Drittel des Kontinents in die Verarmung treibt – Handel ist manchmal Krieg mit anderen Mitteln.
David Cameron wird der Regierung Merkel den EU-Oberaufseher für die nationalen Haushalte nicht zugestehen. Aber wie lange kann er das Affentheater noch aufrechterhalten, sich als „Pro-Europäer“ auszugeben und so zu tun, als gelte seine Europa-Skepsis allein der Richtung, in die sich die EU derzeit bewegt? Was heißt es in diesem Zusammenhang, wenn Labour-Parlamentarier in der Debatte um das EU-Budget Cameron vorwerfen, er verpasse die einmalige Gelegenheit, für einen Haushalt zu sorgen, der das Beste für Großbritannien sei? Offensichtlich gibt es bei der Labour-Party einen radikalen Paradigmenwechsel hin zu einem parteiübergreifenden Euro-Skeptizismus.
Für Cameron dürfte unter diesen Umständen die Versuchung groß sein, doch noch ein EU-Referendum anzuberaumen, bevor der Druck auf seine Regierung und ihn persönlich unerträglich wird. Eher früher als später muss er einen neuen Deal mit der EU aushandeln, den die britische Öffentlichkeit ausdrücklich billigt. Es wird höchste Zeit, damit anfangen.
Simon Jenkins ist freier Autor des Guardian und BBC-Kommentator
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