Warum wir die Sozialen Medien retten müssen

Wiederbelebung Wie soll man mit dem Tsunami an Fake-News bei Facebook umgehen? Ein Plädoyer für die Rückkehr zu Alternativen
Ein bisschen Kampfgeist ist angesagt
Ein bisschen Kampfgeist ist angesagt

Foto: Sajjad Hussain/AFP/Getty Images

Man muss keine Rockband und kein DJ sein, um irgendwann in seinem digitalen Leben auf das Soundcloud-Logo mit der kleinen orangefarbenen Wolke gestoßen zu sein. Der in Berlin ansässige Online-Musikdienst ist eine ziemlich coole Plattform für Leute, die Musik machen und diese teilen wollen. Vor kurzem räumten die Eigentümer des Unternehmens ein, dass sie pro Woche eine Million Dollar Verlust machen und ihnen bis zum Ende des Jahres das Geld ausgehen könnte.

Soundcloud steckt in Schwierigkeiten, obwohl es Verträge mit großen Plattenfirmen abgeschlossen hat, die großen Labels alle umfangreiche Anteile an dem Unternehmen erworben haben und es weltweit 175 Millionen Nutzer gewinnen konnte. Die gesamte Zukunft der kleinen orangenen Wolke hängt nun davon ab, ob es Soundcloud gelingt, genügend Abonnenten für seinen Streamingdienst Soundcloud Go zu gewinnen.

Zur gleichen Zeit wie Soundcloud ist mit der Blogging-Plattform Medium ein weiteres unheimlich cooles Online-Projekt in Schwierigkeiten geraten, musste 50 Leute entlassen, die Büros in Washington und New York schließen und einräumen, dass sein ursprünglicher Plan – mit Werbung Geld zu verdienen – nicht funktioniert. Schlimmer noch: Der Chef des Unternehmers, Twitter-Mitgründer Ev Williams, musste zugeben, er habe keine Idee, welches Modell das Unternehmen als nächstes verfolgen wird. Als Medium 2012 an den Start ging, warnte Williams in einem heute prophetischen Post davor, dass die Kommerzialisierung des Contents im Internet zu immer mehr Fehlinformationen führen werde.

Vier Jahre später ist seine Suche nach einem kommerziellen Modell, das Tiefe, Originalität und Wahrhaftigkeit belohnt, gescheitert. Werbefinanzierte Geschäftsmodelle fördern das Falsche, das Krasse und Dumme. Und weil alle Geschäftsmodelle in der digitalen Welt die Bildung von Monopolen anstatt die Vielfalt anstreben, ist diese Tendenz heute weitaus schlimmer als in der Ära der gedruckten Schundliteratur oder musikalischer Seichtigkeiten auf Vinyl.

Sowohl Soundcloud als auch Medium werden von talentierten Leuten geleitet, denen jede Menge Venture-Kapital zur Verfügung gestellt wurde. Beide haben es mit demselben Problem zu tun, das Williams mit schonungsloser Offenheit benannte. Die Kapazitäten, die das Internet bietet, um Inhalte zu teilen, werden von den Profitmodellen der Großunternehmen erdrückt. Die Sozialen Medien gehen an der Flut aus Schrott, Fake-News, Promi-Gerüchten und Plastikmusik zugrunde – zumindest verlieren sie durch sie den Spirit und die Atmosphäre, in der die Sozialen Medien sechs oder sieben Jahre aufgeblüht sind.

Wenn man verstehen will, was Autorinnen und Autoren auf öffentliche Plattformen lockt, sollte man sich ansehen, was ein Sender wie der britische Channel 4 zuwege gebracht hat. Der Sender hat Text und statische Bilder im Internet durch reine Videobeiträgen ersetzt und seine Beiträge dann bei Facebook eingestellt. In nur 18 Monaten hat sich sein Publikum dort von fünf auf 200 Millionen pro Monat erhöht. Musste der Sender die Inhalte verändern, um das zu ermöglichen? Und ob! Ein Viertel aller Videos werden „quadratisch“ gepostet, damit Smartphone-Nutzer ihre Geräte nicht immer drehen müssen; dann hat Channel 4 angefangen, die Beiträge mit Untertiteln auszustatten, damit die Nutzer den Ton nicht einschalten müssen.

Aber diese Mühe hat sich offenbar gelohnt: Zwei Drittel derjenigen, die sich diese Videos ansehen, sind jünger als 35 Jahre – genau das Publikum, welches das Fernsehen nicht erreicht. Und die Geschichten mit den höchsten Klickzahlen waren aus Aleppo. Aber jeder, der Content produziert, der in erster Linie für Facebook oder YouTube gemacht ist, wird wissen, was das Wort „didaktisch“ bedeutet. Egal, ob es sich um einen journalistischen Bericht oder um einen Spielfilm handelt: Es herrscht ein gewaltiger Druck, alles so zu erklären, als hätte man es nur mit Idioten zu tun, alle Informationen in die ersten 15 Sekunden zu packen und Beiträge so kurz wie möglich zu halten.

Überall, wo Autoren sich dem Ansturm auf die großen Online-Plattformen angeschlossen haben, existiert der gleiche Druck. Aber mit der Ausnahme von Facebook sind die meisten der monopolistischen Plattformen nicht profitabel. YouTube holt gerade einmal das rein, was Google für die Plattform ausgibt, Spotify machte seinen letzten Berichten zufolge bei zwei Milliarden Verkäufen 164 Millionen Dollar Verlust und Twitter ist so weit davon entfernt, Gewinne zu erzielen, dass Facebook oder Google es möglicherweise bald ebenfalls schlucken.

Die Geschichte des Kapitalismus macht deutlich, was als nächstes geschehen müsste. Die Monopole müssten zerschlagen werden. Wäre Facebook eine Bank, wäre das Unternehmen nicht lebensfähig; das Gleiche gilt für Google, wäre es ein Supermarkt. Doch die Struktur des hedgefondgetriebenen modernen Kapitalismus (der zur Monopolbildung strebt) und die Abhängigkeit der Politik machen dies unwahrscheinlich. Venture-Kapital fließt deshalb in Startups wie Medium oder Soundcloud, weil die Geldgeber davon ausgehen, sie würden das nächste Newscorp, das nächste Spotify – oder von einem großen Rivalen geschluckt.

Die Regierung der USA oder die Europäische Kommission können – theoretisch – die Zerschlagung der Tech-Monopole anordnen und verfügen, dass es künftig, sagen wir mal, vier Facebooks geben soll, die Informationen miteinander austauschen und ihren Nutzer ermöglichen müssen, deren Konto nahtlos vom einen zum anderen zu verlegen, wie das bei Banken möglich ist. Aber davon kann natürlich keine Rede sein. Regierungen auf der ganzen Welt sind in der Praxis völlig in der vor-rooseveltschen Ideologie von PayPal-Gründer Peter Thiel befangen: Wettbewerb ist etwas für Verlierer, Monopole für Gewinner.

Also liegt es an uns, eine Lösung zu finden – insbesondere an denjenigen von uns, die davon überzeugt sind, dass der Sinn von Inhalten in erster Linie darin besteht, zu kommunizieren. Und erst in zweiter Linie darin, Geld zu verdienen. Wir müssen von der ursprünglichen Idee der Sozialen Medien retten, so viel wir können.

Wenn man die darbenden Internet-Plattformen besucht – nicht nur Soundcloud und Medium, sondern auch Ello, das Facebook gerne Konkurrenz machen würde, und Tumblr – wo man noch immer einen flüchtigen Eindruck von der Schönheit erheischen kann, die aus Zusammenarbeit entsteht. Ello ist nach einem vielversprechenden Start zu einer funktionalen Online-Community für Künstler, Architekten und Fotografen geworden. Tumblr bleibt, selbst nachdem es von Yahoo aufgekauft und von Pornos überflutet wurde, einer der bestdesignten Räume für montagegestützte Kommunikation. Wenn man sich nach Erholung von dem Antisemitismus und der Frauenfeindlichkeit auf Twitter oder dem Dauerfeuer an Unternehmenspropaganda auf Facebook sehnt, lohnt es sich, wieder einmal bei einer dieser ums Überleben kämpfenden Plattformen vorbeizusehen, seine alten Zugangsdaten zu reaktivieren und im Chaos zu schwelgen.

Es wird sich anfühlen wie eine Zeitreise in die Vergangenheit zwischen 2010 und 2012, als man Soziale Medien noch mit Postmodernität, selbstproduzierter Musik und Revolte assoziierte, anstatt mit Fake-News, Rassismus und der Herrschaft alter Männer. Sie nur einmal wieder aufzusuchen und ihre Dienste zu nutzen, wird diese kollaborativen Tools allerdings nicht retten können. Wir brauchen neue, kooperative Eigentumsmodelle. Wenn Textverarbeitungsprogramme heute quasi kostenlos mit jedem Gerät mitgeliefert werden, könnte man dasselbe doch mit einem nicht gewinnorientierten Musik-Sharingdienst, einer freien Blogging-Plattform und einem Ort, an dem man Kontakt zu seinen Freunden hält, machen, ohne dass dabei sämtliche Daten gespeichert werden und man in Werbung ertrinkt.

Medium, Soundcloud und letztlich auch Twitter sind – wie die Eisenbahn – erhaltenswert, selbst wenn sie nicht mit Gewinn betrieben werden können. 2017 kann und sollte das Jahr sein, in dem die Nutzer von Plattformen diese Freiheiten zurückfordern – nicht als Privilegien, sondern als Rechte.

Paul Mason ist Autor und Fernsehmoderator und arbeitet zu den Theman Wirtschaft und soziale Gerechtigkeit

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Paul Mason | The Guardian

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