Ein chinesisches Sprichwort, das auf den Philosophen und Kriegsstrategen Sun Tzu aus dem sechsten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung zurückgeht, lautet: Wer hundert Schlachten gewinnen will, muss seinen Gegner und sich selbst verstehen.
Vor kurzem diskutierte in Washington eine Gruppe von Außenpolitikexperten Chinas Aufstieg und die damit verbundenen Herausforderungen. Im Mittelpunkt stand der Versuch, die Gedanken von Präsident Xi Jinping zu lesen. Er gilt als mächtigstes Staatsoberhaupt Chinas seit dem Reformer Deng Xiaoping.
Chinas Aufstieg in den vergangenen Jahren hat in der Region zu Spannungen geführt, vor allem zu Territorialkonflikten im Chinesischen Meer, aber er betrifft auch den Westen: 2014 initiierte Peking die Gründung der Asiatischen Infrastrukturinvestmentbank (AIIB), einer neuen Entwicklungsbank für Asien in Konkurrenz zu IWF, Weltbank und der von Japan dominierten Asiatischen Entwicklungsbank. Im März dieses Jahres ist es China gelungen, gegen den Willen der USA mehrere europäische Länder für eine Beteiligung zu gewinnen, darunter Deutschland, Großbritannien und Frankreich. Ende März erklärte die konservative Regierung des engen US-Verbündeten Australien ihren Beitritt. Die neue Bank mit Sitz in Peking soll mit Investitionen in die Infrastruktur des Kontinents Armut bekämpfen und Entwicklung fördern. Beobachter halten sie für einen Meilenstein bei der Verschiebung der Machtverhältnisse in der Weltwirtschaft, zuungunsten der USA. Die Regierung Obama reagierte entsprechend verärgert auf die Allianz ihrer engsten Verbündeten mit China.
Was also geht vor im Kopf von Präsident Xi? Kevin Rudd, der frühere sozialdemokratische Premierminister Australiens, fasste in Washington die Prioritäten des chinesischen Staatschefs so zusammen: Erstens lege Xi größten Wert darauf, die Autorität der kommunistischen Partei aufrechtzuerhalten, die durch die endemische Korruption und rückläufige Wachstumsprognosen infrage gestellt wird. Die Kehrseite dieses Wachstums besteht in der gewaltigen Umweltverschmutzung, deren Ausmaße irgendwann zu öffentlichen Protesten führen könnten.
Zweitens wolle Xi die chinesische Wirtschaft neu ausrichten, weg vom alten exportgeleiteten Modell, hin zu einem von Binnenkonsum getriebenen. Das ist ein gewaltiges Unterfangen, insbesondere, wenn die Wachstumsraten zurückgehen.
Drittens ziele China darauf ab, seinen globalen Einfluss zu erhöhen. Deshalb arbeite Peking gerade am Abbau der Spannungen im asiatischen Raum, wovon ein Treffen der Außenminister Chinas, Japans und Südkoreas Mitte März in Seoul zeugt. Seinen Anspruch auf die Senkaku-Inseln wird China zwar aufrechterhalten, allerdings ohne eine ernsthafte Krise in den Beziehungen zu Japan zu riskieren. Nicht auszuschließen ist auch, dass es in einem langanhaltenden Grenzdisput zwischen China und Indien bald zu einem Durchbruch kommt.
China ist, was sein internationales Engagement anbelangt, in eine neue Phase eingetreten. Als wichtigster Handelspartner für 123 Länder hat es die USA (64) als führende Wirtschaftsmacht überholt. In Peking ist man auf der Suche nach Investitionsmöglichkeiten jenseits von US-Staatsanleihen und will den mächtigen US-Dollar herausfordern. Schon heute entfallen auf die chinesische Währung Renminbi 15 Prozent der globalen Handelstransaktionen.
Chinas Ziel besteht dem früheren US-Diplomaten und Asien-Experten Stapleton Roy zufolge darin, bis 2049, 100 Jahre nach Gründung der Volksrepublik, ein Pro-Kopf-einkommen zu erreichen, das dem europäischen Durchschnitt vergleichbar ist.
Dass die Asiatische Infrastrukturinvestment vor allem bei Europäern auf so große Resonanz stieß, ist ein deutliches Zeichen für die Macht der gewaltigen chinesischen Währungsreserven. Dennoch glaubt Chinas Führung nicht, die USA befänden sich auf dem absteigenden Ast. Im Gegenteil, Chinas demografische Entwicklung ist viel ungünstiger, und es verfügt bei weitem nicht über die militärische Stärke und Innovationsfähigkeit der USA. Xi glaubt, dass sich die Macht der USA im 21. Jahrhundert fortsetzen wird. Also muss man durch diplomatische Kreativität zu einem Dialog finden. Die gemeinsame Erklärung der USA und Chinas zum Klimawandel passt in dieses Bild.
Trotzdem: China blickt auf 2.500 Jahre strategischen Denkens zurück, das von tiefem Misstrauen ausländischen Mächten und Akteuren gegenüber geprägt ist. Das betrifft nicht nur die USA. Präsident Wladimir Putin sollte nicht glauben, Russland werde in Xis China einen bereitwilligen Partner finden, wenn der Kreml sich weiter von Europa abwendet. China betrachtet Russland als eine absteigende Macht, die man letztlich in einen ökonomischen Vasallenstaat verwandeln kann, der auf die Rolle als Öl- und Gaslieferant reduziert bleibt. Sollte sich der Konfrontationskurs zwischen Europa und Russland fortsetzen, dürfte China sich hiervon strategische Vorteile versprechen.
Xis Gedanken zu lesen ist zu einem wichtigen Bestandteil in den internationalen Beziehungen und Machtspielen von heute geworden. Sun Tzus Sprichwort von der Notwendigkeit, seinen Gegner und sich selbst zu verstehen, hat nichts von seiner Aktualität verloren. Es gilt nicht nur für den Blick des Westens auf China, sondern betrifft auch nichtwestliche Perspektiven auf die Welt, besonders die des globalen Südens. Kein leichtes Unterfangen, wenn sich die einzelnen Staaten immer mehr mit sich selbst beschäftigen. Die Europäer hindern eigene Probleme und Selbstzweifel am Verständnis der anderen und an der Akzeptanz globaler Realitäten.
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