Wenn die Bösen verschwinden

Nordirland Als Leiterin einer Abtreibungsklinik in Belfast hat Dawn Purvis jahrelang den Hass radikalisierter Gegner ausgehalten. Jetzt hört sie auf
Ausgabe 19/2015

Der Tiefpunkt war für sie am 9. Januar 2014 erreicht. Spätabends verließ Dawn Purvis ihr Büro gegenüber der Belfaster Oper. Dass ihr draußen Abtreibungsgegner auflauerten, war nichts Neues. Die 48-jährige Nordirland-Direktorin des Marie-Stopes-Programms zur Geburtenkontrolle ist eine Hassfigur für alle selbsternannten Lebensschützer in Belfast und Umgebung. Seit der Eröffnung der Klinik im Herbst 2012 demonstrierten sie jeden Tag vor dem Gebäude. Doch Anfang 2014 wurden sie immer übergriffiger. Frauen erschienen tränenüberströmt zu ihren Terminen und wurden, wenn sie danach das Gebäude wieder verließen, angeschrien und durch die Straßen verfolgt – „öffentlich bloßgestellt“, sagt Purvis.

An diesem Januartag war der Protest besonders lautstark. Gegen den Sprechchor der Abtreibungsgegner an rief Purvis, man solle aufhören, sie zu belästigen. Bernadette Smyth, Leiterin der Antiabtreibungsgruppe Precious Life, erwiderte: „Das Belästigen hat noch gar nicht angefangen, Liebling.“ Am nächsten Tag ging Purvis deshalb zur Polizei.

Angst ums eigene Leben

„Ich hatte Angst um mein Leben“, erzählt Purvis. „Schon lange fühlte ich mich nicht mehr sicher, aber dies war eine unverhüllte Bedrohung. Ich fragte mich: Was kommt als Nächstes?“ Nun ist Purvis von ihrem Posten zurückgetreten. Sie betont, der Grund dafür seien nicht die Proteste und persönlichen Angriffe. Der Abschied breche ihr das Herz, doch es sei für sie einfach an der Zeit, weiterzuziehen. Der Organisation Marie Stopes wird sie als Mitglied des Beirats erhalten bleiben.

Wenn Purvis von dem Hass berichtet, der ihr entgegenschlug, fragt man sich aber sofort, wie lang ein Mensch so einer Belastung standhalten kann. Dass Unbekannte sie auf der Straße ansprachen, war sie aus ihrer Zeit in der Politik gewohnt. Auch vor Telefonanrufen oder davor, dass Leute ihre Privatadresse wussten, fürchtete sie sich nicht. „Nordirland ist sehr klein“, sagt sie. Sie konnte damit leben, mit Sprüchen wie„Hoffentlich können Sie nachts schlafen“, „Macht es Ihnen Spaß, Babys zu ermorden?“ oder „Gott vergebe Ihnen“.

Dennoch, räumt sie ein, gab es schon im ersten Jahr nach Klinikgründung einen herben Dämpfer. Die Polizei sah sich außerstande, Übergriffe zu ahnden, solange keine Frau namentlich Anzeige erstattete. Den Patientinnen, die hierher kamen, war aber ja gerade die Anonymität und Vertraulichkeit wichtig. So wurden die Gegner immer hemmungsloser und Purvis lernte, „den Hass in ihren Gesichtern zu fürchten“.

Sie konnte nicht mehr schlafen. Sie ging auf Umwegen zur Arbeit, damit man ihr nicht auflauern konnte. Abends ließ sie sich von Freunden abholen und fuhr immer häufiger mit dem Taxi, anstatt zu Fuß zu gehen. „Denn selbst wenn diese Leute, die vor der Klinik stehen, nicht selbst auf mich losgehen würden – vielleicht würden andere sich von ihnen anstiften lassen.“

Sie wusste, dass Bernadette Smyth von Precious Life mit radikalen Abtreibungsgegnern in den USA in Kontakt stand, auch mit jenen Kreisen, aus denen 2009 der Mörder eines Abtreibungsarztes in Kansas kam. Und die Jahre der Gewalt in Nordirland hatte Purvis selbst erlebt: „Ignoranz bringt Hass hervor, Hass kann tödlich sein. So sah die Gesellschaft aus, in der ich aufwuchs – und dieses Potenzial ist noch da.“

Dass Smyth nach der Anzeige von Purvis wegen Belästigung zu 100 Stunden gemeinnütziger Arbeit verurteilt wurde und ein Aufenthaltsverbot für die nähere Umgebung der Klinik erhielt, war eine große Erleichterung. Smyth behauptete vor Gericht, sie habe ihre Drohungen nur im Scherz ausgestoßen. Und legte Berufung ein. Das zweite Verfahren steht noch aus.

Die Klinik hat ihre Räume in der achten Etage eines Geschäftsgebäudes, sie sind funktional eingerichtet. Hinter der engen Empfangstheke öffnet sich ein Flur, von dem zwei Behandlungsräume, das Büro der Leiterin, ein weiterer Raum für Privatbehandlungen (mit reduzierten Gebühren für jene, die sich den Standardsatz von 350 Pfund nicht leisten können) sowie Küche und Toiletten abzweigen. Einen Operationssaal gibt es nicht: Die Klinik bietet nur Frühabtreibungen bis zur neunten Schwangerschaftswoche an, die mit Tabletten vorgenommen werden.

Purvis spricht ruhig und beherrscht. Mit ihrer professionell-freundlichen Art, auf Fragen zu antworten, wirkt sie wie eine Politikerin, die sie früher war, nicht wie eine Klinikleiterin. Wie groß der Druck ist, unter dem sie steht, merkt man erst, wenn man sehr genau hinhört – oder mit ihren Freundinnen spricht. Die Anfeindungen hätten bei Purvis deutliche Spuren hinterlassen, sagt ihre Freundin Breedagh Hughes, Nordirland-Vorsitzende des britischen Hebammenverbands: „Besonders hat sie unter den Angriffen gegen ihre Patientinnen gelitten. Nicht nur weil sie sich machtlos fühlte – es empörte sie auch als überzeugte Unionistin. Wie kann es sein, dass den Frauen in Nordirland nicht dieselben Dienste zur Verfügung stehen wie Frauen in England, Schottland und Wales?“

Anders als oft behauptet wird, ist Abtreibung in Nordirland nicht grundsätzlich illegal. Erlaubt sind Schwangerschaftsabbrüche, wenn sie allein dem Zweck dienen, das Leben der Mutter zu bewahren. Eine richterliche Prüfung dieses Gesetzes kam 2003 aber zu dem Ergebnis, dass sich die Formulierung nicht allein auf lebensbedrohliche medizinische Notfälle beziehe, sondern ebenso auf dauerhafte Risiken für das seelische Wohlbefinden der Frau.

Aufs Schiff nach Liverpool

Die Zahl der in Nordirland vorgenommenen Abtreibungen ist aber sehr gering. Vor der Eröffnung der Klinik in Belfast waren es nur etwa 50 pro Jahr, während jährlich jeweils etwa 1.000 Frauen aus Nordirland Abtreibungskliniken in England und den Niederlanden besuchen. Zu groß ist die Angst vor Stigmatisierung, und zu schwer zugänglich sind die Dienste in Nordirland selbst. Gegen ebendiese Hürden will die Organisation Marie Stopes vorgehen.

Purvis spricht über die Gegend, in der sie selbst aufwuchs und immer noch lebt: „Ein Unterschichtviertel, wo Frauen, wenn sie in Schwierigkeiten waren, heimlich ein Schiff nach Liverpool nehmen mussten – vorausgesetzt, sie hatten das Geld dafür.“ Hatten sie keines, mussten sie einen Termin bei einem versoffenen Hinterhaus-Arzt machen, dem wegen eines Totschlagdelikts seine Zulassung entzogen worden war.

Purvis’ Eltern waren Mormonen. Sie trennten sich, als sie zwei Jahre alt war. Purvis wandte sich vom Glauben ab, ging mit 16 von der Schule ab, heiratete und bekam früh zwei Söhne. Damals jobbte sie „überall, in Schnellrestaurants, Schnapsläden, als Kassiererin, Altenpflegerin“. Nach dem Waffenstillstand 1994 lud ein Freund sie ein, sich der neu gegründeten Progressive Unionist Party (PUP) anzuschließen. Nach anfänglichem Zögern trat sie bei. Die linke Partei um den Ex-Milizionär David Ervine schien ihr für die Welt zu stehen, aus der sie kam. „Die Mainstream-Politiker sagten immer, Nordirland wäre ein wunderbarer Ort, wenn bloß die bösen Menschen verschwänden. Aber diese bösen Menschen waren meine Nachbarn, sie waren die Väter, Brüder und Onkel meiner Freunde. Ich fand schon seit meiner Jugend, dass man sie irgendwie einbeziehen müsste.“

Mit 33 Jahren begann sie als Erste in ihrer Familie ein Studium. Sie schaffte ein Spitzenexamen. Nach Ervines Tod 2007 wurde sie Vorsitzende der PUP und Parlamentsabgeordnete für Belfast-Ost. Als der Partei nahe Kreise eines politischen Mordes bezichtigt wurden, trat sie 2010 aus. Im Jahr darauf verlor sie ihren Parlamentssitz. „Sag niemals nie“, antwortet sie heute auf die Frage nach einer Rückkehr in die Politik. Allerdings fremdelt sie mit den Parteien.

Gerade beim Abtreibungsrecht aber bewegt sich in letzter Zeit einiges in Nordirland. Im Februar erreichte die nationale Menschenrechtskommission, dass das bisher gültige Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen in Vergewaltigungs- und Inzestfällen juristisch überprüft werden muss. Gesundheitsminister Jim Wells, selbst Abtreibungsgegner, brachte unterdessen aber einen Gesetzesentwurf ein, der Abbrüche außerhalb der Krankenhäuser des staatlichen Gesundheitsdienstes untersagt.

Vergangenes Jahr habe ihr Team fast 600 Frauen behandelt, sagt Purvis, viermal so viele wie 2013. Rund 40 Prozent der Frauen kamen aus der Republik Irland, wo ein noch restriktiveres Abtreibungsrecht gilt. Die meisten waren älter als 25 und liiert. Viele hatten verhütet, waren aber trotzdem schwanger geworden. Manche waren verzweifelt. Anfang Februar schnellten die Zahlen regelmäßig in die Höhe, weil Frauen in der Weihnachtszeit von gewalttätigen Partnern missbraucht worden waren.

Kurz vor ihrem Abschied hat Purvis noch eine Gruppe von Freiwilligen gewonnen, die die Frauen auf ihrem Weg an den Protestierern vorbei begleiten. Damit wird auch die Strafverfolgung von Übergriffen leichter, denn anders als die Patientinnen zögern die Begleiterinnen nicht, bei Belästigung Anzeige zu erstatten. „Ich bin voller Hoffnung“, sagt Purvis. „Meine Arbeit hier hat mir gezeigt, dass Nordirland sich wirklich wandelt.“

Susanna Rustin schreibt für den Guardian

Übersetzung: Michael Ebmeyer

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Geschrieben von

Susanna Rustin | The Guardian

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