Während mein Bus durch die grauen Vorstädte von Belgrad rollt, muss ich daran denken, dass mich die Leute oft fragen, warum ich so viel in einer Gegend unterwegs bin, die in den vergangenen Jahren so viele negative Schlagzeilen gemacht hat und immer noch von Krieg, Armut und Gewalt geprägt ist. Ich kann ihnen immer nur antworten, dass es hier Schönheit und Magie zu entdecken gibt. Und Musik.
Die Musik ist auch der Grund, mich für fünf lange Stunden in einen stickigen und überfüllten Bus zu quetschen. Sie ist der Grund, weshalb ich immer wieder zurückkehre, seit ich 1991 zum ersten Mal aus Neuseeland in die Region kam.
Das Ziel meiner Reise ist die zentralserbische Stadt Guča (sprich: Gu-tscha). Während der Bus über Hügel, durch
ährend der Bus über Hügel, durch dichte Wälder und an glitzernden Seen vorbei tuckert, fühle ich mich an die Schweiz erinnert. Doch in Guča angekommen, ist jeder Gedanke an schweizerische Ruhe dahin. Ich steige aus dem Bus, hinein in eine schwüle, von Trompetentönen durchschnittene Luft, die Straßen sind voll mit tanzenden Menschen. Mir steht ein hartes Wochenende bevor.Mit nur 2.500 Einwohnern scheint Guča nicht gerade ein geeigneter Ort, ein Musikfestival zu beherbergen, das in den vergangenen Jahren zu einem der beliebtesten Europas geworden ist. Einheimische beschreiben Guča als „Serbiens Woodstock“ – das Spektakel kostet keinen Eintritt und zieht jedes Jahr mehr als 300.000 Leute an, sowohl Serben als auch eine zunehmende Zahl internationaler Gäste, die den wilden Blaskapellen bei ihrem musikalischen Wettstreit zuhören wollen.Blaskapellen und wild? Kein Scherz. Jeden August, in diesem Jahr vom 5. bis zum 9., ist in Guča nichts anderes als „Balkan Brass“ zu hören, ein Sound, der einigen aus Emir Kusturicas Film Schwarze Katze, Weißer Kater bekannt sein dürfte. Er ist aus dem Aufeinandertreffen des Osmanischen und des Habsburger Reiches entstanden und wurde dann von den in der Region lebenden Roma aufgenommen. Er ist eine wahnsinnige Erfahrung. Und eine, die wahnsinnig glücklich macht.Das Guča-Festival kennt keine Sperrstunde und nur sehr wenige Regeln. Es ist eine Orgie im besten Sinne, bei der hunderte von Musikern eine Art östlichen Funk zum Besten geben, zu dem alle tanzen, bis sie umfallen. Ich habe in den Neunzigern illegale Techno-Veranstaltungen auf offenen Feldern oder in alten Fabriken mitgemacht, aber all das war nichts im Vergleich zu Guča, wo die Tänzer mithilfe von festlich gekleideten Orchestern und Unmengen an Bier und Fleisch in Ekstase geraten.Blaskapellen werden im südlichen Balkan schon seit jeher für Hochzeiten und Bestattungen engagiert. In den vergangenen Jahren aber wurde der Sound auch außerhalb der Region bekannt und inspirierte einige DJs, ihre Stücke mit Balkan-Beats zu remixen. Vom schottischen Orkestra del Sol über Neu-Mexikos Indie-Rocker Beirut bis hin zu Nigel Kennedy suchen viele Musiker Inspiration auf dem Balkan.Festival gegen die LandfluchtGegründet wurde das Festival in den späten Sechzigern. In Titos Jugoslawien wurde Folklore groß geschrieben und einige Parteisekretäre mit gutem Gehör bemerkten, dass die Landflucht der Blasmusiktradition Schaden zufügte. Um dem zu begegnen beschlossen sie, ein einen alljährlichen Wettbewerb auszurichten, bei dem das beste Orchester mit einer Goldenen Trompete ausgezeichnet werden sollte.Wer in die Hauptstraße von Guča einbiegt, hat das Gefühl, in einen Film des Regisseurs Emir Kusturica einzutreten. Aus Zelten, Bars und Plätzen – von überallher sind Blaskapellen zu hören, sie marschieren in Formation, bahnen sich ihren Weg durch die Menschenmassen und stoßen harte, schnelle Tanzrhythmen heraus.Das offizielle Festival teilt sich in drei Teile: Das Eröffnungskonzert am Freitag, die offiziellen Feiern am Samstag und das sonntägliche Finale um die Verleihung der Goldenen Trompete. Ich mische mich unters Volk, das auf die Stars des Abends wartet: das Boban Marko Markovic Orkestar.Boban Markovic ist so etwas wie der Mohammad Ali von Guča. Er hat die Goldene Trompete öfter gewonnen als irgendein anderer Bandleader. Marko ist sein Sohn, der mit 13 die Schule abbrach, um mit seinem Vater auf Tour zu gehen. Boban Markovic hat Guča schon so oft gewonnen, dass er nicht mehr zum Wettbewerb antritt. Stattdessen kehrt der König zurück um zu spielen. Er betritt die Bühne, setzt die Lippen an die Trompete, spielt einen langgezogenen, hohen, sehnsuchtsvollen Ton. Dann setzt sein Orchester ein und Guča explodiert.Feuer am Ochsen und im OhrDer ganze Charme des Festivals zeigt sich auf den Straßen der Stadt, wenn Markisen ausgerollt und spontan Restaurants eröffnet werden, in denen einige der zahllosen Kapellen um das Trinkgeld der Zuhörer wetteifern. Große Gruppen von Menschen sitzen an Tischen beieinander und werden von den Musikern umringt – den besten wird Geld auf die Stirn und die Instrumente geklebt. Wenn der Geldregen nachlässt, ziehen sie weiter und sind bald von Tänzern umschart.Zugegebenermaßen kann die Kakophonie selbst den hartgesottensten Balkan-Brass-Fan erschöpfen. Glücklicherweise hat ein serbischer Freund mir ein Zimmer besorgt (da es nur wenige Hotels auf saborGuča.com gibt, sind Zelte und private Zimmer die erste Wahl), so dass ich mich alle paar Stunden zurückziehen, waschen und ein wenig ausruhen kann, bis mich der Ruf der Trompeten wieder lockt.Nur Vegetariern dürfte das kulinarische Angebot die Freude trüben: Noch nie zuvor habe ich soviel Tiere auf Spießen gesehen – Lämmer, Schweine, sogar ein 430 Kilo schwerer Ochse hängt am Grill und wird mit Bier übergossen, wenn er Feuer fängt. Natürlich gibt es auch hier ein paar Menschen, die Flaggen paramilitärischer Organisationen schwenken und T-Shirts tragen, auf denen Kriegsverbrecher als Helden gefeiert werden. Das ganze Wochenende über erlebe ich jedoch keine einzige Gewalttat. Ins Koma fällt man in Guča eher wegen der Musik.