Wir müssen reden

Afghanistan Die Taliban sind womöglich gar nicht so unflexibel, wie im Westen befürchtet wird. Aber ihre Positionen wird man nur in einem echten Dialog ergründen
Eine Mehrheit der afghanischen Bevölkerung spricht sich für Gespräche mit Vertretern der Taliban aus
Eine Mehrheit der afghanischen Bevölkerung spricht sich für Gespräche mit Vertretern der Taliban aus

Foto: Aref Karimi/AFP/Getty Images

Die Taliban zeigen sich für Verhandlungen über einen Waffenstillstand oder sogar einen Friedensvertrag prinzipiell offen – so geht es aus einer am Montag veröffentlichten Studie hervor. Es wäre also falsch anzunehmen, die Taliban würden sich nur mit der alleinigen Macht zufrieden geben. Ihre Anführer wissen, dass dafür in naher Zukunft keine Chance besteht. Vielmehr würde es zu einem Bürgerkrieg kommen. Das wollen sie tunlichst vermeiden.

Als die Taliban im Chaos des Jahres 1990 an die Macht kamen, versprachen sie, für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Aber das reicht vielen Afghanen heute nicht mehr. Sie wollen auch eine zuverlässige öffentliche Grundversorgung und Infrastruktur, grundlegende Freiheiten und Mitspracherechte. Die Tage vorsintflutlicher Theokratien sind vorbei und die Taliban, die ein bisschen nachdenken, wissen das auch.

Der Aufbruch in den arabischen Ländern ist auch an Afghanistan nicht spurlos vorübergegangen: In einem Text, der im vergangenen Jahr an die Öffentlichkeit gelangt ist, erörtern die Taliban die Frage, welche Art von Wahlen sie unterstützen und wie die Regierung sich um Bedürfnisse der Bevölkerung kümmern sollte. Ihnen ist es enorm wichtig, als zuverlässige politische Kraft ernstgenommen zu werden.

Schwindende Disziplin

In weiten Teilen des Landes sind sie nach wie vor eine Macht. Aber sie mussten große Verluste hinnehmen. In Provinzen wie Ghazni, Laghman und Naghahar spüren sie Gegenwind, teils sogar bewaffneten Widerstand. Der Zusammenhalt und die Disziplin der Bewegung haben gelitten. Zwar können sie den bevorstehenden Rückzug der ausländischen Truppen als Erfolg für sich reklamieren, doch verschwindet mit den Besatzern gleichzeitig auch die stärkste motivierende Kraft der Bewegung.

Darüber hinaus widerstrebt es den meisten Talibanführern, vom pakistanischen Geheimdienst abhängig zu sein und von ihm manipuliert zu werden. Nachdem sie zehn Jahre oder mehr in Pakistan verbracht haben, von wo aus sie den Aufstand leiten, hoffen sie darauf, eines Tages sicher in ihr Heimatland zurückzukehren.

Kein Unterschlupf mehr

Die Rechtfertigung für die westlichen Angriffe gegen die Taliban 2001 bestand darin, dass die Bewegung Al-Qaida Unterschlupf gewährt. Heute leben die meisten Al-Qaida-Führer in Pakistan und die meisten Analysten beurteilen das Verhältnis der Taliban zu Al-Qaida als äußerst fragil. Vergangenen Monat erklärte der Taliban-Führer Mullah Omar: „Das islamische Emirat Afghanistan wünscht gute Beziehungen und gegenseitigen Austausch mit der Welt … [und] versichert, dass es niemandem erlauben wird, von afghanischem Boden aus gegen irgendjemanden vorzugehen.“

Einfacher gesagt heißt das: Wir werden Al-Qaida keinen Unterschlupf mehr gewähren. Auch wenn Omar nicht unbedingt beim Wort zu nehmen ist, deutet dies doch darauf hin, dass es eine Diskussionsgrundlage gibt.

Verkommenheit der Warlords

Die Taliban sind kein monolithischer Block. Die Motivation ihrer Kämpfer ist verschieden. Viele kämpfen, weil sie glauben, die USA wollten Afghanistan erobern und seine Religion oder Kultur untergraben. Manche treibt die Habgier und die Verkommenheit der afghanischen Regierung und der mit ihr verbündeten Warlords an. Wieder andere kämpfen aus persönlichen oder regionalen Gründen.

Ohne Zweifel gibt es extreme Elemente in der Bewegung. Die Haqqani Gruppe, die für einige der grausamsten Angriffe in Kabul verantwortlich ist, ist von den USA gerade als ausländische Terrororganisation eingestuft worden. Aber die Fanataiker sind in der Minderheit, und das obwohl General Petraeus' aggressive Strategie aus Luftschlägen und nächtlichen Razzien fast eine ganze Generation von gemäßigten Kommandeuren das Leben gekostet hat.

Unter den Taliban besteht Konsens, dass sie den Abzug der ausländischen Truppen, eine Machtbeteiligung und die Einführung der Scharia wollen. Wahrscheinlich streben sie nach einer herausgehobenen Rolle in der Justiz und bei der Korruptionsbekämpfung sowie nach Einfluss bei Religion und Bildung. Wie aber genau ihre Forderungen aussehen und ob sie mit den Menschenrechten oder den Wünschen der Afghanen vereinbar sind, lässt sich solange nicht beantworten, wie kein wirklicher Dialog beginnt.

Flexible Position?

Die neue Studie des Royal United Services Institute legt nahe, dass die Taliban nicht nur einen Waffenstillstand, sondern sogar die Anwesenheit einiger amerikanischer Soldaten zur Friedenssicherung akzeptieren könnten. Über die korrekte Interpretation der Scharia gehen die Meinungen auch innerhalb der Bewegung weit auseinander.

Es ist durchaus möglich, dass die Position der Taliban zu Themen wie der Verfassung oder der Erziehung von Mädchen gar nicht so radikal und unflexibel ist wie im Westen befürchtet wird. Vergleichende Studien zeigen, dass aufständische oder paramilitärische Gruppen dazu neigen, ihre Forderungen zu Propagandazwecken und zur Stärkung der Moral zu überziehen, um ihre Ziele dann im Laufe der Zeit zurückzustecken. Das Zeigen die Beispiel der PLO oder der kolumbianischen FARC.

Gespräche könnten helfen, einige der Missverständnisse aus der Welt zu schaffen, die den Konflikt angeheizt haben. Solange die Konfliktparteien aber nicht miteinander reden, kann man kaum eine Lösung erwarten. Es könnte sogar zu einer Eskalation der Gewalt kommen, wenn die Taliban und andere sich um die Besetzung des Machtvakuums streiten, das durch den Abzug der Nato entstehen wird. Und angesichts des schlechten Zustandes der afghanischen Streitkräfte sollte man davon ausgehen, dass die Taliban im ländlichen Süden, Südosten und Westen die Kontrolle ausweiten werden.

Alle an einen Tisch

All dies erklärt, warum sich in Umfragen stets eine deutliche Mehrheit der Afghanen für Gespräche ausspricht. Es ist schwer zu glauben, dass es sieben Jahre nach Ausbruch der heftigsten Gewalt immer noch keine regelmäßigen Gespräche zwischen den Hauptkonfliktparteien geben soll. Der Fortschritt, der im vergangenen Jahr erzielt worden war, ist zum Erliegen gekommen. Denn bei den Vorbedingungen für die Einrichtung eines Taliban-Büros, den Austausch von Gefangenen und den Beginn formaler Gespräche gab es keine Einigkeit. Besonders problematisch ist, dass die Taliban zuerst mit den Amerikanern und dann erst mit der afghanischen Regierung verhandeln wollen.

Die Priorität sollte darauf liegen, in offene, substanzielle Mehrparteiengespräche ohne Vorbedingungen einzutreten. Aber je weniger Soldaten und Hilfsgüter ins Land kommen, desto weniger Möglichkeiten hat die Internationale Gemeinschaft, Einfluss auf die Parteien auszuüben, einen Friedensprozess einzuleiten und die Fortschritte abzusichern, die seit 2001 gemacht wurden. Bei allen Seiten akzeptierte Mediatoren oder Vermittler könnten helfen, die Gespräche wieder in Gang zu bringen.

Breiter Versöhnungsprozess

Ohne die Unterstützung Pakistans kann kein Programm Erfolg haben. Seine Vertreter sollten letzten Endes in die Gespräche einbezogen werden. Und wenn der Dialog robuster wird, sollte er sich auch auf die Fraktionen in Nord- und Zentralafghanistan ausweiten.

Des Weiteren sollte er durch einen breiter angelegten Versöhnungsprozess ergänzt werden, in den Vertreter aller Teile der afghanischen Bevölkerung einbezogen werden. Jeder künftige Friede, ob er nun in einem großen Wurf oder durch eine Reihe unterschiedlicher Vereinbarungen erreicht wird, kann nur von Dauer sein, wenn er die Wünsche der afghanischen Bevölkerung widerspiegelt.

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Übersetzung: Holger Hutt
Geschrieben von

Matt Waldman | The Guardian

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